
Wenn mir mein vierjähriges Söhnchen die Chanukageschichte zum so und so vielten Male erzählt — und es versteht darunter nicht ihren historischen Theil, sondern die Art und Weise, wie Chanuka praktisch, begangen wird — wie erst der Chanukaleuchter herbeigeholt und gefüllt, dann Abends Berocho gesagt, angezündet und Moaus Zur gesungen wird, dann lautet der Schlußrefrain der ganzen Darstellung regelmäßig: und nachher wird getrendelt! (Naftoli Hertz Ehrmann [Judäus]: Eine ungekannte Welt: Erzählungen aus dem jüdischen Familienleben. Frankfurt a.M. 1907)
Nach der Chanukkia [Chanukka-Menorah] ist der Dreidel das erste, woran wir denken, wenn wir an Chanukka denken. Im Hebräischen als סביבון Sewiwon bekannt, hat der Dreidel im Deutschen mehrere Namen und wird auch als Trendel und Kreisel bezeichnet. Seine ungewöhnliche Form eines Würfels mit einem Bein und seine sehr unorthodoxe Funktion – die eines Wettspiels – machen ihn zu einem einzigartigen und faszinierenden jüdischen Objekt. Die hebräischen Buchstaben, die ihn verzieren, machen aus diesem gewöhlichen Spielzeug einen mystischen Gegenstand.

Die hebräischen Buchstaben נ-N, ג-G, ה-H, ש-S, die zunächst für den Einsatz und das, was man bekommt, standen: (N = nichts, G = ganzer Einsatz, H = halber Einsatz, S = setzen, d.h. man muss einsetzen), erhielten erst später ihre heute bekannte Bedeutung als נס גדול היה שם Nes Gadol Haya Scham (ein grosses Wunder geschah dort). Ein kleines Gedicht im Israelitischen Familienblatt vom 3. Dezember 1936, unterzeichnet mit “Ben Menachem” (wahrscheinlich ein Pseudonym für den Dichter Ludwig Strauss), weist auf diese frühe Verwendung der Buchstaben hin.

Wegen seines spielerischen und kindlichen Charakters wurden viele Lieder über den Dreidel geschrieben. Die bekanntesten sind auf Hebräisch, aber wir haben auch einige deutsche Übersetzungen gefunden. Als erstes stellen wir ein Lied des Kinderbuchautors und Dichters Levin Kipnis (1894-1990) vor. Kipnis (der auch das bekannte hebräische Lied “סביבון סוב סוב סוב” “Sewiwon, sow sow sow” schrieb) schrieb hauptsächlich auf Hebräisch und Jiddisch, aber wir hatten das Glück, eines seiner Dreidel-Gedichte zu finden, das von keiner Geringeren als der Dichterin Mascha Kaléko übersetzt wurde.

Eine weitere Übersetzung, von der wir weder die Quelle noch den Übersetzer kennen, findet sich in der Zeitung Die Neue Welt vom 9. Dezember 1936. Ausser der Tatsache, dass es aus dem Hebräischen übersetzt und “gesungen von Kindern in Erez Israel” wurde, können wir nicht viel über dieses schöne Lied herausfinden.

Es wurden nicht nur Lieder, sondern auch Geschichten über den Dreidel geschrieben, die wir auch im deutschen Original gefunden haben. In diesen Geschichten geht es meist um den Dreidel als Zauberwesen, das sich endlos drehen oder manchmal sogar sprechen kann. Eine dieser Wunder-Dreidel-Geschichten finden wir in der Zeitung Der Israelit vom 10. Dezember 1936. Es ist die Geschichte einer armen Familie, in der die Kinder von einem magischen Dreidel zu einem Schatz geführt werden. Der/die Autor/in ist unbekannt und hat nur mit dem Namen “Deka” signiert.

