Über die Breslauer Sammlung

Das Jüdisch-Theologische Seminar in Breslau

die Geschichte der Sammlung

Zwischen 1933 und 1945 wurden zahlreiche jüdische Bibliotheken in Europa durch das nationalsozialistische Regime und ihre Verbündeten geplündert. Wie historische Forschungen beweisen, waren die Enteignung und Zerstörung jüdischer Kulturgüter wie Bücher und Manuskripte eine systematisch geplante Strategie der Naziherr­schaft, welche von führenden Funktionären gezielt verfolgt wurde. Das Naziregime strebte nicht nur die totale Vernichtung der Juden in Europa an, sondern bemühte sich auch, die jüdische Kultur in Europa auszulöschen. Schätzungsweise vier Millionen Bände von Judaica und Hebraica wurden damals Gegenstand von Zwangsenteignungen; ungefähr die Hälfte davon, also rund zwei Millionen Bände, so muss vermutet werden, sind unwiederbringlich zerstört. Die Bücher und Manuskripte, die überlebt haben, wurden in unterschiedlichen Institutionen gelagert, wobei viele Sammlungen das Schicksal erlitten, auseinandergerissen und auf mehrere Orte zerstreut zu werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden britische und amerikanische Soldaten unzählige jüdische Kulturgüter, darunter Hunderttausende von Büchern und Manuskripten.

Unter ihnen befand sich auch die Bibliothek des ehemaligen Jüdisch-Theologischen Seminars in Breslau. In Verhandlungen über das Eigentum an der Bibliothek wurde beschlossen, einen Grossteil der geretteten Teile dieser wertvollen Bibliothek an die Schweiz zu übergeben – in Anerkennung ihres europäischen Kulturerbes und angesichts der Tatsache, dass das deutschsprachige Judentum hier überlebt hatte; von der Schweiz sollte der Impuls für den Wiederaufbau einer jüdischen Gemeinschaft in Europa ausgehen. 1950 empfing der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) rund 6’000 Bände der früheren Bibliothek des Breslauer Seminars.

In den 1950er Jahren teilte der SIG den Breslauer Sammelbestand auf die drei grössten jüdischen Gemeinden in der Schweiz auf: die IGB in Basel, die CIG in Genf und die ICZ in Zürich. In den Folgejahren fertigten die Bibliotheken dieser drei Gemeinden Teil-Inventare der jeweiligen Bücherbestände an, doch die erstellten Listen wurden weder als Teil eines Katalogs noch digital erfasst; sie blieben unvollständig und enthalten viele Fehler, wie beispielsweise Schreib- und andere Erfassungsfehler. Der Mangel an professionellem Wissen und personellen Kapazitäten hatte leider eine gewisse Vernachlässigung der sehr wichtigen Sammlung zur Folge.

Vor einigen Jahren wurden nun alle drei Teile der Breslauer Sammlung schliesslich unter einem Dach – in der Bibliothek der ICZ – zusammengeführt. Die Bücher konnten 2017 aus den Kisten befreit und in einen separaten, eigens für diesen Zweck eingerichteten Archivraum mit Kompaktanlage und Temperaturregulierung eingelagert werden.

Das Jüdisch-Teologische Seminar in Breslau

Der Stempel der Breslauer Bibliothek

Das 1854 gegründete Seminar förderte die Werte der Aufklärungsbewegung einer „Wissenschaft des Judentums“. Diese Ausrichtung spiegelt sich in der Sammlung der Bibliothek wider, die im selben Jahr wie das Seminar errichtet wurde. 1937 umfasste die Sammlung rund 40’000 Bände und beinhaltete sowohl Thora und Talmud-Literatur wie Werke der klassischen Literatur, Philosophie, Philologie, Astronomie, Mathematik und christliche Schriften.

Unter den rund 6000 in die Schweiz geretteten Büchern befindet sich eine Vielfalt an äusserst wertvollen Bänden, deren Entstehungszeit vom frühen 16. Jahr­hundert bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts reicht. Viele der Bücher enthalten hand­schriftliches Material, Notizen, Ergänzungen, Widmungen und andere Zeichen von Besitztum, aber auch zuweilen andere, nicht direkt mit den Büchern in Zusam­menhang stehende Niederschriften (wie in Zeiten allgemein üblich, als Papier noch ein rares, teures Material war).

In seltenen Fällen wurden fehlende Buchseiten durch von Hand geschriebene Seiten ergänzt und eingebunden. Neben dem Stempel der Breslauer Bibliothek enthalten diese Bände auch oft Stempel früherer Bibliotheken und Besitzer; manche von ihnen stammen von alten, nicht mehr existierenden jüdischen Gemeinden und vergleichbaren Einrichtungen und sind auf diese Weise Beweis und Zeuge von deren Existenz. Manche dieser Bücher sind äusserst selten oder können gar in keiner anderen Bibliothek gefunden werden, sind also die einzigen noch existierenden Exemplare weltweit.

Die Breslauer Sammlung ist als Einheit noch viel wertvoller als alle ihre Einzelteile zusammen. Denn obwohl sie rare Einzelstücke von unschätzbarem Wert umfasst, steht sie als Ganzes für die versuchte Zerstörung des europäischen Judentums wie auch für den erfolgreichen Wiederaufbau der jüdischen Kultur in Europa. War es das Ziel der Nationalsozialisten, über den Genozid an den Juden hinaus eine ganze Kultur auszulöschen, so sind die Relikte der einst grossen Bibliothek auch Überlebende der Shoah.

Die Sammlung, die zum grössten Teil aus hebräischen Büchern besteht, ist sowohl ein lebendiger Beweis für die blühende hebräische Kultur, die vor dem Zweiten Weltkrieg im deutschsprachigen Raum existierte, als auch ein Zeugnis der deutsch-jüdischen Assimilation in die allgemeine deutsche Kultur. Jeder einzelne Band, aber insbesondere alle zusammen als die Reste einer Sammlung erzählen Geschichten, auch von all denen, die nicht gerettet werden konnten. Sie sind gezeichnet von Prägungen und Beschädigungen, und ihr Zustand zeugt von den Verbrechen, die an ihnen verübt wurden.

Der Eigentümer der Sammlung ist der SIG (Schweiz. Israelitischer Gemeindebund). Die Sammlung wird von der ICZ-Bibliothek, der größten jüdischen Bibliothek der Schweiz und der ältesten im deutschsprachigen Raum bearbeitet und katalogisiert.


das Gebot ist eine Leuchte und das Gesetz ein LichtSprüche 6:23..“

Logo seit 1928, mit dem (hebräischen) Motto 

Ein Artikel, der in der Ausgabe der NZZ-Geschichte vom April 2021 veröffentlicht wurde und in dem Lea Haller mit dem Bibliothekar Oded Fluss über die ICZ-Bibliothek und die Breslauer-Sammlung spricht


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