Ein Blick zur Tür… Ein Windeswehn Lässt einen Flügel leise gehn. Wer tritt herein? O Gast, komm her, Dein Kelch ist voll, dein Platz ist leer. Verweile doch, Prophet Eliah! Dein Weg war weit, müd musst du sein. Verweile, trinkt von unserm Wein Und segne uns, Prophet Eliah!
Marek Scherlag – “Sedernacht im Ghetto”
“Elijahu ha-Nawi”. Aus “Olami Hakatan”. Warschau, 1936.
Obwohl sie in der Hauptgeschichte des Pessachfestes – dem Auszug der Israeliten aus Ägypten – keine Rolle spielt, ist eine bestimmte Figur dafür bekannt, uns während des Sederabends zu begleiten. Wir alle kennen die beiden Traditionen des Pessach-Seders, die mit dem Propheten Elija zu tun haben: Das Öffnen der Tür für Elija und das Hinterlassen eines gefüllten Weinbechers für den Propheten (auch bekannt als כוס אליהו “Elijaskelch”).
“Ich send’ euch Elija, den Propheten. Er wird das Herz der Väter zu den Kindern und das Herz der Kinder zu den Väter zurückwenden”. Aus der Offenbacher Haggada. Verlag des Herausgebers Siegfried Guggenheim. Offenbach am Main, 1927.
Diese Tradition ist so bekannt, dass zahlreiche chassidische und jüdische Volkserzählungen über den Propheten Elija vom Sederabend handeln. In diesen Erzählungen erscheint Elija meist unter einer geheimen Identität (normalerweise als armer Mann), der durch die offen gelassene Tür eintritt. Die Sedergäste wissen nicht, wer er ist, und erfahren es erst, nachdem er ein Wunder vollbracht hat und wieder verschwunden ist. Das Wunder, das er vollbringt, variiert in den Geschichten: Er schenkt einer unfruchtbaren Frau ein Kind, ermöglicht einer armen Familie, Pessach zu feiern, rettet eine jüdische Gemeinde vor einer Katastrophe usw. Siehe zum Beispiel die schöne Geschichte “Der Zauberkünstler” von J.L. Perez (Ost und West. April, 1905):
Es bleibt jedoch die Frage, warum der Prophet Elija in der Pessach-Tradition überhaupt vorkommt?
Aus der Offenbacher Haggada. Verlag des Herausgebers Siegfried Guggenheim. Offenbach am Main, 1927.
Um dieser Frage nachzugehen, sollten wir zunächst die beiden Überlieferungen, in denen der Prophet Elija vorkommt, voneinander trennen und mit der Überlieferung vom Elijaskelch כוס אליהו beginnen. Diese Tradition ist relativ spät entstanden und findet sich erst Ende des 18. Jahrhunderts, insbesondere in den jüdischen Gemeinden Osteuropas. Es ist Brauch, zu den vier Gläsern, die während des Seder getrunken werden, ein weiteres Glas Wein zu füllen und es dem Propheten Elias zum Trinken zu überlassen.
Elijaskelch – כוס אליהו
Wir kennen noch eine andere Tradition, die Elijah mit einbezieht, nämlich während der Brit Mila (Beschneidung) einen besonderen, ehrenvollen Stuhl für den Propheten Elijah vorzubereiten. Auf diesem Stuhl wird die Beschneidung vollzogen. Nach der Geschichte, die auch im Zohar erzählt wird, war Elija zornig darüber, dass das israelitische Volk unter König Ahab seinen Brit (Bund) mit Gott vergessen hatte. Gott versprach ihm daraufhin, dass er deshalb bei jeder folgenden Beschneidung anwesend sein solle. Aufgrund der Ähnlichkeit der Worte “Stuhl” und “Kelch” im hebräischen כסא / כוס (“Kise”, “Kos”) wird angenommen, dass die Überlieferung auf eine Verwechslung der beiden zurückgeht.
