Juden in der Synagoge am Jom Kippur

Es gibt wohl kein anderes Bild, das mehr mit Jom Kippur verbunden ist. Maurycy (Moritz, Moses) Gottliebs Juden in der Synagoge am Jom Kippur aus dem Jahr 1878 ist eine der tiefgründigsten, philosophischsten, psychologischsten, aber auch autobiografischsten Darstellungen des Versöhnungstages. Es ist auch eines der farbenprächtigsten Porträts der polnischen Juden und Jüdinnen im 19. Jahrhundert – wie sie waren und wie sie sich selbst sahen – und ist daher von historischer und ethnologischer Bedeutung für das Studium der Kultur dieser Zeit.

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Maurycy Gottlieb (1856-1879)

Maurycy Gottlieb wurde 1856 im westgalizischen Drohobych als eines von elf Kindern einer bürgerlich-traditionellen jüdischen Familie geboren. Sein Geburtsort, in dem sich verschiedene Religionen, Kulturen und Sprachen vermischten, sollte sein Leben entscheidend prägen. Ein gutes Zeichen dafür sind die drei Vornamen, unter denen er bekannt ist: der jüdische Moses, der deutsche Moritz und vor allem der polnische Maurycy.

Gottlieb Selbstporträt in polnischer Adelstracht

In seiner Jugend besuchte er eine Jeschiwa und später eine deutschsprachige Schule (Drohobytsch gehörte damals noch zur österreichisch-ungarischen Monarchie). Sein künstlerisches Talent wurde sofort erkannt und er wurde an die Akademie der bildenden Künste in Wien geschickt. Dort entdeckte er paradoxerweise Polen wieder, als er eine Ausstellung des Malers und polnischen Patrioten Jan Matejko besuchte. Der damalige Direktor der Krakauer Kunstakademie wurde später Gottliebs Inspirationsquelle und Lehrer. An der Krakauer Kunstakademie war er aber auch dem Antisemitismus seiner Mitstudenten ausgesetzt. In dieser Zeit las er die Geschichte der Juden von Heinrich Graetz, die ihn tief beeindruckte.

Gottlieb (links) neben seinem Gemälde von Shylock und Jessica.

Diese gespaltene Seele eines deutschsprachigen polnischen Juden war ein entscheidender Faktor in Gottliebs kurzen Leben und hat seine Kunst stark beeinflusst. Er malte überlebensgrosse historische Porträts, in die er aber immer die verschiedenen Teile seiner Identität, manchmal auch seiner Biografie, mit einbezog, da die Figuren die Gestalt von Personen annahmen, die er kannte, oder in vielen Fällen von sich selbst. Die Themen, die er malte, waren fast immer Grenzfälle: ein Porträt von Shakespeares Shylock und seiner Tochter Jessica, von Uriel Acosta und seiner Frau, ein Selbstporträt von sich als Ahasver, der ewige Jude.

Maurycy Gottlieb – Ahasver. Muzeum Narodowe w Krakowie

Sein wohl bekanntestes Gemälde ist jedoch Juden in der Synagoge am Jom Kippur, das er kurz vor seinem frühen Tod im Alter von nur 23 Jahren fertigstellte. Gottlieb selbst hatte an Jom Kippur ein lebensveränderndes Erlebnis, das er später als seine erste Sünde bezeichnete. Als junger Gymnasiast malte er – um sich nicht von den anderen Schülern zu unterscheiden – auch an diesem heiligsten aller jüdischen Tage:

Später an diesem Tag kam ich mit einem schrecklichen Schuldgefühl nach Hause, das mein Gewissen überflutete. Als man mich fragte, wo ich gewesen sei, wurde ich zuerst rot, dann blass, und meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich wusste keine Antwort.
Gottliebs Gemälde auf einer israelischen Briefmarke (1975).

Dieses Gemälde, das viele Jahre lang verschollen war und sich heute im Kunstmuseum von Tel Aviv befindet, erlangte Weltruhm. Im Gegensatz zu anderen romantischen Historiengemälden jener Zeit sind wir hier nicht Zeugen eines bestimmten historischen Ereignisses oder einer biblischen Szene, sondern eines universellen menschlichen Moments: betende Juden in einer Synagoge. Die Menschen, junge und alte Frauen und Männer, alle in einer Komposition versammelt, ohne dass sie zu einer Menschenmenge werden. Sie sind alle, jeder auf seine Weise, durch das Gebet miteinander verbunden, doch jeder mit seiner eigenen Bitte an Gott. Wer andere Gemälde von Gottlieb kennt, wird auf dem Bild Personen aus seinem Leben wiedererkennen, wie seine Schwester, seine Verlobte (die ihn verliess und ihm das Herz brach) und seinen Vater.

Die Figur Gottliebs erscheint dreimal auf dem Gemälde und repräsentiert seine persönliche Geschichte in drei verschiedenen Lebensaltern: Unten links ist ein junger Gottlieb zu sehen, sein Blick ist etwas abwesend und er trägt ein etwas unpassendes, aus der Zeit gefallenes orientalisches Gewand. Auch wenn es schwer zu erkennen ist, trägt der kleine Junge eine Halskette mit einem Davidstern und den Initialen מ. ג [M.G]. Unten rechts sehen wir einen Jungen im Bar Mitzwa-Alter, der mit einem älteren Mann liest. Die Ähnlichkeit mit dem Jungen links lässt vermuten, dass es sich auch hier um Gottlieb handelt, der zusammen mit seinem Vater dargestellt ist.

Die dritte und auffälligste Figur ist der junge Mann in der Mitte, der den derzeitigen Gottlieb darstellt. Sein hypnotisierender Blick ist sowohl nach aussen gerichtet, als ob er uns anschauen würde, als auch nach innen, als ob er sein Innerstes erforschen würde. Er trägt die gleiche Halskette wie der kleine Junge und traditionelle jüdische Kleidung, aber nicht wie die anderen: Die Farben sind nicht schwarz-weiss, sondern bunt und haben etwas Orientalisches. Man könnte sich vorstellen, dass das gestreifte, bunte Gewand des biblischen Josefs so aussah.

Durch diese drei Figuren setzt sich Gottlieb mit seiner Identität auseinander. Er ist sich seiner jüdischen Herkunft bewusst (die Figur von ihm und seinem Vater), aber er ist sich auch bewusst, dass er ein Aussenseiter ist.

Aber das ist nicht die einzige Art, wie Gottlieb auf dem Bild erscheint. Wenn man genau liest, was auf dem Toramantel in der Mitte steht, findet man Maurycy Gottlieb ein letztes Mal. In hebräischer Schrift steht da, als wäre er der Stifter der Torarolle:

“נדבה לזיכרון נשמת המנוח כבוד מורנו הרב רבי משה גאטליעב זצ”ל, שנת תרל”ח לפ”ק
Spende zum Gedächtnis an die Seele unsere Lehrer des Rabbiner Moshe Gottlieb sZ”l im Jahre 5638 (1878)

Diese Schrift, die zu ihrer Zeit viel Aufsehen erregte und sich als prophetisch erwies (es sollte das letzte Jahr in Gottliebs Leben werden), wurde dem jungen Maurycy Gottlieb selbst zweimal vorgelegt. Das erste Mal durch den Chirurgen und Zionisten Ruben Bierer (1835-1931), der Gottlieb danach fragte und die Antwort erhielt:

Genau an dieser Stelle meines Bildes angelangt, empfand ich ein Gefühl, dass ich dieser Welt entrückt bin und nicht weiter leben kann; da wollte ich wenigstens mein Andenken an dieser Stelle verewigen. (Selbst-Emancipation 19.9.1892)

Die zweite Person, die Gottlieb nach der Schrift fragte, war der hebräische Schriftsteller und Publizist Natan (Neta) Samueli (1843-1921), knapp acht Monate vor Gottliebs frühem Tod. In seiner Erzählung שתי אבני זכרון (Zwei Erinnerungssteine) berichtet er darüber:

Als ich ihn nach dem Grabstein fragte, den er zu Lebzeiten selbst gemacht hatte, antwortete er mir: “Ich habe nicht genug Worte, um diese Frage zu beantworten, und ich kann es mir auch nicht erklären. Während meiner Arbeit war ich in einer Stimmung, die ich nicht beschreiben kann. Manchmal schien es mir, als stünden hier vor mir die Schatten von Menschen, die von uns gegangen sind, und hier kehren sie zurück und schauen mich mit ihren toten Augen an, als wollten sie mich anflehen: ‘Mach uns wieder lebendig!’ Und ich zeichnete einige von ihnen aus der Erinnerung und einige von alten Familienfotos […] und wie diese Toten wurde mir plötzlich klar, dass auch ich nicht ewig leben werde, dass das Leben des Menschen auf dieser Erde kurz ist und dass ich bald zu dem Boden zurückkehren werde, von dem ich gekommen bin. Und dann stand plötzlich der Grabstein vor mir, und ich war verwirrt wie ein Mensch, der zu Lebzeiten seinen Grabstein sieht.”
(ha-Magid 18.11.1892)

Oded Fluss. Zürich 21.9.2023

Rabbi Amnon und das U-netane Tokef

…Hier aber, in der Synagoge, wird mit zerknirschtem Herzen unter Tränen der so bedeutungsvolle Unessane Taukef keduschas hajom gelesen. Die Engel zittern und rufen: „Das ist der Tag des Gerichts!” Die große Posaune wird geblasen. Und es wird bestimmt, wer im künftigen Jahr leben soll oder eines natürlichen Todes sterben oder meuchlings umkommen, wer verarmen oder reich, erhöht oder erniedrigt werden soll. Aber Reue, Gebet und Wohltaten befreien von bösen Geschicken.
(Aus Pauline Wengeroff – Memoiren einer Großmutter. Berlin, 1908)
U-netane Tokef aus Machzor le-Kol ha-Schana. Amsterdam, 1670. BH 1496.

Eines der bekanntesten und hoch beachteten Pijutim für Rosch ha-Schana und Jom Kippur ist U-netane Tokef. Dieses Pijut aus dem Genre des Siluk (aramäisch für Erhebung) wird von vielen als der Höhepunkt der Rosch ha-Schana Gebete in der Synagoge angesehen und hat einen wichtigen Platz in der jüdischen Tradition und Kultur eingenommen.