Es ist schon dunkel, Die Chanuckahlichtlein erhellen mit ihren freundlichen Strahlen die Straßen des friedlichen Dorfes; In allen jüdischen Häusern herrscht Chanuckafreude. Nur in einem Hause scheint sie nicht eingekehrt zu sein. Wohl brennen auch hier im Stüblein am Fenster die Lichtlein. Jedoch von Freude ist nichts zu merken. Traurig sitzt am Ofen im Lehnstuhl eine Frau mit bleichem Gesicht. Man sieht es ihr an, daß sie geweint hat. Wie war doch immer das Chanuckahfest eine Freude als ihr sel. Mann noch lebte. Armut und Entbehrung sind seitdem eingekehrt. Am Tische sitzen zwei muntere Buben, Chajim der ältere und Menachem der jüngere. Ein Trendelcheh hat ihnen die Mutter zum Spielen gegeben. Statt der wohlschmeckenden Nüsse hat jeder ein Häufchen Brotstückchen vor sich liegen. Das Spiel beginnt. Chajim läßt das Trendelchen schnurren. Wie es auf dem glatten Tisch saust! Die Augen der Buben sind auf das Trendelchen gerichtet. Wird Chajim gewinnen oder verlieren? Das Trendelchen hört ja gar nicht auf zu schnurren. Plötzlich springt es auf die Erde und von hier zur Türe, die geöffnet ist. Es saust zur Türe hinaus. Die beiden Buben hinterher. Sie wollen es fassen. Aber es ist schon auf der Straße. Nun geht es schnell durch das Dörfchen über Stock und Stein in den Wald. Es ist eine sternenklare Nacht, so daß sie ihm leicht folgen können Aber o weh, das Trendelchen ist plötzlich verschwunden. Da stehen sie nun die Beide allein im Walde. Der kleine Menachem fängt an zu weinen. „Wo sind wir, wie kommen wir wieder nach Hause? Die Mutter weiß nicht, wo wir sind!” Aber Chajim legt seine Hand auf die Schulter des kleinen Bruders und sagt: „Weine nicht, G’tt wird uns nicht verlassen, wenn es hell wird, finden wir auch den Weg wieder nach Hause. Was war das ? Ein Vöglein sang auf einen Ast, ganz nahe bei den Kindern. Die Kinder blicken ängstlich zu ihm empor. „Fürchtet Euch nicht, liebe Kinder, ihr werdet noch eine Chanuckahfreude erleben, und zu Euerm Mütterlein werdet ihr auch bald wieder kommen. Folgt nur dem Trendelchen nach”, so sprach das Vöglein: und war verschwunden. Und siehe , da war auch wieder das Trendelchen, munter, schnurrte es weiter. Die Kinder hinterher.
„Halt, halt, ihr lieben Kinder!” Vor ihnen stand ein Englein im weißen seidenen Gewand und sprach: „Der liebe G’tt hat gesehen wie gut und lieb ihr zu euerm Mütterlein gewesen seid. Ihr habt soviel entbehren müssen seitdem euer Vater nicht mehr lebt. Darum soll euch eine Chanuckahfreude beschieden sein, wie sie kein Kind erlebt hat. Seht hier, in diesen Berg wollen wir gehen, da gibt es viel Schönes und Kostbares. Ihr dürft euch nehmen, soviel ihr tragen könnt. Aber eins müßt ihr mir versprechen, so bald ihr im Berg seid, dürft ihr nicht sprechen. Wenn nur ein Wort über eure Lippen kommt, hat alle Herrlichkeit ein Ende. Könnt ihr das?” Und Beide nickten, denn sie waren so benommen, daß sie nicht sprechen konnten. Indem dies der Engel gesagt hatte, führte er sie in den Berg. Was war da eine Pracht und Herrlichkeit! Die Wände glitzerten in purem Gold. Auf dem Boden lagen Berge von Goldstücken und Edelsteinen. Chanuckahleuchter in allen Größen und Formen aus Gold standen an den Seiten. Chajim konnte sich des Staunens nicht erwehren. Er öffnete seinen Mund und wollte einen Schrei der Verwunderung ausstoßen, aber schnell hielt ihm Chajim die Hand vor den Mund, so daß er nicht mehr weitersprechen konnte. “Nehmt euch liebe Kinder soviel ihr wollt, bringt alles euerm Mütterchen. Da liegen Säcke zum Füllen.” Und nun ging es an die Arbeit. Schnell waren die Taschen mit Edelsteinen und Gold gefüllt. Dann kamen die Säcke an die Reihe. Sie konnten sie kaum tragen, so schwer waren sie.
Der Engel führte sie wieder zum Berg hinaus, legte auf beide seine Hände: „Geht heim, grüßt euer Mütterlein, seid weiter so lieb und fromm, Dann verläßt euch G’tt nicht”. Mit diesen Worten war der Engel verschwunden, und die Kinder standen plötzlich vor dem Hause ihrer Mutter. Sie stürzten in die Stube. Wie groß war die Freude der Mutter, als sie ihre Kinder wiedersah! Wie groß war aber ihr Erstaunen, als die Kinder die Säcke und Taschen ausleerten. Alle Not hatte nun ein Ende, und Chanuckah erstrahlte im neuen Licht.