כסא אליהו Elija-Stuhl für die Beschneidung
Eine andere, wahrscheinlichere Erklärung ist ein halachischer Streit über die Anzahl der Gläser, die während des Pessach-Seders getrunken werden sollten. Während einige Quellen (z.B. die Mischna und Talmud Jeruschalmi) vorschlagen, vier Gläser zu trinken, schlagen andere vor, fünf zu trinken (z.B. Maimonides und Isaak Alfasi R”if). Da es keine gute Lösung gibt, wird das Problem mit dem zusätzlichen Kelch Elijas gelöst. Elija ist als Löser aller Zweifel und Streitigkeiten bekannt, und wenn er kommt, soll er neben allen anderen offenen Fragen auch die Frage nach der Anzahl der Weingläser an Pessach lösen.
Aus der Offenbacher Haggada. Verlag des Herausgebers Siegfried Guggenheim. Flushing N.Y, 1960. Q 155.
Die Tradition, die Tür für Elijah zu öffnen, basiert auf dem alten Brauch, die Türen während Pessach überhaupt nicht abzuschliessen, was als ליל שימורים “Lel Shimurim” (Nacht der Bewahrung) bekannt ist. Einer der Gründe für diesen Namen ist, dass das israelitische Volk in dieser Nacht vor allem Unheil bewahrt wird, genau wie in der Nacht der zehnten Plage.
“Jeder der hungrig ist, komme und esse; jeder der bedürftig ist, komme und feiere Pessach” Aus der Sarajevo Haggadah. D 7498.
Eine weitere alte Tradition, die Tür offen zu lassen, ist der Brauch der Gastfreundschaft am Pessach-Abend, wenn alle Armen am Seder-Abend aufgenommen und bewirtet werden sollen “כָּל דִכְפִין – יֵיתֵי וְיֵיכֹל, כָּל דִצְרִיךְ – יֵיתֵי וְיִפְסַח” (“Jeder der hungrig ist, komme und esse; jeder der bedürftig ist, komme und feiere Pessach”) . Manche führen auch das fünfte Glas auf diesen Grund zurück. Ein fünftes Glas wird für den Fall bereitgestellt, dass noch jemand kommt, und die Person sich willkommen fühlt, weil schon ein Glas auf sie wartet.
Moritz Oppenheim – Seder (der Oster-Abend). Bilder aus dem altjüdischen Familienleben. Q 220A.
Schon in der Zeit der Geonim wurde die Tradition des Türöffnens mit der Ankunft des Propheten Elija in Verbindung gebracht, nach dem Spruch von Chaza”l: “בְּנִיסָן נִגְאֲלוּ וּבְנִיסָן עֲתִידִין לִיגָּאֵל” (Im Monat Nisan sind sie erlöst worden, und im Monat Nisan sollen sie erlöst werden.). Der Prophet Elija spielt hier die Rolle des Verkünders der Erlösung (In vielen Traditionen wird der Prophet Elija als Vorläufer des Messias angesehen). Es ist anzunehmen, dass die volkstümliche Vorstellungskraft in der Türöffnung für Elija einen Weg sah, die Erlösung des jüdischen Volkes zu empfangen.
Nina Brodsky – Nissan. Aus “Jüdischer Kinderkalender 5689”. Jüdischer Verlag. Berlin, 1928/29. Z 16.
“Das Jugendbuch vom Stürmer-Verlag ‘Der Giftpilz’ gehört in die Hand eines jeden deutschen Jungen und Mädels. Aber auch die Erwachsenen sollen daraus lernen, weil sie um der deutschen Zukunft willen nicht müde werden dürfen, ihre Kinder immer wieder zu lehren: Der Jude ist der Satan in Menschengestalt, er ist die fleischgewordene Lüge. Wer in seine Krallen kommt, ist für sein Volk und für sich selbst verloren.” SS-Obergruppenführer Max Amann.