Israelitische Gebetordnung. Gottesdienst für Busstage, Neujahrsfest und Versöhnungstag. Stuttgart, 1878.

Auf sehr schöne, anschauliche und erschreckende Weise beschreibt dieses Pijut die Zeit der Jamim Noraim (die Zeit zwischen Rosch ha-Schana und Jom Kippur) als Zeit des Gerichts, und die Rolle Gottes als Richter in dieser Zeit. Es enthält viele bekannte Motive und Ideen, wie z.B. Gott auf seinem Thron sitzend, während er die Seelen seiner Geschöpfe prüft und ihnen ihr Urteil in sein Buch schreibt. Berühmt sind die erschreckenden Zeilen über die möglichen Arten des Todes: “Wer durch Feuer und wer durch Wasser, wer durch Krieg und wer durch Hungernot, wer durch Gewitter und wer durch Pest umkommen soll”. Ein etwas aktuelles Beispiel für den grossen Einfluss dieser Zeilen ist ihre Inspiration für das Lied “Who by fire” von Leonard Cohen.

Im Gegensatz zu anderen Pijutim der Jamim Noraim gibt es hier einen Schrei zu Gott, der sich nicht nur auf das israelitische Volk beschränkt, sondern universell ist und alles Leid beschreibt, das die Menschheit insgesamt kennt. Es handelt vom allmächtigen Gott im Gegensatz zur Ohnmacht und Nichtigkeit des Menschen. Der Weg zur Verbesserung des Schicksals ist nicht nur Busse und Gebet, sondern auch Hilfe für Bedürftige durch Zedaka (Almosen).

“Aber – Busse, Gebet und Almosen wenden das Böse Verhängnis ab”

Über den drei hebräischen Wörtern: Tschuba (Busse), Tefilla (Gebet) und Zedaka (Almosen) stehen in kleiner Schrift die drei parallelen Worte: Tzom (Fasten), Kol (Stimme) und Mamon (Geld). Damit sollen die wirklich wichtigen Dinge im Leben gestärkt werden und nicht die Mittel, um sie zu erhalten.

Jitzchak ben Moshe – Sefer Or Zarua. Schytomyr, 1862.

Über die Entstehung und vor allem über den Verfasser dieses Pijuts ist im Laufe der Jahre viel diskutiert worden. Als Verfasser wurde lange Zeit Rabbi Amnon von Mainz angesehen, der heute eher als fiktive Figur gilt. Die Geschichte oder Legende vom Märtyrer Rabbi Amnon erscheint in vielen Machzorim kurz vor oder als Anmerkung zum U-netane Tokef. Die älteste bekannte Quelle ist das Sefer Or Zarua von Rabbi Jitzchak ben Mosche aus Wien, das Mitte des 13. Jahrhunderts geschrieben und erstmals 1862 in Schytomyr gedruckt wurde.

Shai Agnon – Jamim Noraim. Schocken Verlag. Berlin, 1938. H 368

Diese Geschichte wurde später von dem Nobelpreisträger Shai Agnon in seinem berühmten Buch ימים נוראים Jamim Noraim aufgegriffen (wir haben darüber bereits berichtet, siehe Beitrag: https://breslauersammlung.com/2022/08/29/jamim-noraim/ ). Auf Deutsch erschien es in Michah Josef Bin Gorions (Berdyczewski) Der Born Judas. Diese Übersetzung bieten wir hier an:

In der Stadt Mainz lebte ein Lehrer namens R. Amnon, der war von edler Abkunft und ein sehr schöner Mann, auch begütert und angesehen unter seinen Zeitgenossen. Diesen R. Amnon suchte nun der Kurführst von Mainz zu überreden, den Glauben seiner Väter aufzugeben. R. Amnon neigte diesen Worten sein Ohr nicht; man fuhr jedoch fort, täglich dieses Ansinnen an ihn zu stellen. Als er eines Tages besonderes bedrängt wurde, antwortete R. Amnon, er wolle mit sich zu Rate gehen und werde seinen Entschluss nach drei Tagen mitteilen. Wie er aber das Haus des Statthalters verlassen hatte, reute es ihn, das er solche Worte hatte aussprechen können, und er war bekümmert.
Porträt des Hauses von Rabbi Amnon in Mainz, wie es 1891 in den Sabbat-Stunden abgebildet war.

Nach drei Tagen liess der Kurführst R. Amnon rufen, er aber weigerte sich, zu ihm zu gehen. Da wurde er wider seinen Willen abgeführt, und der Kursführst redete mit ihm hart. R. Amnon sagte: Ich will mein Urteil selbst sprechen: mir möge meine Zunge herausgeschnitten werden, die eine Lüge gesprochen hat. Das sagte er, weil er den Namen des Herrn heiligen wollte. Der Kurführst aber sprach: Nicht die Zunge ist schuld, denn sie hat die Wahrheit gesprochen, sondern die Füsse, die hierher nicht gehen wollten. Ich will sie abhacken und den Leib züchtigen. Und er gab Befehl, die Finger der Hände und die Zehen der Füsse einzeln abzuhauen. Bei jeden Gliede aber, das abgeschnitten werden sollte, fragte man R. Amnon, ob er seinen Sinn nicht ändern wolle, und er antwortete: Das will ich nicht tun. Als das Werk verrichtet worden war, befahl der Kurführst, R. Amnon auf eine Bahre zu legen und ihn nach Hause zu tragen. Die abgeschnittenen Glieder legte man zu dem Körper. Nicht umsonst hiess der Märtyrer Amnon, denn er bekundete den Glauben an den lebendigen Gott


Kurz darauf wurde das Neujahrsfest gefeiert, und R. Amnon liess sich ins Bethaus tragen. Als das Gebet der Gottesheiligung gesprochen werden sollte, sagte der Dulder zu dem Vorbeter: Lass mich den Namen des Herrn heiligen. Und er rief mir lauter Stimme und sprach: Unsere Heiligung möge zu dir aufsteigen, denn du bist unser Gott, o König. Danach sang er die von ihm verfasste Hymne: Lasset uns reden von des Tages Macht, welcher furchtbar ist und voller Schauer! Wie er aber den Gesang vollendet hatte, verschied er und entschwand den Blicken, denn Gott hatte ihn hinweggenommen. Nach drei Tagen erschien der Heilige dem Sohne Mesulems, Kalonymos, im Traum der Nacht, lehrte ihn die Hymne und befahl ihm, diese überall, wo die Kinder Israel gestreut wohnten, bekanntzugeben.
Seit der Zeit ist es Brauch, diese Hymne am Neujahresfest in den Synagogen vorzutragen.

Die Geschichte von Rabbi Amnon gilt als Legende, hat aber die jüdische Kultur enorm inspiriert. Sie wird nicht nur in zahlreichen Machzorim erwähnt, sondern hat auch Schriftsteller und Dichter angeregt, und die Märtyrerfigur des Amnon taucht in vielen Erzählungen und Gedichten auf. Der bereits erwähnte Shai Agnon verwendete die Figur des Rabbi Amnon beispielsweise in seiner Erzählung Jatom ve-Almana (Waise und Witwe) und in seinem Roman Nur wie ein Gast zur Nacht.

Abraham M. Tendlau – Das Buch der Sagen und Legenden jüdischer Vorzeit. Stuttgart, 1842.

Bereits 20 Jahre vor dem Druck in hebräischer Sprache im oben erwähnten Sefer Or Zarua erschien eine deutsche Bearbeitung dieser Erzählung in Abraham M. Tendlaus (1802-1878) Das Buch der Sagen und Legenden jüdischer Vorzeit, das erstmals 1842 erschien. Das in unzähligen Auflagen gedruckte Buch sammelte vor allem Geschichten und Legenden aus dem Talmud und dem Midrasch, enthielt aber auch mittelalterliche und frühneuzeitliche Sagenstoffe.

Die Geschichte mit dem schlichten Titel “Amnon” wird hier in einer persönlicheren Weise erzählt, die sich auf die subjektiven Gedanken des Rabbi Amnon und seine Interaktion mit seiner Frau konzentriert.

Leopold Stein – Amnon – eine jüdische Legende. Ostrows, 1854. BH 3659.

In der Breslauer Sammlung befindet sich das Buch Amnon, der Marthyrer und Verfasser des Unsanne Tokef des Rabbiners und Dichters Leopold Stein (1810-1882). Dieses lange Epos, zweisprachig in Deutsch und Hebräisch verfasst, ist ein gutes Beispiel für die populäre Verarbeitung jüdischer Legenden in Gedichten in dieser Zeit. Wie die oben erwähnte Bearbeitung von Tendlau handelt es sich auch hier um eine frühe Darstellung der Geschichte in poetischem Stil, noch bevor sie Eingang in den religiösen Kanon fand.

Ein weiteres schönes Beispiel, das in vielen Anthologien und Zeitschriften des frühen 20. Jahrhunderts zu finden ist, ist Rabbi Amnon von Adolph Donath (1876-1937), ein Gedicht aus seinen frühen sogenannten “Judenliedern”, die zwischen 1896 und 1897 entstanden. Donath, ein berühmter Kunstkritiker, Dichter und Zionist seiner Zeit, fasst die Geschichte Amnons in einem Gedicht wunderbar zusammen. Darin enthalten sind auch die wichtigsten Motive des U-netane Tokef.

Allgemeinde Zeitung des Judenthums . Berlin. 6.9.1907. Z 302.

Wir schliessen mit einer schönen Kuriosität aus dem Archiv des Hebrew Union College, wo sich der Nachlass von Isaak (Itzik) Offenbach (1779-1850) befindet. Der Vater des grossen Komponisten Jacques Offenbach war ebenfalls Komponist und Kantor der jüdischen Gemeinde in Köln. In seinem Nachlass findet sich eine musikalische Komposition des U-netane Tokef Pijut, die in hebräischer Sprache, aber von links nach rechts geschrieben ist, um der Richtung der Noten zu entsprechen.

Oded Fluss, Zürich. 14.9.2023

Die Andacht zweier Frauen

“בַּיִת וָהוֹן, נַחֲלַת אָבוֹת; וּמֵיְהוָה, אִשָּׁה מַשְׂכָּלֶת”
משלי יט, יד
“Haus und Vermögen sind ein Erbteil von den Vätern, aber vom Ewigen kommt ein verständiges Weib.”
Buch der Sprichwörter 19.14
Oberer Teil des Gemäldes von Maurycy Gottlieb “Juden in der Synagoge an Jom Kippur, 1878.

