Wer niemals die Freude am Grabe des Rabbi Schimon ben Jochai am Lagbeomer in Meron sah, der hat all sein Lebtag keine Freude gesehen.
Mit diesem berühmten Satz beginnt der Nobelpreisträger S.J. Agnon seine kurze Beschreibung der Feier auf dem Berg Meron während des Lagbaomer-Festes. Die hebräische Kurzgeschichte erschien erstmals 1935 unter dem Titel “ha’Hadlaka” (Das Lichtzünden) und wurde bereits ein Jahr später ins Deutsche übersetzt und in vielen deutsch-jüdischen Zeitungen abgedruckt.

Die Welt steht am Rande eines Krieges. Die Juden Europas leiden unter dem brutalen Regime des Dritten Reiches. Diese etwas utopische Geschichte ruft die Welt zur Ordnung und bittet Gott um sein Eingreifen. Gott hört den Schrei seines Volkes, kehrt in die Welt zurück, beendet alle Kriege und Leiden und stellt die Ordnung wieder her. Menschen aller Nationen und Religionen entzünden und teilen ein Feuer am Berg Meron, das die ganze Welt mit Freude erleuchtet.

Es ist kein Zufall, dass Agnon Lagbaomer wählte. Der 33. Tag der Omerzählung ist der Tag, an dem die Trauerzeit des Omer für einen Tag unterbrochen werden kann und die Menschen sich freuen, heiraten und ihre Haare schneiden können. (Mehr dazu in unserem vorherigen Beitrag: https://breslauersammlung.com/2023/04/26/zaehlet-die-tage/

Agnon war selbst Zeuge eines sehr tragischen Lagbaomer-Festes auf dem Meron. Im Jahr 1911 versammelten sich etwa 10.000 Menschen auf dem Meron, um Lagbaomer zu feiern. Eine der Absperrungen, die dem Druck der vielen Menschen nicht standhalten konnte, stürzte ein und riss 11 Menschen, darunter auch Kinder, in den Tod. Dieses Unglück, das uns an die Katastrophe von Meron vor einem Jahr erinnert, wurde von Agnon bezeugt:
Und ich, der vor einer Stunde noch unter all den heiligen Menschen stand, blieb am Leben. Wie wurde ich gerettet? Ich hörte ein sehr lautes und starkes Geräusch, ich dachte, es sei das Geräusch der Hadlaka (Entzündung), ich war in Trauer, ich bin fünf Tage zu Fuss gegangen, um die Hadlaka zu sehen… Zwischen mir sind Krankentragen und auf ihnen die Toten… und ich, der ich vor einer Stunde zwischen ihnen stand, als sie noch lebten, ich bin zum Träger der Toten geworden.