Die nationalsozialistische Propaganda war eines der Hauptinstrumente der NSDAP, um die Massen innerhalb und ausserhalb Deutschlands zu gewinnen und die Kontrolle über sie zu erlangen und aufrechtzuerhalten. Als solches war sie in den Jahren vor und während der Herrschaft Adolf Hitlers über Deutschland in fast jedem Aspekt des täglichen Lebens präsent, sei es durch traditionelle Methoden wie Massenversammlungen, Reden und Zeitungen oder sei es durch moderne, für ihre Zeit fortschrittliche Methoden wie Radio, Film und Fernsehen. Ziel der Propaganda war es, alle Menschen anzusprechen und dabei den kleinsten gemeinsamen Nenner der Angst zu nutzen.
Die Propaganda machte auch vor den Kindern nicht halt und begann bereits in den Kindergärten und Schulen mit speziell entwickelten nationalsozialistischen Erziehungsprogrammen die nationalsozialistische Ideologie und das nationalsozialistische Gedankengut des Nationalsozialismus so früh wie möglich umzusetzen. Begleitet wurden diese Programme von Lesestoff, der die Hauptideen der NSDAP, vor allem die Verherrlichung des Führers sowie antisemitische Überzeugungen, vermittelte. Das Lesematerial wurde sorgfältig auf Kinder zugeschnitten, indem bunte Bilder und bekannte Kindermärchen verwendet wurden, um die Botschaft zu verbreiten.
Der “Giftschrank” in der ICZ-Bibliothek
Im “Giftschrank” unserer Bibliothek befinden sich zwei dieser antisemitischen Kinderbücher, die beide im berüchtigten Verlag Der Stürmer erschienen sind, der von einem der obersten Propagandisten der NSDAP, Julius Streicher, geleitet wurde. Streicher, der auch Gründer, Eigentümer und Herausgeber des antisemitischen, politpornografischen Hetzblattes Der Stürmer war, hatte grossen Einfluss auf die beiden Bücher – wie man unschwer an der grafischen Gestaltung erkennen kann, die seiner Zeitung sehr ähnelt – sowie an seiner Figur in diesen Büchern.
“Das ist der Streicher!” Aus Trau keinem Fuchs auf grüner Heid, und keinem Jud bei seinem Eid
Das erste Buch, das wir uns anschauen werden, ist das Buch mit dem langen Titel Trau keinem Fuchs auf grüner Heid, und keinem Jud bei seinem Eid. Es ist das erste von drei Kinderbüchern, die im Stürmer Verlag erschienen sind. Es wurde 1936 in Nürnberg gedruckt und von der damals 18-jährigen Elvira Bauer geschrieben und illustriert. Die etwas merkwürdige Schrift, in der es gedruckt wurde, ist die Sütterlinschrift, die damals als Schreibschrift für Anfänger galt und in Schulen verwendet wurde, um jungen Schülern das Schreiben beizubringen.
Trau keinem Fuchs auf grüner Heid, und keinem Jud bei seinem Eid – Ein Bilderbuch für Gross und Klein von Elvira Bauer. Der Stürmer Verlag, Nürnberg, 1936.
Schon am Einband und am Titel erkennt man die schwerwiegenden antisemitischen Motive, die in der Verkleidung eines bunten Kinderbuches zum Ausdruck kommen. Die Figur des Fuchses, der in Kindermärchen häufig als Symbol für das Gerissene und Verschlagene verwendet wird, wird hier mit dem Juden in Verbindung gebracht, der in ähnlicher Weise betrachtet werden sollte. Der Jude auf dem Einband hat die gleichen ‘stürmerischen’ Motive, die Streicher oft in seiner Zeitung verwendete (hässlich, kahlköpfig mit einer langen, krummen Nase). Er hebt seine Finger wie zum Eid.
Elvira Bauer – aus Der Stürmer, Heft 51, 1936.