Unterschiedlicher hätten die beiden Frauen auf den ersten Blick nicht sein können. Die eine, 1819 in Böhmen geboren, stammte aus einer mährischen Rabbinerfamilie und war die Frau des berühmten Rabbiners Abraham Neuda. Ihre literarische Tätigkeit, die erst nach dem Tod ihres Mannes einsetzte, widmete sie ausschliesslich religiösen Themen. Als erste Frau, die jüdische Gebete für jüdische Frauen in deutscher Sprache verfasste, wurde sie weltberühmt und ihr Buch wird ins Jiddische, Hebräische und Englische übersetzt. Sie starb im Alter von 75 Jahren, umgeben von ihren Kindern und Enkelkindern.
Die andere Frau wurde 1890 in Frankfurt am Main in kleinbürgerlichen Verhältnissen geboren. Sie studierte Philosophie und Geschichte, promovierte mit einer Arbeit über den Einfluss Friedrichs des Grossen auf Voltaire und wurde Dichterin, Schriftstellerin, Pädagogin, Fechterin – die nicht zögerte, ihr Schwert zu nehmen und für die Rechte der Frauen zu kämpfen – und eine bekannte Sportjournalistin. Sie war nie verheiratet und hatte keine Kinder, war aber eine der Hauptorganisatorinnen der sogenannten Kindertransporte, mit denen während der Nazizeit tausende jüdische Kinder ins Ausland gebracht und gerettet wurden. Mit 52 Jahren wurde sie zusammen mit ihrer Schwester Lydia in Sobibor ermordet.

Martha Wertheimer in der Redaktion der Offenbacher Zeitung ca. 1930. © Jüdisches Museum Frankfurt


Und doch verbindet diese beiden Frauen, Fanny Neuda (1819-1894) und Martha Wertheimer (1890-1942), ein unzerbrechliches Band in Form eines kleinen Gebetbuches. Stunden der Andacht, das erste in deutscher Sprache von einer Frau für Frauen geschriebene jüdische Gebetbuch, wurde 1855 von Fanny Neuda (geb. Schmiedl) verfasst und zu einem Bestseller. Es wandte sich nicht nur an die Frauen in ihrer öffentlichen Rolle während der Feiertage und in der von Männern kontrollierten Synagoge, sondern auch an sie in ihren persönlichen Alltagserfahrungen, und zwar aus der Sicht einer Frau. Gebete über Schwangerschaft, über Witwenschaft, über eine Mutter, die ihr Kind zum Militärdienst schickt und eines für eine Mutter, die am Grab ihres Sohnes steht, aber auch für die damalige Zeit verschwiegene Themen wie Stiefmutterschaft, kinderlose Ehe, und sogar das Gebet für die “Unglückliche Ehegattin” sind darin enthalten. Das Buch erlebte zahlreiche Auflagen und wurde über Generationen von Mutter zu Tochter weitergegeben.

Fanny Neuda – Stunden der Andacht. Gebetbuch für Mädchen und junge Frauen israelitischen Glaubens. Verlag von Wilhelm Koebner. Breslau, 1890. D1805.

Es ist also kein Zufall, dass dieses Buch auch in die Hände von Martha Wertheimer gefallen ist. Diese beeindruckende und leider fast vergessene Frau hatte sich neben ihren vielen anderen “weltlichen” Tätigkeiten immer auch mit jüdischen Fragen beschäftigt und stand in engem Kontakt mit wichtigen Denkern wie Franz Rosenzweig und dem liberalen Rabbiner Max Dienemann. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 verlor sie ihre Anstellung bei der Offenbacher Zeitung und trat in die Redaktion des Israelitischen Familienblattes ein, wo sie sich zunehmend mit jüdischen Fragen, vor allem mit denen in Bezug auf Frauen, beschäftigte. Das Gebetbuch von Fanny Neuda war einer ihrer grössten Einflüsse in dieser Zeit:

In den Händen unserer Grossmütter und Mütter sind die “Stunden der Andacht” von Fanny Neuda immer dann gewesen, wenn sie sich neben dem hebräischen Gebete der Tefillah in ihrer eigenen Sprache zu Gott wand[t]en, wenn sie in Freunden oder Kümmernissen Dank aussprachen, Trost suchen wollten.

Wertheimer würde aber auch erkennen, dass das Gebetbuch, so wichtig es auch sein mochte – durch seine altmodische Sprache und seinen überholten Charme bei der Generation, die es vielleicht am meisten brauchte, etwas an Einfluss verloren hatte:

…nach siebzig langen Jahren hat das Buch doch manches von seiner ersten Frische eingebüsst […] im Stile der Zeit, in der das Buch geschrieben wurde, — stark von einer sprachlichen Form überdeckt, die es gerade der jungen Frauengeneration unmöglich macht, diese Gebete als die ihrer eigenen Sprache zu machen.
Das jüdische Sportbuch: Weg, Kampf und Sieg. Unter Mitarbeit von Dr. Martha Wertheimer, Siddy Goldschmidt, Paul Yogi Mayer. Atid Verlag. Berlin, 1936. B1849

1936, zu einer Zeit, als es für Juden äusserst schwierig war, Bücher in Deutschland zu veröffentlichen, brachte Wertheimer zwei Bücher heraus, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: Das eine, Das jüdische Sportbuch, war eine Reaktion auf die Olympischen Spiele in Berlin, die jüdische Sportlerinnen und Sportler von der Teilnahme ausgeschlossen hatten. Dieses eindrucksvolle Zeitdokument zeigt das grosse Engagement deutscher Juden und Jüdinnen im Sport und enthält zahlreiche Fotos von Teilnehmern jüdischer Sportveranstaltungen und Vereine.
Das andere, eine Neuauflage von Neudas Stunden der Andacht, wurde sprachlich an die neue Generation jüdischer Frauen angepasst.

Fanny Neuda – Stunden der Andacht. Ein Gebet und Erbauungsbuch für Israels Frauen und Mädchen zur Öffentlichen und Häuslichen Andacht. Durchgesehen und Bearbeitet von Martha Wertheimer. J. Kaufmann Verlag. Frankfurt a. M, 1936.

Und tatsächlich, wie eine Übersetzerin aus einer anderen Sprache hat Wertheimer dieses Buch genommen und es völlig modernisiert, ohne den ursprünglichen Ton zu verändern. Im “Vorwort zur durchgesehenen Neuausgabe” schreibt sie:

Selbstverständlich durfte nichts an den Worten geändert werden, in denen Fanny Neuda von sich aus und als Verfasserin dieses Gebetbuchs zu Israels Frauen spricht. Ihr Vorwort und ihr Nachwort sind daher ohne jede Änderung stehen geblieben und zeigen ihren Stil. Mehr als ihren Stil aber, ihr kluges gutes Unterfangen, für jüdische Frauen und Mädchen Gebetworte zu finden, ihnen eine Helferin zu “Stunden der Andacht” und in solchen Stunden zu sein, weist nach wie vor aus, was sie zu sagen hat, wenn auch das Wie dem Sprachgebrauch unserer Tage sich anpassen musste, um das Was lebendig zu halten.

In unserer Bibliothek befinden sich sowohl die dritte Auflage der Originalfassung des Buches Stunden der Andacht, die 1890 kurz vor dem Tod der Autorin Fanny Neuda und im selben Jahr, in dem ihre Nachfolgerin Martha Wertheimer geboren wurde, erschien, als auch die von Wertheimer selbst 1936 herausgegebene Neuauflage. Während die alte Fassung keine besonderen Merkmale aufweist, weist die neue einige auf:

Die erste Spur, die wir bereits auf der Innenseite des Buchdeckels finden, ist der Aufkleber der “Kedem Buchhandlung”. Diese berühmte Buchhandlung, die Ende 1920 von L. D. Bronstein und Leo Blumstein gegründet wurde, entwickelte sich zu einem Verlag, der einige der wichtigsten deutsch-hebräischen Wörterbücher, jüdische Jugendliteratur sowie zionistische Werke der Zeit veröffentlichte. Trotz des grossen Erfolgs musste der Laden bereits 1938 wegen des Verbots jüdischer Buchhandlungen schliessen. Auf dem Aufkleber findet sich die damalige Adresse des Ladens in der Dahlmannstrasse 8 in Berlin-Charlottenburg und sogar die Telefonnummer.

Die zweite Spur ist eine kleine Widmung, die wir auf der Seite neben dem Titelblatt finden und die von zwei Schwestern im April 1938 verfasst wurde. Leider wissen wir nicht, wem das Buch gewidmet ist, aber wir kennen die Namen der Schwestern: Jenny und Käthe Mielzynski. Die Widmung, die aus einem biblischen Zitat aus dem Buch der Sprichwörter besteht, fasst die Essenz des Buches auf wunderbare Art und Weise zusammen:

Haus und Vermögen sind ein Erbteil von den Vätern, aber vom Ewigen kommt ein verständiges Weib. Nimm’ dieses Buch zum Andenken an.
Deine,
Jenny Mielzynski und
Käthe Mielzynski
Im April 1938

Nach den Aufzeichnungen in Yad va-Shem ist davon auszugehen, dass beide Schwestern Opfer des Holocaust wurden und zwischen 1942 und 1943 ermordet wurden. Eine letzte Spur von Käthe Mielzynski findet sich in der Exilzeitung Aufbau in Form einer Suchanzeige, die eine andere Schwester der Familie, Herta Mendelson, am 24. Juni 1946 aufgab.

Aus der Anzeige geht hervor, dass der letzte bekannte Wohnort von Käthe Mielzynski Berlin Charlottenburg war, 10 Minuten von der Buchhandlung entfernt, in der das Buch gekauft wurde.

Oded Fluss. Zürich, 30.8.2023.