Die Kurzgeschichte, die wir Ihnen hier in voller Länge vorstellen, erschien 1936 in der Übersetzung von Bertha Badt-Strauss:
S.J Agnon – Das Lichtzünden in Meron
Wer niemals die Freude am Grabe des Rabbi Schimon ben Jochai am Lagbeomer in Meron sah, der hat all sein Lebtag keine Freude gesehen. Denn dorthin ziehen Scharen um Scharen von Juden festlich geschmückt, unter Liedern und Musik. Von allen Orten her kommen sie dorthin, aus den Stätten unseres Gottes, aus den Ländern Edoms und Ismaels. Tag und Nacht verweilen sie dort, lernen Schar und andere liebliche Lehren beten und singen Lobgesänge. Eine Mamorsäule ist dort aufgerichtet, die trägt auf der Spitze ein Becken fürs Oel. Dort schüttet man Olivenöl hinein. Unterdes hat man schon Fäden von Seide aus schönen Schleiern und kostbaren Kopftüchern, gold- und silbergestickten Gewändern ausgezupft. Die tut man nun ins Oel und zündet es an. Und nun wird das grosse Jahrzeitsfest gefeiert. Da tanzt man im Kreise — der Schechina entgegen, die in selbiger Nacht herab steigt, um teilzunehmen an der Freude des göttlichen Tannaiten. Am innigsten aber freut sich heute die heilige Gemeinde, die Leute von Safed. Denn sie sind ihm ja näher als alle die Andern — in ihrem Bereiche ist er begraben. Drum freuen sie sich auch heute noch unendlich viel mehr an seiner Freude. Danach aber verschuldeten es unsere Sünden, daß die Freude verschwand und die ganze Welt sich mit Grausen erfüllte. Denn die Könige zogen aus, um miteinander zu kämpfen. Esau kämpfte wider Ismael, Ismael wider Esau; und beide kämpften wider Israel. Ging einer auf die Strasse, so verzehrte, ihn das Schwert. Blieb er daheim, so frass ihn der Hunger. Hatte er noch einen Tropfen Oel, so wußte er nicht: soll ich damit meinen Lieben das Seelenlicht anzünden, die man totschlug im Kriege? oder soll ich Weib und Kinder damit versorgen, die mir Hungers sterben? — Wer einst im Purpur aufwuchs und sich in Seide hüllte, zur Augenlust für die Leute — der saß jetzt still und stumm daheim, bedeckte mit Lumpen seine Blösse und scheute sich, auszugehen.. bis man das Gebot der Wallfahrt vergass im Heiligen Lande und die Wege verödeten. Stumm wurden die Wege, die einst strotzten von Israeliten. Meron — einst hell wie ein Hochzeitshaus — jetzt lag es im Dunkel. Und gar die Männer von Safed: jene heilige Schar, einst Helden an Kraft, dem Schöpfer zu dienen in Freuden — jetzt verbargen sie sich in ihren Häusern und stimmten ein Klagelied an. Endlich kehrte der Heilige, gelobt sei Er, zu dem Orte zurück, von dem Er ausgezogen war und sah sich an, was in seiner Welt geschah. Da erfüllte ihn Erbarmen mit seinen Geschöpfen und Er begnadigte die Überlebenden, die das Schwert Verschont hatte; Er zerbrach die Herrschaft der Frevler und stürzte den Stolz der Tyrannen. Sie legten die Waffen fort; die Kriegsgeräte ruhten, und die Menschen begannen wieder, ihren Berufen nachzugehen. Volk nach Volk kehrte in sein Land — Volk nach Volk kehrte in seine Heimat zurück. Und es kam eine Zeit der Gnade für Israel, wie man sie seit den Tagen der Zerstörung des Tempels nicht erlebt hatte. Mancher von den Juden , die noch nicht den Glauben an die Erlösung verloren hatte, machte sich auf und ging ins Land Israel. Dort fand er das Land verwüstet und blutbesudelt — und die Juden verstört und gedrückt. Da wandten die Ankömmlinge alle Herzenskraft darauf, die Kranken zu heilen und die Wankenden zu stützen; sie bereisten das ganze Land und halfen mit gutem Rat, mit Brot und Gewand. Als sie nach Safed kamen, war´s gerade am Tage vor Lagbeomer. Da kamen ihnen alle Juden von Safed entgegen und sprachen zu ihnen: „ Brüder, nicht Silber noch Gold erbitten wir von Euch noch sonst eine Gabe. Aber: es gibt im Lande Israel einen altgeheiligten Brauch, daß man am Lagbeomer nach Meron zieht und auf dem Grabe des Rabbi Schimon ben Jochai die Ölflamme entzündet. Vielleicht helft Ihr uns zur Erfüllung dieses Gebotes. Denn in allen Kriegsjahren waren die Wege übervoll mit Truppen — wir sassen wie Gefangene in unseren Häusern und konnten nicht nach Meron hinauf. Jetzt da sich der Heilige, gelobt sei Er, seiner Welt wieder erbarmt hat, wollen wir gerne wieder hinaufziehen und dort das Licht entzünden am Tage der Jahrzeit, wie sich’s gehört. Da sagten die Männer aus den Landen der Zerstreuung zu den Männern von Safed: „Auch wir wollen teil haben an dieser Freude!“ Sie liessen Krüge voll Oel holen und – brachten kostbare Tücher dazu; dann stiegen sie alle nach Meron hinauf. Als sie aber zur Höhle des Rabbi Schimon ben Jochai kamen, da fanden sie ein Häuflein Araber vor der Höhle stehen. Die trugen zerschlissene Läppen, in Oel getaucht, in den Händen. Da sagten die Araber zu den Juden: Gelobt sei der Allgegenwärtige, gelobt sei Er, der Euch hierher brachte. Und gesegnet sollt Ihr dem Gotte unseres Vaters Abraham sein, daß Ihr zur rechten Zeit kämet. Alle die Jahre, da ihr nicht kämet, haben wir das Licht am Grabe dieses Frommen entzündet. Jetzt, da ihr wieder da seid… tut was Eures Amtes ist — entzündet das Licht!
Und Israel feierte das Fest des Lichtzündens am Grabe des Rabbi Schimon ben Jochai — bis das ganze Land widerstrahlte von seinem Licht.
Oded Fluss. Zürich. 8.5.2023