Die unschuldig wirkende Autorin, die zu allem Überfluss auch noch als Kindergärtnerin gearbeitet hat, verliert keine Zeit und schon auf der ersten Seite des Buches begegnen wir einem schrecklichen “Kindergedicht” mit dem Titel “Der Vater des Juden ist der Teufel”. Wir werden nur einen kleinen Teil dieses sogenannten Gedichtes abschreiben, um einen kleinen bitteren Vorgeschmack zu geben:
Als Gott, der Herr, Die Welt gemacht, Hat er die Rassen sich erdacht: Indianer, Neger und Chinesen, Und Juden auch, die bösen Wesen.
Obwohl sich das Buch an Kinder wendet, bedient es die schlimmsten antisemitischen Klischees auf abscheulichste grafische, manchmal sogar pornographische Weise. Der Jude wird immer als hässlich, schmutzig, manipulativ, böse, faul und geizig dargestellt, im Gegensatz zum “Arier”, der immer schön, moralisch, sauber, fleissig und oft naiv ist. Der wahre Gott des Juden ist das Geld, und der Sabbat ist für ihn nur ein Vorwand, um die “Gojim” seine Arbeit machen zu lassen. Der Jude wird auch als derjenige dargestellt, der “reindeutsche” Frauen stehlen will.
Was ist der Jud ein armer Wicht! Mag seine eigenen Frauen nicht! Er meint, er sei entsetzlich schlau Wenn er sich stiehlt ‘ne deutsche Frau
Das vielleicht Schrecklichste an diesem Buch ist, dass es den Kindern Angst vor ihren Mitmenschen einimpft. Die jungen Leser lernen aus diesem Buch, dass ihre jüdischen Freunde, Nachbarn und Klassenkameraden böse Wesen sind, die sich als ihre Mitmenschen tarnen. Sie können sich als Deutsche ausgeben, indem sie ihren Namen ändern; ihre Eltern können in die deutsche Kultur und in deutsche Berufe einsteigen; sie können sich sogar taufen lassen, aber sie werden immer Juden bleiben. Ihr einziges Ziel ist es, die “reinen” arischen Deutschen auszunutzen, ihnen zu schaden und von ihnen zu profitieren.
Damit den Jud man soll nicht kennen, Tat bald er anders sich benennen. Ein Nathan heisst bald Jonathan. Herr Levin hängt ein “son” sich dran.
Das Buch steigert sich zu einem sogenannten Happy End: Mit Hilfe von Stürmer und Streicher begreifen die Deutschen endlich die Gefahr, die von den Juden ausgeht. Sie verkehren nicht mehr mit Juden, stellen sie nicht mehr ein und kaufen nicht mehr in ihren Geschäften. Das Buch endet mit einer alptraumhaften Utopie, in der alle Juden – Männer, Frauen und Kinder – aus Deutschland vertrieben werden.
Im fernen Süden liegt das Land Wo einst der Juden Wiege stand. Dorthin soll’ n sie mit Frau und Kind So schnell wie sie gekommen sind!- Seht an das jammervolle Bild! Die Juden garstig frech und wild: Den Abraham, den Levinson Rebekkchen mit Sohn Jonathan, Dann Simon und auch Aaron Kahn- Wie sie die Augen rollen Und sich von dannen trollen.
Ein weiteres schreckliches Beispiel dieser Kinderbüchern, welches sich in unserem Giftschrank befindet, ist das zwei Jahre später ebenfalls im Stürmer Verlag erschienene Buch Der Giftpilz.
Ernst Hiemer – Der Giftpilz. Stürmer Verlag. Nürnberg, 1938. Bilder von Fips (Philipp Rupprecht).
Im Gegensatz zum letzten Buch, das wir besprochen haben und dessen Texte bewusst kindlich und in Form von eingängigen Liedern gestaltet waren, präsentiert sich dieses Buch pädagogischer und seriöser. Das erste Kapitel, das die Moral des ganzen Buches erklärt, wird in Form einer Fabel erzählt: Eine Mutter und ihr Sohn sind im Wald auf der Suche nach Pilzen, der Sohn stolpert über einen unschuldig aussehenden Pilz und pflückt ihn. Die Mutter ist jedoch entsetzt und erkennt sofort, dass es sich um einen giftigen Pilz handelt. Die Moral der Fabel lautet “Wie die Giftpilze oft schwer von den guten Pilzen zu unterscheiden sind, so ist es oft sehr schwer, die Juden als Gauner und Verbrecher zu erkennen…”.