Menachem Ussischkin in der Schweiz

“Es ist die Reihe gekommen auch an die Schweizer Judenheit!”
Menachem Ussischkins Rede. Zürich, 28. November 1925.
Hermann Struck – Porträt von Menachem Ussischkin

Eine der herausragenden Persönlichkeiten der zionistischen Bewegung war Menachem Ussischkin (1863-1941), dessen 160. Geburtstag wir in dieser Woche begehen. Er wurde als Sohn einer chabad-chassidischen Rabbinerfamilie in der damals zum Russischen Reich gehörenden Kleinstadt Dubrouna geboren und beschäftigte sich schon früh mit Fragen der jüdischen Identität und Nationalität. Bald wurde er von der zionistischen Bewegung, insbesondere von Theodor Herzl und dessen Buch “Der Judenstaat”, mitgerissen und nahm am ersten jüdischen Kongress in Basel teil. Ussischkin, der die hebräische Sprache fliessend beherrschte, war einer ihrer grössten Förderer und betrachtete die Wiederbelebung und Integration des Hebräischen als eines der wichtigsten Ziele des Zionismus. Auf dem Ersten Zionistischen Kongress wurde er zum Sekretär für Hebräisch ernannt.

Menachem Ussischkin 1890

Von den Pogromen in Kischinew 1903 schwer betroffen, sah er in Palästina die einzige Hoffnung für das jüdische Volk, reiste häufig dorthin und war einer der Hauptakteure beim Kauf palästinensischen Landes für die Alija und die Ansiedlung. Eine sehr berühmte Debatte, an der er teilnahm, folgte auf das sogenannte “Uganda-Programm”, einen vom britischen Kolonialminister Joseph Chamberlain ausgearbeiteten und auch von Herzl unterstützten Plan, der das afrikanische Mau-Plateau (Kenia) als Zufluchtsort für die bedrängten russischen Juden vorsah. Der Plan, der auf dem Sechsten Zionistischen Kongress 1903 vorgestellt wurde, spaltete die Zionisten, und Ussishkin war einer der lautstärksten Gegner.

M. Ussischkin – Unser Program. “Zion” Verlag. Wien, 1905. B 169

1905, als das Uganda-Programm bereits aufgegeben worden war, veröffentlichte Ussischkin eine seiner wichtigsten Schriften mit dem Titel Unser Programm, in der er neben politischen Aktivitäten auch die Ansiedlung in Palästina forderte, was später als “synthetischer Zionismus” bezeichnet wurde. Ussischkin begründete seine Ablehnung und seinen Streit mit Herzl damit, dass das Uganda-Programm die zionistische Bewegung von ihrem eigentlichen Ziel, dem jüdischen Volk eine Heimstätte in Palästina zu geben, abgelenkt und stattdessen zu einem Kompromiss in Form einer Ansiedlung in Afrika geführt hätte.

In unserer Bibliothek befindet sich die sehr seltene Erstausgabe von Ussischkins Unser Programm, erschienen 1905 in Wien im Zion Verlag. Das kleine Büchlein enthält eine Widmung Ussischkins in deutscher Sprache an seinen Freund und “Gesinnungsgenossen” Felix Pinkus (1881-1947). Pinkus, der unserer Bibliothek viele seiner Bücher geschenkt hat, war Bankier, Journalist und Schriftsteller, bekannt für seine Schriften über das Judentum und den Zionismus. Er war mit der Schauspielerin Else Flatau verheiratet und Vater des bekannten Schweizer Verlegers und Buchhändlers Theo Pinkus.

Felix Lazar Pinkus mit Else Flatau-Pinkus und den Kindern Theo und Miriam vor einem Bild von Theodor Herzl, ca. 1917

Ussischkin besuchte die Schweiz sehr häufig und reiste neben der Teilnahme an den zionistischen Kongressen im Rahmen seiner Funktionen in der WZO (Zionistische Weltorganisation) und im Jüdischen Nationalfonds, dessen Direktor er fast 20 Jahre lang war, regelmässig in die Schweiz, um für seine zionistischen Ideen zu werben und die Alija zu fördern.

Gregor Rabinovitch – Menachem Ussischkin. Jewish agency: 36 Köpfe, Original Lithographien. Verlag der Galerie Aktuaryus. Zürich, 1929. Q 53a

Die schweizerisch-jüdischen Medien berichteten immer wieder über seine Auftritte, insbesondere über einen sehr intensiven Besuch zwischen November und Dezember 1925, als Ussischkin nach Zürich reiste und vier Versammlungen abhielt: die erste am 28. November im Schulhaus Hirschengraben; die zweite einen Tag später in der Augustin-Keller-Loge; am 30. November im Volkhaus Zürich in der Misrachi-Versammlung und die letzte am 6. Dezember wiederum in der Augustin-Keller-Loge. Den Veranstaltungen ging ein Presseempfang am 26. November voraus, an dem alle wichtigen Schweizer Zeitungen und die jüdisch-zionistischen Medien teilnahmen. Die Worte und die Präsenz von Ussischkin beeindruckten die Anwesenden, die ihn “mit stürmischem Applaus ” aufnahmen.

Menachem Ussischkin in Zürich, 1925.


Der Besuch war so eindrucksvoll, dass Anfang 1926 in Zürich eine kleine Broschüre mit dem Titel “Ussischkins Reden an die Juden der Schweiz” über die gesamte Reise veröffentlicht wurde. Diese Broschüre, die sich auch in unserer Bibliothek befindet, ist ein sehr interessantes Zeitdokument, das die zionistischen Bestrebungen und Einflüsse der Schweizer Juden in der Zwischenkriegszeit dokumentiert und alle Reden Ussischkins und die Reaktionen darauf mit Bildmaterial enthält.

Ussischkins Reden an die Juden der Schweiz. Sonderabdruck aus der “Jüdischen Presszentrale”. Zürich, 1926. B 222/1

Oded Fluss. Zürich, 17.8.2023

Tischa beAw in der modernen Dichtung.

Jacob Steinhardt – Tischa be’Aw

Und es heißt, sie weinten wirklich
Einmal in dem Jahr, an jenem
Neunten Tag des Monats Ab–
Und mit thränend eignen Augen

Schaute ich die dicken Tropfen
Aus den großen Steinen sickern,
Und ich hörte weheklagen
Die gebrochnen Tempelsäulen. – –

Tischa be’Aw ist bekannt für seine zahlreichen Kinot – hebräische Klagelieder oder Elegien, die in den Synagogen gesungen werden und sich hauptsächlich mit der Zerstörung des ersten und zweiten Tempels in Jerusalem und anderen Tragödien der jüdischen Geschichte befassen. Einige von ihnen sind fast so alt wie die jüdische Geschichte selbst.

Bekhi Tamrurim – Seder Kinot ke-Minhag Ashkenaz. Metz, 1768. Breslauer Sammlung BH 131

Diese Kinot – die eine religiös-moralische Tendenz darstellen, die sich in der Regel im Sündenbekenntnis und in der Bitte um Gottes Vergebung äussert – sind bis heute von grossem Interesse für die jüdische Wissenschaft, und ihre Entstehung und Verwendung in den verschiedenen jüdischen Gemeinden war und ist Gegenstand zahlreicher Forschungen und Bücher.

Tischa Beab – Sefer Minhagim. Amsterdam, 1723.

Die besondere Präsenz von Tischa be’Aw im kollektiven jüdischen Gedächtnis hat aber auch zu einer anderen, moderneren Art des künstlerischen Ausdrucks geführt, die religiöse Grenzen überschreitet und eine eher säkulare Form annimmt. Diese konzentriert sich erstens hauptsächlich auf die Gegenwart statt auf die Vergangenheit und zweitens auf die persönliche Erfahrung des Einzelnen statt auf die kollektiven Erfahrung der Vielen. Politische Bestrebungen, wie der Zionismus, werden ebenfalls miteinbezogen. All dies geschieht unter Verwendung traditioneller Motive der Kinot, wie die Trauer über die Zerstörung der Tempel und die Sehnsucht nach Jerusalem.

Leopold Horowitz – Tischa-Beab

In diesem Beitrag werden wir uns auf einige deutsche Gedichte konzentrieren, die zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert geschrieben wurden und Tischa be’Aw verwenden, um einen neuen, modernen Blick auf die jüdische Erfahrung zu werfen.

Ludwig August Frankl – Porträt von Leopold Pollak

Beginnen wir mit einem ganz besonderen, heute leider vergessenen Dichter: Ludwig August Frankl von Hochwart (1810-1894). Der Neffe Zecharia Frankels, dem Gründer des Breslauer Rabbinerseminars, bei dem er auch seine jüdische Ausbildung erhalten hatte, studierte Medizin, widmete sich aber vor allem der Dichtung und dem journalistischen Schreiben. Er war bekannt dafür, dass er in seinen Schriften die eher seltene Kombination von Patriotismus für das österreichische Kaiserreich und Verbundenheit mit seinen jüdischen Wurzeln verband.
Bereits in seinem 1860 erschienenen Buch “Nach Jerusalem!” schreibt Frankl über Tischa be-Aw, wie er diesen Tag der Trauer auf einer Reise nach Ägypten erlebt hat. Schon hier wird die tiefe Bedeutung deutlich, die er diesem Feiertag beimisst, nicht unbedingt als religiösem, sondern als nationalem Feiertag:

Wie lebendig und gewaltig sind die historischen Erinnerungen in diesem Volke, das ohne politische Einigung und über alle Erde gestreut ein nationales Trauerfest noch heutzutage nach zwei Jahrtausenden so allgemein feiert, wie in der ersten Zeit nach der Vernichtung des Tempels und nach der Verluste von Zion

Das Gedicht, das vier Jahre später in seinem Gedichtband “Ahnenbilder” veröffentlicht wurde, trägt den Titel “Der neunte Ab”. Noch vor der ersten Strophe wird man Zeuge einer Merkwürdigkeit: Der Untertitel des Gedichts ist die Jahreszahl 1492 mit einem Sternchen, das den Leser auf den Kommentar darunter hinweist:

“Entspricht dem 2. August 1492, an welchem Colombo eine neue Welt zu entdecken auszog”.

Frankl war fasziniert von Christoph Kolumbus, über den er auch ein berühmtes Gedicht schrieb, das ihm die Ehrenbürgerschaft von Kolumbus’ Geburtsstadt Genua einbrachte. Die sogenannte Entdeckung einer “neuen Welt” durch Kolumbus inspirierte ihn, sie als Vorbild für ein neues Land, “ein neues Kanaan”, wie er es nannte, für die in der ganzen Welt verstreuten Juden zu sehen.