Eine weitere Geschichte über einen Wunderdreidel finden wir in “Das lustige Buch fürs jüdische Kind” von Siegfried Abeles, das 1926 in Breslau erschien. Wir haben Abeles bereits einen Artikel gewidmet (Sie finden ihn hier: https://breslauersammlung.com/2022/09/22/abeles/ ). In der Geschichte Das Trendel mit Kopf und Fuss geht es um Akiba, den faulen Rabbinersohn, und die Lektion, die er von einem sehr klugen und aussergewöhnlichen Dreidel lernt.
Das Trendel mit Kopf und Fuss
Akiba war das zehnjährige Söhnchen eines gelehrten Rabbiners, aber selbst wollte er nichts von Gelehrsamkeit wissen. Heute hatte er bereits seine hebräische Aufgabe begonnen, aber sehr unwillig waren schon die ersten Zeilen voll Fehler. Plötzlich und deshalb warf er den Federstiel fort, liess das Heft offen liegen und lief dann in den rückwärtigen Hof des Tempelgebäudes, in dem er wohnte. In diesem Hof hielt sich Akiba besonders gern auf, denn dort lagen viele alte, unbrauchbar gewordene Sachen, auf denen er gern herumturnte und unter denen er gern umherkramte.
“In einigen Tagen kommt Chanukkah”, dachte Akiba, “da will ich mir ein Trendel schnitzen.” Und er schnitt mit seinem Taschenmesser ein Stück Holz von einem alten Betstuhl. Wie wunderbar! Das Stückchen hatte sogleich die Form eines Trendels: ein Würfel, aus dessen Mitte oben ein Griff, unten ein zugespitzter Fuss hervorwuchs. Der Griff war aber nicht, wie sonst, oben zu einer Halbkugel abgerundet, sondern da sass auf dünnem Hals ein kleiner lustiger Bubenkopf und der Fuss lief nicht glatt zu einer Spitze zu, sondern unten befand sich ein kleiner Menschenfuss, der auf der Spitze seines schmalen Schuhes stand. Akiba sah zuerst verwundert diese Figur an, dann aber lachte und hüpfte er vor Freude und lief mit dem komischen Trendel in sein Zimmer, um die Buchstaben, die man zum Spiele benötigte, auf die vier Seitenflächen des Würfels zu schreiben. Aber er hatte vergessen, welche Lettern auf seinem vorjährigen Trendel gestanden, und als er vor seinem Schreibpult sass, rief er unwillkürlich: “Wenn ich nur die Buchstaben wüsste!” Dabei drehte er gedankenlos das Trendel. Dieses begann zu tanzen und zu hüpfen, sprang in das Tintenfass und wieder hinaus, dann tanzte es mit dem von der Tinte schwarz gewordenen Schuh über ein weisses Blatt Papier.
Was war aber das! Die Tintenspuren der Schuhspitze auf dem Blatt sahen wie geschriebene hebräische Buchstaben aus! ,,Ness gadol hajah scham” konnte Akiba deutlich lesen. “,Spassig !” rief er aus. ,,Gadol, das heisst ja ,,gross”. Aber das kann doch alles nur Zufall sein. Und das Ganze ist gewiss ein Unsinn. So ein dummes Trendel kann doch nicht schreiben und nichts wissen.” Da klappte plötzlich der Fuss des Trendels um, so dass er auf der Sohle stand, und die wundersame Figur hielt in ihrem Tanze inne. ,,Du junges Menschlein”, sagte sie plötzlich, ,,du glaubst klüger zu sein als ich? Mehr als tausend Jahre stand ich auf dem Libanongebirge, denn ich bin ein Stück einer alten Zeder. Dann nahm ein frommer Mann Zedernholz aus Palästina mit hierher, um sich einen Betstuhl daraus machen zu lassen. So stand ich nun wieder mehr als zweihundert Jahre im Bethaus und hörte viele Gebete und gelehrte Gespräche. Da bin ich also ein sehr kluges Trendel geworden. Das, was ich dir aufgeschrieben