Ludwig August Frankl – Ahnenbilder. Oskar Leiner Verlag. Leipzig, 1864. D 1308

Über den Autor des nächsten Gedichts wissen wir fast nichts. Er heisst Martin Friedlaender und sein Gedicht “Tischah-B’Ab” wurde erstmals in der Zeitung “Jüdische Volkstimme” vom 15.7.1901 veröffentlicht und später in zwei Anthologien für junge jüdische Dichter: “Junge Harfen” hrsg. von Berthold Feiwel 1903 und drei Jahre später in “Jungjüdische Gedichte” hrsg. vom Verein Jüdischer Studenten (Hochschule Berlin-Charlottenburg als Festgabe zu seinem Winterfest 15. Febr. 1906.)

Junge Harfen – Eine Sammlung jungjüdischer Gedichte. Jüdischer Verlag. Berlin, 1903.

Abgesehen vom Titel, der sich zweifellos auf Tischa be’Av bezieht, ist es sehr schwierig, in diesem seltsamen Gedicht irgendeinen Bezug zu dem jüdischen Feiertag zu finden. Es scheint eine intime Szene zwischen einem Mann und einer Frau zu beschreiben, bzw. es handelt sich um ein Liebeslied, das wie jedes Liebeslied auch morbide Motive enthält. Es könnte sich aber auch um ein Vater-Tochter-Gespräch handeln, in dem der Vater versucht, seiner Tochter auf freundliche Weise düstere historische Ereignisse zu erklären.
Auf jeden Fall ist das Gedicht sehr schön und wir würden es für Interpretationen offen lassen.

Joseph Budko – Tischa B’Ab

Das nächste Gedicht stammt von dem begabten Dichter, Musiker, Übersetzer und Künstler Arno Nadel (1878-1943) aus dem Buch “Das Jahr des Juden“, das er 1920 zusammen mit dem Künstler Joseph Budko (1888-1940) verfasste. Jedes Gedicht von Nadel in diesem Buch ist einem Feiertag des jüdischen Kalenders gewidmet und wird von einer Radierung Budkos begleitet. Dieses Buch, das bereits in einigen unserer früheren Beiträge erwähnt wurde, ist ein Meisterwerk der modernen expressionistischen Adaption religiöser Motive.

In diesem Gedicht führt Nadel zwei Dialoge, zunächst zwischen dem Dichter und der zerstörten Stadt Jerusalem, dann zwischen dieser Stadt und Gott. Nadels Vermenschlichung der Stadt ermöglicht es ihm, sie zum Träger von Sünden gegen Gott zu machen und schliesslich von ihm vergeben zu bekommen. Er verwandelt die Sehnsucht nach Jerusalem von einem historischen Moment in ein gegenwärtiges zionistisches Moment, in dem das erlöste Jerusalem das jüdische Volk wieder umarmen kann.

Käthe Kaufmann – Von Nissan zu Nissan. Gedichte einer jüdin in Deutschland. Joachim Goldstein Verlag. Berlin, 1937.

Wenig bekannt ist die Dichterin, mit der wir schliessen wollen. Käthe Kaufmann veröffentlichte Ende der 1930er Jahre einige Gedichte in der Zeitschrift Israelit. Sie starb aus ungeklärten Gründen im Alter von nur 39 Jahren, kurz nachdem 1937 ihr einziger Gedichtband “Von Nissan zu Nissan. Gedichte einer Jüdin in Deutschland” im Joachim Goldstein Verlag in Berlin erschienen war.

Der Zeitpunkt der Veröffentlichung ihres Werkes ist entscheidend für das Verständnis der Stimmung ihres Gedichts “Zum 9. Aw”, das in dem jüdischen Monat Aw gewidmeten Kapitel vorkommt. Dieses Gedicht, das ein Jahr zuvor im Israelit zu Tischa Be’aw 1936 erschienen war, trägt die dunkle Ahnung des Schicksals in sich, das hinter der nächsten Ecke lauert. Es spricht von einer Zerstörung in der Gegenwart und endet nicht mit einem hoffnungsvollen Blick nach vorn, sondern mit einem Blick zurück.

Oded Fluss. Zürich, 26.7.2023
עודד פלוס. ציריך. ערב תשעה באב התשפ”ג

“Ein Ghetto im Osten” erscheint in der Schweiz

Wilna, meine grosse Ahne, Stadt und Mutter in Israel,
Jerusalem des Galuth, Trost des Ostvolkes im Norden,
וילנה סבתי הגדולה, עיר ואם בישראל,
ירושלים של גלות, נחמת עם הקדם בצפון

Sie waren in jedem Schweizer Haushalt zu finden: die Schaubücher des Zürcher Orell Füssli Verlags. Es handelte sich dabei um eine Reihe von Fotobüchern, die mit Text und Bild fast jedes erdenkliche Thema abdeckten. Vom russischen Revolutionsfilm bis Hollywood, von den heiligen Städten der Bibel bis nach China, von zeitgenössischen Tänzerinnen bis zum Fussball, von Wagner bis Goethe; diese Bücher erschienen in einer schönen Aufmachung und zu einem Preis, der für jedermann erschwinglich war.

Geschrieben von einigen der besten Autoren und fotografiert von einigen der besten Fotografen, gilt dieses bahnbrechende Projekt, das zwischen 1929 und 1932 verwirklicht wurde und 38 Bücher umfasste, noch heute als Meilenstein in der Entwicklung des Buches und der heute fast selbstverständlichen Verbindung von Text und Bild.

Ein Ghetto im Osten (Wilna). 65 Bilder von M. Vorobeichic. Eingeleitet von S. Chnéour. Orell Füssli Schaubücher Nr. 27. Zürich – Leipzig, 1931.

Und obwohl jedes dieser Büchlein einzigartig ist, sticht eines heraus. Es ist das einzige Buch, das zweisprachig erschienen ist. Es ist das einzige Buch, das dreimal in vier verschiedenen Sprachen (Deutsch-Hebräisch, Deutsch-English und Deutsch-Jiddisch) veröffentlicht wurde.

“Idishe gas in vilne”: die jiddische Ausgabe des Buches.

Es ist ein Buch, das bis heute als Meisterwerk der Kunst und des Textes gilt und dessen Preis von den Antiquariaten in die Höhe getrieben wird. Vor allem aber ist Ein Ghetto im Osten (Wilna) ein Liebesgedicht an einen Ort, den es nicht mehr gibt. Es ist ein letztes visuelles und textliches Zeugnis einer lebendigen und bunten jüdischen Gemeinde, die von den Nationalsozialisten fast vollständig ausgelöscht wurde.

Feins blaues Geäder blickt aus schmutziger Armut,
Königssprossen Jehudas, Gefangene blondgelber Völker,
Blass sind sie und mager und krank wie die Reiser der Palmen,
Die in den Sümpfen Russlands wachsen, so fern ihrer Heimat.
Hermann Struck – Porträt von Zalman Shneour

Eingeleitet wurde das Buch von S. Chnéour, besser bekannt als Zalman Shneour (1886-1959), einem berühmten hebräischen und jiddischen Dichter, der einen Grossteil seiner Jugend in Wilna verbracht hatte. Shneour war fasziniert von der Stadt Wilna, die damals als eines der wichtigsten jüdischen Zentren galt. Bereits 1923 veröffentlichte er im Berliner Verlag “Hasefer” ein hebräisches Liebesgedicht an die Stadt mit dem schlichten Namen וילנה [Wilna].

Z. Shneour und Hermann Struck – Wilna. Hasefer Verlag. Berlin, 1923.

Diese schöne bibliophile Publikation mit dem Untertitel פואימה מצוירת [Gezeichnete Poema] und Zeichnungen von Hermann Struck (1876-1944) war der Vorgänger unseres Buches, das acht Jahre später erschien und einige Gedichte aus dem Vorgänger enthält.

Marc Chagall malte seine Geburtsstadt Witebsk […] Diese Stadt mit ihren blauen und violetten Häusern, ihrem alten Friedhof, mit den sonderbaren Schwingungen in der Luft, die wie schwebende Seelen scheinen, mit ihren grünen, braunen und schwarzen Juden.
Die Stadt Wilna hat aber ihren Chagall noch nicht gefunden, wenn auch das eigenartige Leben, das jüdische Element in ihr, mehrere Witebsk zu schaffen vermag und die Paletten vieler Künstler füllen würde. Auch Städte haben ihren Glückstern in der Kunst.
Dieses reiche Material, das auf seinen Künstler wartete, hat nun seinen Deuter gefunden.

Den Höhepunkt des 1931 erschienenen Schaubuch bilden jedoch die Fotografien und Fotomontagen des grossen Fotografen Moshe Vorobeichic (1904-1995). Dieser talentierte Künstler, der in Wilna geboren wurde und später bei Paul Klee und Wassily Kandinsky studierte, ist uns besser bekannt unter dem Pseudonym Moï Ver. Die wunderschönen Schwarzweissfotos und ihre innovative Einbettung in das Buch verwandeln das nüchtern wirkende Ghetto in ein emotional aufgeladenes, nostalgisches Mosaik. Einige Bilder würden zu klassischen Zeugnissen einer nach dem Holocaust nicht mehr existierenden Welt.

Über den Herausgeber dieses Buches und der gesamten Schaubücher-Reihe soll noch etwas gesagt werden, nur ein paar Worte, denn über ihn ist nicht viel bekannt. Emil Schaeffer (1874-1944) war ein österreichischer Kunsthistoriker und Verleger jüdischer Abstammung. Er hatte, wie viele andere Juden dieser Zeit, ein schreckliches Schicksal erlitten. Als sich die Gestapo seinem Wohnort Oedenburg näherte und er wusste, dass er mit seinen jüdischen Mitbürgern nach Auschwitz geschickt werden würde, vergiftete sich Schaeffer und nahm sich das Leben.

Wir wissen leider nicht viel über diese interessante Persönlichkeit, aber ein Nachruf, den sein Schweizer Freund, der Übersetzer, Feuilletonist, Anekdotensammler und Regisseur N. O. Scarpi (Fritz Bondi) am 30. Oktober 1945 schrieb, erzählt uns von seiner Beziehung zur Schweiz und von einigen seiner vielen Tugenden. Dieser Artikel, der in der Schweizer Zeitung “Die Tat” veröffentlicht wurde, wird hier in voller Länge wiedergegeben:

Aus “Die Tat” 30.10.1945

Wir schliessen mit den Worten Emil Schaeffers selbst, wie sie im Orell Füssli Almanach von 1930 erschienen sind, der der Schaubuchreihe gewidmet war. Schaeffer beschreibt dieses aussergewöhnliche Projekt in einem kurzen Beitrag aus seiner Sicht:

Dem Reich der “Schaubücher” sind die Grenzen weit gezogen; es umfasst alles, was der Photograph auf seiner Platte festhalten kann: jegliches Tier und jegliche Pflanze, alle Länder, alle Meere, und sogar den Mond und die Sterne.
“Die Schaubücher” wandern mit dir von Rahels Grab “an dem Wege gen Ephrat” durch alle Kulturen und Zivilisationen bis zum jüngsten Wolkenkratzer New Yorks; sie machen dich vertraut mit allen Siegen und Triumphen der Technik; sie bringen Kunde über den Menschen und über die Menschen, über Völker und Rassen; “die Schaubücher” teilen deine Freude an Sport und Spiel, an feingliedrigen Wuchs tänzerischer Gestalten, sie begleiten dich ins Theater, ins Museum und fahren im Luftschiff mit dir nach Hollywood, um dir zu zeigen, wie Chaplin wohnt und wie ein Film entsteht. “Die Schaubücher” unterrichten, aber gleichzeitig geben ihre Bilder dem Auge ein Fest, und darum werden wir ein Schaubuch, das uns einmal entzückt hat, immer wieder gern zur Hand nehmen. “Die Schaubücher bringen wirklich alles, und darum kommen bei ihnen alle auf ihre Rechnung, jeder Mann und jede Frau, jedes Alter und jeder Stand, jede Tätigkeit und jegliche Neigung.

Oded Fluss. Zürich, 13.7.2023.

Von Max und Moritz zu Schimon und Lewy

Wilhelm Busch – Max und Moritz. Verlag von Braun und Schneider. München, 1865.

Für die einen ist es eine schöne Erinnerung an ein lustiges Buch, für die anderen ein Kindheitstrauma: Max und Moritz von Wilhelm Busch, erstmals 1865 veröffentlicht, gilt als Kinderbuchklassiker und wurde in unzählige Sprachen übersetzt. Weniger bekannt ist, wie häufig das Buch in der jüdischen Literatur auftaucht.

A. Liboschizki – Schimon ve-Lewy: Ma’asija. Tushija Verlag. Warschau, 1913. H 123

Schimon und Lewy, die Brüder, – Werkzeuge des Frevels sind ihre Schwerter. (Genesis 49,5)

Bereits 1913 wurde Max und Moritz unter dem etwas biblischen Namen שמעון ולוי [Schimon und Lewy] erstmals ins Hebräische übersetzt. Das Fehlen der bekannten Originalillustrationen, die Hebraisierung des Buchtitels und die Tatsache, dass der Übersetzer Aharon Liboschizki (1874-1942) fast alle Spuren des ursprünglichen Autors – der nur in einer kleinen Fussnote auftaucht – getilgt und sich selbst zum Autor gekrönt hat, lassen schwer erkennen, dass es sich tatsächlich um dasselbe Buch handelt. Doch wenn man das Buch aufschlägt, findet man genau dieselbe Handlung der beiden Lausbuben, jetzt als wilde Jeschiwah-Jungen verkleidet:

Wir lesen oft von aufsässigen Kindern, die das Herz ihrer Väter traurig machen. Da sind zum Beispiel die Jungen Schimon und Lewy, die, statt zu lernen und Gutes zu tun, faul waren und die Moral von Vater und Mutter verachteten.
Wilhelm Busch – Notel un Motel. Zekhs stiftr meshh’lakh. frey bearbet in iudish durkh Josef Tunkel. Farlag “brider levin-epshteyn un shutafim”. Warschau, 1920.

Der nächste Auftritt der beiden Schurken in der jüdischen Literatur sollte nicht auf Hebräisch, sondern auf Jiddisch erfolgen. 1920 erschien in Warschau ein Buch von Wilhelm Busch mit dem humorvollen Titel נאטעל און מאטעל [Notel und Motel]. Es war die erste Übersetzung von Max und Moritz ins Jiddische und stammte vom Dichter, Schriftsteller, Karikaturisten und Übersetzer Josef Tunkel (auch “der Tunkeler” genannt). Dieses Buch, diesmal mit den Originalillustrationen, folgt dem deutschen Original, überträgt die Sprache aber vollständig ins Jiddische, ohne auch nur eine Spur des deutschen Sprachgefühls zu hinterlassen.

itster, kinder, haida! shneler! / di almnah kumt fun keler! /- khevreh trakhten nisht keyn sakh, / eyns un tsvey – araf fun dakh; / shtelen fis un makhen pleithe, flihen gliklikhe, derfrehte

Bemerkenswert ist auch die Veränderung des Bäckers Mecke, der in der deutschen Version die Kinder am Ende der Geschichte einfängt. In der jiddischen Version werden die Kinder von Rabbi Israel gefangen genommen, der in der Illustration im Gegensatz zur deutschen Version einen langen Rabbinerbart trägt.

Am faszinierendsten sind vielleicht zwei hebräische Übersetzungen von Max und Moritz, die 1939 fast gleichzeitig in Palästina erschienen. In einer Zeit, in der die meisten zionistischen Juden versuchten, sich von der deutschen Kultur zu distanzieren, wurde dieses sehr deutsche Buch in zwei sehr unterschiedlichen hebräischen Übersetzungen von zwei Übersetzerinnen veröffentlicht.

Wilhelm Busch – Max ve-Moritz. Übersetzt von Chava Karmi. Joachim Goldstein Verlag. Tel Aviv, 1939.

Die erste, eher klassische Übersetzung von Chava Karmi erschien im Joachim Goldstein Verlag in Tel Aviv. Diese Übersetzung versuchte, dem deutschen Original so nahe wie möglich zu kommen und wurde auch מכס ומוריץ [“Max und Moritz“] genannt.
Die zweite, etwas interessantere Übersetzung stammt von der Dichterin und Kinderbuchautorin Anda Pinkerfeld Amir (1902-1981). Wie Liboschizki versuchte auch sie, der Übersetzung einen jüdischeren Anstrich zu geben, und das Buch und die beiden Lausbuben hiessen nun גד ודן [“Gad und Dan“].

Wilhelm Busch – Gad ve-Dan. Niv Verlag. Tel Aviv. H 4027

Es ist nicht sicher, aber es ist wahrscheinlich, dass die Übersetzerin diesen etwas seltsamen Titel als Hommage an ein anderes Kinderbuch wählte, das 13 Jahre zuvor erschienen war, als sie selbst noch eine junge Frau war. Das Buch mit dem gleichen Namen, nur in umgekehrter Reihenfolge, “Dan und Gad“, erschien 1936 in Berlin und war als hebräisches Lehrbuch für Kleinkinder gedacht. Im Gegensatz zu seinem Nachfolger war dieses Buch völlig naiv und die Hauptfiguren vollbrachten nur gute Taten.

Wolf Seev Neier – Dan und Gad. Illustriert von Heinz Wallenberg. Siegfried Scholem Verlag. Berlin, 1936.


Gad und Dan hingegen erzählt noch einmal, aber mit etwas mehr literarischer Freiheit, die Geschichten der beiden Lausbuben Max und Moritz. Der Hauptunterschied zwischen den beiden Geschichten liegt im Ende. In der Originalfassung von Max und Moritz enden die beiden Lausbuben sehr düster: Sie werden zermahlen und an die Enten verfüttert (womit sich der Kreis schliesst, denn am Anfang haben sie die Hühner getötet). In der Übersetzung bleibt das Ende ziemlich offen und wir finden die beiden in einem Sack hängend, ohne ihr Schicksal zu erfahren.

Doch ihr Glück verliess sie / Sie bekamen, was sie verdienten / Jehuda, verflucht “zur Hölle mit euch” / Packte sie mit eiserner Hand / Und steckte sie in den Sack / “habt jetzt euren Spass im Sack!” / Er hängte den Sack auf / er hängte ihn an den Nagel / die beiden hängen wohl noch heute; / niemand eilte ihnen zu Hilfe / Die Nachricht ging durch die Stadt / Die Einwohner sangen / Der Trommler schlug die Trommel / Gad und Dan waren am Ende / Aber vielleicht kamen sie doch aus dem Sack / und wurden durch ein Wunder aus ihrer Not gerettet / Aber von Gad und Dan haben wir bis heute / nichts mehr gehört
Wilhelm Busch – Max ve-Moritz. Hebräisch von Uri Sela. Levi Epstein Verlag. 1965. H 4563

Seitdem wurde Max und Moritz drei weitere Male ins Hebräische übersetzt, wobei sich jede Version leicht von der anderen unterscheidet. Das Ende der modernen hebräischen Fassungen ist immer an die zarten Gemüter der heutigen Kinder angepasst, aber die Streiche und Schikanen der beiden Lausbuben bleiben immer gleich.

Oded Fluss. Zürich, 22.6.2023

Louis Lamm – Schicksal eines jüdischen Verlegers

“Immer und allenthaben merkte ich: habent sua fata libelli [Bücher haben ihre Schicksale] – aber auch Buchhändler haben ihre Schicksale.”
Louis Lamm – Meine Buchhandlung. Neue jüdische Monatshefte 25.10.1919.

Manchmal klafft eine grosse Lücke zwischen dem, was ein Mensch hinterlässt, und der Erinnerung an ihn. In unserer Bibliothek befinden sich zahlreiche Bücher, die den Namen Lamm tragen. Die meisten davon sind Bücher, die im L. Lamm Verlag erschienen sind. Einige tragen jedoch den Namen Louis Lamm als Autor, und in diesen finden wir manchmal kleine Widmungen, in denen der Name auch handschriftlich vorkommt. In einem Fall ist der Name Louis Lamm auch als Besitzer eines Buches auf einem Exlibris vermerkt.

Ex Libris Louis Lamm. Aus “Geschichte der Juden im ehemaligen Fürstenthum Ansbach”. Carl Junge Verlag. Ansbach, 1867. D 2549

All dies erlaubt uns, diesen Beitrag Louis Lamm (1871-1943) zu widmen, einem Buchhändler, Verleger, Autor und Bücherliebhaber, der sich der Kunst des Erinnerns verschrieben hat und selbst fast völlig in Vergessenheit geraten ist.