habe, heisst übersetzt: Grosses Wunder geschah damals. Die Anfangsbuchstaben, ein Nun, ein Gimmel, ein Heh und ein Schin musst du mir auf den Körper schreiben. ,,Aber Herr Trendel”, sagte Akiba verlegen stotternd ,,ich habe gar nicht gewusst, dass Sie auch reden können. Jetzt getrau ich mich nicht, auf Ihrem Leib mit der Feder zu kritzeln. “Schreibe nur ruhig”, erwiderte das Trendel. ,,Ich bin ja aus Holz und nicht ein bisschen kitzlig.” Da legte Akiba das Trendel auf den Rücken und zeichnete ihm ein hebräisches N in Druckschrift auf den Bauch. .,Jetzt erinnere ich mich schon”, rief er dabei, ,,das Nun bedeutet “,nichts”. Wenn das obenauf liegt, erhält man nichts aus der Kasse.” “,Und nichts hatten deine Väter”‘, sagte das Trendel, ,die vor Antiochus Epiphanes in die Höhlen des Gebirges flohen, um nicht Götzen anbeten zu müssen und ihrem Gotte treu bleiben zu können,” “,Und Heh bedeutet, halb”, sagte Akiba. ,Da habe ich immer die Hälfte aller Nüsse der Kasse erhalten.”
,,Diesen Buchstaben musst du mir auf den Rücken schreiben. Lege mich nur ruhig auf den Bauch”, lief sich wieder das Trendel hören und fuhr sogleich fort. “Halb hat der greise Priester Mathatias der den Kampf gegen Antiochus begann, den Sieg errungen.” ,,Aber was bedeutet das Schin?” fragte der Knabe. ,,Stell ein, zahl ein”, erwiderte das hölzerne Lehrerlein. Stell ein, zahl ein”, so hiess es im Kampf für viele wackere Juden, sie wurden verwundet oder getötet. Dennoch kamen immer mehr jüdische Kämpfer hinzu, denn sie alle liebten ihren Gott und ihr Vaterland. So, nun fehlt dir nur noch das Gimmel, das bedeutet ,,ganz”. “Hei!” rief Akiba fröhlich, “wenn das obenauf liegt, gehört die ganze Kasse mir!” “Und ,,ganz” hat Juda Makkabi, der Sohn des alten Priesters den Sieg erkämpft”, fuhr das Trendel fort. ,,Drum gefällt uns Juda, denn nur das hat Wert, was man ,,ganz” ausführt.” Auch ich will alles g a n z ausführen”, rief Akiba begeistert. Das Gimmel soll von nun an mein Zeichen sein. Was ich lerne, was immer ich beginne, will ich ,ganz” erreichen. “So?” sagte das Trendel. ,Wie steht es dann mit der hebräischen Aufgabe?” Da schämte sich Akiba sehr, denn die Aufgabe lag noch immer unfertig und voller Fehler auf dem Tisch. “Ich werde sie schon besser machen”, sagte er verlegen. Da sprang das Trendel auf und tanzte auf der Fussspitze quer über die hebräische Aufgabe und weil der Schuh des Trendels noch immer von der Tinte feucht war, gab das einen dicken Strich über das ganze Blatt. Nun legte sich das Trendel ruhig nieder und blickte nur neugierig nach Akiba, was dieser nun wohl sagen würde. Aber der Knabe murrte nicht und schrieb die Aufgabe sogleich noch einmal. Diesmal aber zu Ende und sehr sorgfältig. Seit dieser Zeit hat das sonderbare Trendel nie wieder gesprochen und nie wieder von selbst getanzt; aber immerfort lächelte es zufrieden, denn es wusste, dass es einen faulen Jungen gebessert hatte.
Wir schliessen mit einem wunderschön illustrierten Dialog zwischen einem Dreidel und einer Chanukka-Menorah, geschrieben von der unbekannten Else Schwoner aus Olmüth im Kinderteil der Jüdischen Rundschau vom 20. Dezember 1935. Die Beziehung zwischen der hochmütigen Menorah und dem frechen Trendel ist ein bekanntes Thema in Chanukka-Geschichten:


Oded Fluss. Zürich. 7.12.2023 נר ראשון של חנוכה