Louis Lamm wurde am 12. Dezember 1871 in Wittelshofen als eines von sieben Kindern einer jüdisch-orthodoxen Familie geboren. Als er drei Jahre alt war, zog die Familie nach Buttenwiesen, wo er bis zu seinem 13. Lebensjahr blieb. Knapp 20 Jahre später schrieb er zwei Büchlein über die kleine Gemeinde Buttenwiesen:

Bild aus Louis Lamms “Zur Ortgeschichte von Buttenwiesen”. Berlin, 1902. B 1569

Das erste ist ein Separatabdruck aus dem Jahrbuch des Historischen Vereins Dilingen und trägt den Titel “Zur Ortgeschichte von Buttenwiesen”. Es ist 1902 in Berlin erschienen und behandelt die allgemeine Geschichte des Buttenwiesener Ortsgebietes seit dem 12. Jahrhundert. Lediglich ein kurzes Kapitel mit dem Titel “Streitigkeiten zwischen der israelitischen und christlichen Gemeinde” befasst sich mit der jüdischen Gemeinde und ihren Problemen mit der christlichen Gemeinde in Buttenwiesen zu Beginn und Mitte des 18. Jahrhunderts.

Louis Lamm – Das Memorbuch in Buttenwiesen. Berlin, 1902. B 1570.

Das zweite Buch, das uns mehr interessiert, ist “Das Memorbuch in Buttenwiesen”, das ebenfalls 1902 in Berlin erschien. Dieses Buch, das auch als Separatabdruck erschien, diesmal aber in der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, ist der Versuch, das alte Memorbuch der jüdischen Gemeinde Buttenwiesen zu rekonstruieren und wieder zum Leben zu erwecken. Das ursprüngliche Memorbuch umfasste 26 Seiten, von denen einige durch Alter und Abnutzung bereits unleserlich geworden waren. Laut Louis Lamm war es sein Vater Max Lamm (1842-1917) gewesen, der als erster die Initiative ergriffen hatte, das Originalbuch, das sich in einem sehr schlechten Zustand im Besitz der örtlichen jüdischen Gemeinde befand, zu restaurieren. Louis Lamm übersetzte in diesem Buch die hebräischen Passagen, die das Martyrium der Juden der Gemeinde und die häufigen Pogrome gegen sie beschreiben.

Schon in diesen beiden kleinen Büchern wird deutlich, dass Louis Lamm immer sowohl ein objektives als auch ein persönliches Interesse an den Büchern hatte, die er schrieb und verlegte. Bücher waren für ihn immer sowohl Mittel zur Verbreitung von Wissen als auch Ziel: die Fortführung und Wiederbelebung des jüdischen Buches. Eine weitere persönliche Note finden wir in diesen beiden Büchern in den handschriftlichen Widmungen Lamms an “Fräulein Dr. Augusta Steinberg”. Beide Widmungen sind schlicht mit “vom Verfasser” unterschrieben und auf Dezember 1902 datiert.

Ex Libris Familie Weldler

Frau Steinberg ist uns besser bekannt als Dr. Augusta Weldler-Steinberg (1879-1932), eine Schweizer Historikerin und zionistische Aktivistin, die mit dem Schweizer Journalisten und Zionisten Norbert Weldler (1884-1961) verheiratet war. Beide waren leidenschaftliche Büchersammler, und unsere Bibliothek hatte das Glück, einen grossen Teil ihrer Sammlung als Schenkung zu erhalten.

Widmung in Leo Baecks “Das Wesen des Judentums”. Verlag von Nathansen & Lamm. Berlin, 1905. D 193(1)

Ein weiteres sehr wertvolles Buch von Louis Lamm, das Augusta Weldler gewidmet ist (diesmal mit seinem Namen signiert), ist das vielleicht wichtigste Buch des Rabbiners Leo Baeck “Aus Wesen des Judentums”. Die erste Ausgabe erschien 1905 in Berlin im Verlag Nathansen & Lamm und war eines der ersten Bücher, die Louis Lamm verlegte. 1903 eröffnete er zusammen mit Bernhard Nathansen das Antiquariat und Sortiment Nathansen & Lamm in der Neuen Friedrichstrasse in Berlin. Neben Büchern verkaufte er auch Judaica und trat damit in die Fussstapfen seines Vaters Max Lamm, der in Buttenwiesen ebenfalls ein Judaica-Geschäft betrieb.

Anzeige für den Judaica-Laden von Max Lamm. Der Israelit 12.11.1896.

Ab 1905 führte Louis Lamm die Judaica-Fachbuchhandlung allein und betrieb von dort aus einen Verlag. Dank seiner Kenntnisse und seines Know-hows auf dem Gebiet der jüdischen Geschichte wurde der L. Lamm Verlag zu einem der wichtigsten und einflussreichsten jüdischen Verlage des frühen 20. Jahrhunderts. Von Kabbala bis zu jüdischen Kinderbüchern erschien alles was Qualität hatte.

E. Flanter – Im Strahlenglanze der Menorah. Louis Lamm Verlag. Berlin, 1920. D 170.

Eine der interessantesten Buchveröffentlichungen des Lamm Verlags fällt in die Zeit des Ersten Weltkriegs. In dieser Zeit, in der viele deutsche Juden eine patriotische Haltung einnahmen, veröffentlichte Lamm seine einzigartige Buchreihe Lamm’s jüdische Feldbücherei: kleinformatige Bücher für jüdische Soldaten, die sie mit an die Front nehmen konnten. Darüber hinaus veröffentlichte er eine Reihe von Postkarten –Lamms jüdische Kriegspostkarten – und 1916 ein Verzeichnis jüdischer Schriften über den Krieg.

Der Krieg und wir Juden. Lamm’s Jüdische Feldbücher Nr. 1. Berlin, 1915. B 1156.

1933 musste Lamm nach Amsterdam emigrieren. Dort eröffnete er im Gebäude Amstel 3 ein Antiquariat und ein Judaica-Geschäft; seine Frau und seine Tochter folgten ihm. In Amsterdam führte er sein Geschäft weiter und gab einige sehr wichtige Judaica-Kataloge heraus. Zu seinem 70. Geburtstag am 12.12.1941 veröffentlichte die niederländische Wochenzeitung Het Joodsche Weekblad einen Artikel zu seinen Ehren mit einem aktuellen Foto.

Nach der Besetzung der Niederlande durch die Nationalsozialisten wurde Lamm im Durchgangslager Westerbork inhaftiert. Im November 1943 wurde er in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert und dort am 19. November 1943 zusammen mit seiner Tochter Ruth Fanny Lamm ermordet.

Signet des Louis Lamm Verlags

Louis Lamm ist fast vergessen, aber seine Bücher leben weiter. In unserer Bibliothek gibt es unzählige Bücher von grosser historischer Bedeutung, die im Verlag L. Lamm erschienen sind. Für uns hier in der Schweiz ist seine faksimilierte Neuausgabe der Sammlung Jüdischer Geschichten in der Schweiz (ursprünglich veröffentlicht 1768) von Johann Caspar Ulrich aus dem Jahr 1922 von grosser Bedeutung.

Johann Caspar Ulrich – Sammlung Jüdischer Geschichten in der Schweiz. Louis Lamm Verlag. Berlin, 1922. D 2727


Ein weiteres erwähnenswertes Buch aus unserer Bibliothek ist Alfred Feilchenfelds Grundzüge der jüdischen Geschichte in nachbiblischer Zeit. Dieses von den Nazis geraubte Buch, das sowohl den Namen Louis Lamm als auch den Stempel des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands trägt, erzählt das Schicksal eines vergessenen Buchliebhabers und Verlegers.

Alfred Feilchenfeld – Grundzüge der jüdischen Geschichte in nachbiblischer Zeit. Louis Lamm Verlag. Berlin, 1918. B 3566.

Oded Fluss. Zürich, 12.6.2023

Die Sinai-Offenbarung in der jüdischen Kunst

Am dritten Tag, im Morgengrauen, begann es zu donnern und zu blitzen. Schwere Wolken lagen über dem Berg und gewaltiger Hörnerschall erklang. Das ganze Volk im Lager begann zu zittern.
Mose führte es aus dem Lager hinaus Gott entgegen. Unten am Berg blieben sie stehen. Der ganze Sinai war in Rauch gehüllt, denn Gott war im Feuer auf ihn herabgestiegen. Der Rauch stieg vom Berg auf wie Rauch aus einem Schmelzofen. Der ganze Berg bebte gewaltig und der Hörnerschall wurde immer lauter. Mose redete und Gott antwortete im Donner.

Die Offenbarung Gottes am Berg Sinai und die Übergabe der Zehn Gebote, die wir an Schawuot (Das Wochenfest) feiern, ist der entscheidende Moment, in dem das Volk Israel zur jüdischen Nation wurde. Diese dramatische Szene, begleitet von Feuer, starkem Rauch, Blitzen und Schofarblasen, ist bis heute eine der eindrucksvollsten Szenen im kollektiven Gedächtnis der Menschheit. Wie viele zentrale Momente in der biblischen Geschichte des jüdischen Volkes ist auch diese Szene nur spärlich beschrieben, was sie noch geheimnisvoller macht. Aus diesem Grund haben sich viele Künstler/innen dazu inspirieren lassen, dieses einzigartige Ereignis selbst zu interpretieren. Viele dieser Interpretationen, wie die von Rembrandt oben, sind sehr bekannt, aber wir haben aus einigen Büchern unserer Bibliothek einige weniger bekannte ausgewählt.

Joseph Budko – Schabuot. Das Jahr des Juden . Gurlitt Verlag. Berlin, 1920.

Wir beginnen mit dem Maler und Grafiker Joseph Budko (1888-1940), einem der bedeutendsten modernen jüdischen Künstler. Als Lieblingsschüler von Hermann Struck erlangte Budko Weltruhm und wurde der erste Direktor der Neuen Bezal’el-Schule für Handwerk und für Kunst in Jerusalem. Diese Miniaturradierung wurde 1920 in dem Buch Das Jahr des Juden: zwölf Gedichte zu zwölf Radierungen veröffentlicht, das eine einzigartige Zusammenarbeit zwischen Budko und dem grossen Dichter und Künstler Arno Nadel (1878-1943) darstellt.

Arno Nadel – Schabuoth. Das Jahr des Juden . Gurlitt Verlag. Berlin, 1920

Jede Radierung sollte einem besonderen Ereignis des jüdischen Jahres folgen und von einem Gedicht Nadels begleitet werden. Diese sehr expressionistische Radierung zeigt keine Menschen und konzentriert sich ausschliesslich auf das visuelle Spektakel auf dem Berg Sinai. Die Zehn Gebote sind oben in Form von zwei Tafeln mit den ersten zehn Buchstaben des hebräischen Alphabets von א [Alef] bis י [Jod] dargestellt.

Marc Chagall und die Bibel. Lahr : E. Kaufmann. 1970.

Eine ganz andere Interpretation findet sich bei Marc Chagall (1887-1985). In diesem sehr farbenfrohen Bild konzentriert sich Chagall vor allem auf die Empfänger der Gebote. In der Mitte stellt er Moses fast engelsgleich dar, wobei Chagall, wie in vielen seiner Mosesdarstellungen, Lichtstrahlen aus seinem Kopf zu entspringen scheinen. Auch das Volk Israel ist unter dem Berg zu sehen, besonders auffällig ist die blaue Frau, aber auch Tiere wie der Vogel und das Pferd sind dargestellt. Gott erscheint in männlicher Gestalt in Form von zwei Händen, die Moses die Gebote geben.

Uriel Birnbaum – Moses. Thyrsos-Verlag. Wien und Berlin, 1924.

Eine weitere farbenprächtige Darstellung findet sich in dem Buch “Moses” von Uriel Birnbaum (1894-1956). Der begnadete Autodidakt hat das ganze Buch dem Bild und der Person des Moses gewidmet. Wir finden hier die Szene auf dem Berg Sinai, in der Moses allein und winzig klein vor dem Allmächtigen erscheint, der wiederum in Form von zwei riesigen Tafeln dargestellt ist. Diese scheinen sich auf die kleinen Tafeln in Moses’ Händen zu projizieren. Unter dem Bild steht in hebräischer Sprache der Vers aus Exodus 31,18:

Nachdem der Herr zu Mose auf dem Berg Sinai alles gesagt hatte, übergab er ihm die beiden Tafeln der Bundesurkunde, steinerne Tafeln, auf die der Finger Gottes geschrieben hatte
Lesser Ury: Bilder der Bibel. Jüdische Verlagsanstalt. Berlin, 2002.

Eine weitere einzigartige Moses-Darstellung stammt von Lesser Ury (1861-1931). Dieser etwas in Vergessenheit geratene Impressionist war vor allem für seine nächtlichen Strassen- und Caféhausbilder bekannt. Von ihm stammen aber auch einige sehr schöne Bibeldarstellungen. Der Künstler, den Buber den “Dichter unseres Zornes und unserer Liebe” nannte, hat uns hier das Bild des einsamen, in sich gekehrten Moses beschert, der den Berg besteigen soll. Der Winkel, in dem das Bild gemalt ist, lässt die Proportionen von Moses und dem Berg gleich gross erscheinen. Interessant ist auch, dass Moses, der in vielen Darstellungen dieser Szene sein Kopf hebt, hier in Selbstbetrachtung den Kopf senkt.

Die Haggadah von Sarjevo. Faxismil-Ausgabe vom “Jugoslavija” Verlag. Beograd, 1963.

Wir schliessen mit dieser schönen Illustration aus der Haggada von Sarejevo. Diese schöne und historisch bedeutsame Haggada, von der man weiss, dass sie die älteste noch existierende Haggada ist (geschrieben um 1350), stellt auch die Übergabe der Zehn Gebote auf dem Berg Sinai dar. Die Pessach-Haggadot sind dafür bekannt, dass sie Moses überhaupt nicht erwähnen, aber hier wird Moses sehr wohl dargestellt, und nicht nur das, er wird so dargestellt, als wäre er der Berg selbst. Umgeben von Rauch und von seinem Volk, das zu ihm aufschaut, hält er stolz die Tafeln in seinen Händen. Auf Hebräisch lesen wir über dem Bild “und Moses stieg zu Gott hinauf” und “Matan Torah” (die Übergabe der Tora). Unter dem Bild finden wir in Hebräisch das Zitat aus Exodus 19,16 “Das ganze Volk im Lager begann zu zittern” und aus Exodus 24,7 “Was Gott gesagt hat, das wollen wir tun; wir wollen gehorchen”.

Mehr zum Thema Schauwot finden Sie in unserem Beitrag über das Buch Ruth: https://breslauersammlung.com/2022/06/02/das-buch-ruth-und-schawuot/

Oded Fluss 22.5.2023

Buchstaben steigen in die Luft

Als die Flammen seinen Körper schon umgaben, hatte er noch die Kraft, seinen Jüngern zuzurufen: “Das Pergament brennt nur, die Buchstaben steigen in die Luft.” (Avoda Sara 18a)

Die talmudische Geschichte vom Märtyrertod des Rabbi Chanina ben Teradjon, der von den Römern in eine Torarolle gewickelt auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, mag radikal sein, aber sie kann uns viel lehren: Erstens zeigt sie den direkten Zusammenhang, den die Geschichte immer wieder zwischen der Verbrennung von Büchern und der von Menschen hergestellt hat. Zweitens veranschaulicht sie uns die Widerstandskraft eines Buches, das wie die Idee, die es trägt, nicht einfach ausgelöscht werden kann.

Lasar Segall – Rabbi ben Teradjon

Bücherverbrennungen sind so alt wie das Buch selbst. Die ‘Mächtigen’ wollen immer an der Macht bleiben, und Bücher gelten seit jeher als gefährlich für konservative und reaktionäre Kräfte. Bücher wurden gefürchtet von denen, die sich vor der Wahrheit fürchteten, und sie waren eine Bedrohung für diejenigen, die auf Oberflächlichkeit bauen wollten, ohne den Abgrund darunter erkennen zu lassen. Deshalb wurden sie verbrannt.  Das berühmte Zitat von Heinrich Heine:

Dies war ein Vorspiel nur, dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen

ist jedoch keine Prophezeiung, wie viele meinen. Menschen sind auch schon immer verbrannt worden. Sowohl grosse und mächtige Reiche als auch kleine und arme Gemeinschaften wurden in Schutt und Asche gelegt. Diejenigen, an die wir uns heute noch erinnern, verdanken ihre Erinnerung unverbrannten Büchern.

Fotomontage von John Heartfield zur Bücherverbrennung am 10. Mai. AIZ. 10.5.1933

Neben neuen Methoden, Bücher und Menschen zu verbrennen, hat uns die moderne Technologie auch neue Werkzeuge der Erinnerung an die Hand gegeben. Wir sind nicht mehr nur auf Bücher angewiesen, um die Vergangenheit festzuhalten, sondern auch auf visuelle und auditive Mittel wie Fotos und Filme.  Eine zufällige Begegnung mit einem historischen Bild zeigt, wie ein Foto und ein Buch zusammen eine ‘poetische-Erinnerung’ schaffen können.

Das Foto zeigt eine Bücherverbrennung. Die genaue Zeit und der Ort sind nicht bekannt, vermutet wird Salzburg 1942. Auffallend ist das jugendliche Alter der Beteiligten und das lächelnde Gesicht des Jungen links. Bei näherer Betrachtung fällt aber noch etwas anderes auf. Der Junge am rechten Bildrand hält ein Buch in der Hand. Obwohl es relativ viele Bilder von Bücherverbrennungen gibt, kann man auf diesen Bildern normalerweise nicht die Bücher erkennen, die verbrannt wurden. Aber hier ist der Einband des Buches ziemlich einzigartig, und wenn man ihn kennt, kann man ihn erkennen.

Zufälligerweise befindet sich dieses Buch (nicht genau dieses, aber ein identisches) im Altbestand unserer Bibliothek. Es wurde 1899 in Stuttgart gedruckt und trägt den gleichen auffälligen Jugendstil-Einband mit einem Harfe spielenden Engel. Es handelt sich um eine Sammlung von Werken des bereits erwähnten Heinrich Heine, von dem das berühmte Zitat über die Bücherverbrennung stammt. Heine wurde zu Lebzeiten von seinem Vaterland zensiert und verboten. Dasselbe Vaterland würde fast hundert Jahre später seine Bücher erneut zensieren und verbieten und sie schliesslich ins Feuer werfen.

Moritz Oppenheim – Bildnis Heinrich Heine


Und man stellt sich vor, wie dieses Buch ins Feuer geworfen wurde, die Blätter verbrannten und die Buchstaben in die Luft stiegen. Die Buchstaben von Heines Gedicht Edom:

Ein Jahrtausend schon und länger,
Dulden wir uns brüderlich,
Du, du duldest, daß ich atme,
Daß du rasest, dulde Ich.

Und in die Luft stiegen auch die wunderbaren Buchstaben, die seine Worte über das heiligste Buch der Juden bauten. Wie es den Brand des Tempels überlebte und zur Heimat der Juden wurde. Wie die Deutschen von dieser Rettung vor dem ersten Brand profitierten:

…denn die Juden, die dasselbe aus dem großen Brande des zweiten Tempels gerettet, und es im Exile gleichsam wie ein portatives Vaterland mit sich herumschleppten, das ganze Mittelalter hindurch, sie hielten diesen Schatz sorgsam verborgen in ihrem Ghetto, wo die deutschen Gelehrten, Vorgänger und Beginner der Reformation, hinschlichen um Hebräisch zu lernen, um den Schlüssel zu der Truhe zu gewinnen, welche den Schatz barg.
Holzschnitt von Heinz Kiwitz

Es ist falsch, Bücherverbrennungen als eine Angelegenheit der Vergangenheit zu betrachten. Auch heute noch werden Bücher verbrannt, auch wenn sie nicht physisch ins Feuer geworfen werden. Immer wieder hören wir, dass Bücher, die unbequeme historische Wahrheiten enthalten oder das Narrativ der Machthaber in Frage stellen, verboten und aus öffentlichen Bibliotheken und Schulen entfernt werden. Dies geschieht nicht nur in Diktaturen, sondern auch in Ländern, die wir für demokratisch halten. Diese Zensur ist meist vergeblich, und wie im Falle Heines, dessen Bücher zeitlebens und auch danach beschlagnahmt und verboten waren, werden sie weiterhin gelesen.
Die Buchstaben steigen in die Luft und erreichen schliesslich ihre Leserschaft.

Oded Fluss. Zürich. 10.5.2023.