Das Buch stützt seine antisemitischen Angriffe auf das äussere Erscheinungsbild sowie auf religiöse, ethische und moralische Werte. Es gibt Kapitel, die zeigen, wie Kinder im Unterricht über “die Juden” lernen, dass Juden krumme Nasen haben (“Sie sieht aus wie ein Sechser…”), dass sie schmutzig sind, dass ihre Körper von Lügen verseucht sind und dass sie abstehende Ohren haben. Die Vorstellung, dass das äussere Erscheinungsbild eines Menschen seine inneren Qualitäten widerspiegelt, wird oft in Märchen unterstrichen, in denen Prinzessinnen als schön, gut und freundlich dargestellt werden, während böse Stiefmütter und Hexen meist als hässlich, böse und grausam beschrieben werden.
In den folgenden Kapiteln werden die Juden angegriffen, indem ein verzerrtes Bild des Talmuds gezeichnet und der moralische Kern der jüdischen Gesellschaft angegriffen wird. Es gibt zum Beispiel ein Kapitel, in dem ein jüdischer Junge, Sally, den Talmud für seine Bar Mitzwa lernt. Sein Rabbi fragt ihn nach Sprichwörtern, die er von “Nichtjuden” gehört hat, und Sally nennt ihm zum Beispiel das Sprichwort “Arbeit schändet nicht”. Und was bedeutet dieses Sprichwort? fragt der Rabbi, “dass es keine Schande ist, wenn man arbeiten muss”. Glauben wir Juden das auch? fragt der Rabbi weiter, “Nein, das glauben wir nicht! In unserem Gesetzbuch Talmud steht geschrieben: ‘Die Arbeit ist viel schändlich und wenig zuträglich […] Die Nichtjuden sind erschaffen den Juden zu dienen. Sie müssen pflügen, säen, jäten, graben mähen, binden, sieben, mahlen. Die Juden sind erschaffen, das alles vorbereitet zu finden”. Es soll also damit gezeigt werden, dass der Talmud die Versklavung der Deutschen befürworte.
Gemäss Der Giftpilz befürwortet der jüdische Moralkodex auch eine Liste von Vergehen: von Schmuggel, Diebstahl, Betrug bis hin zum Meineid wird alles als erlaubt dargestellt, solange das Ziel des Vergehens nicht selbst Jude ist. Immer wieder wird der moralisch aufrechte Deutsche dem dekadenten Juden gegenübergestellt. Dem Juden gehe es nur darum, auf Kosten der Deutschen immer mehr Geld zu machen. Er würde alles tun, nur nicht arbeiten, um mehr Geld zu verdienen, und er würde seine deutschen Nachbarn betrügen und ihr hart verdientes Geld stehlen.
Das letzte Kapitel verherrlicht die Hitlerjugend und ermuntert die Jugendlichen, dieser Organisation beizutreten. Es endet mit einer kurzen Erinnerung an die Worte Julius Streichers: “Ohne Lösung der Judenfrage keine Erlösung der Menschheit!” Worte, die in Streichers “Der Stürmer” häufig verwendet wurden und mehr als nur eine Anspielung auf die bald darauf folgende sogenannte “Endlösung der Judenfrage” sind.
Eine Anzeige für das Buch “Der Giftpilz” in “Der Stürmer” 1938
Diese beiden Bücher, so schwer sie auch zu lesen und zu verdauen sind, sind wichtige Zeitdokumente, die die grausame Propaganda der Nationalsozialisten zeigen, die selbst vor kleinen Kindern nicht zurückschreckte. Beide Bücher waren sehr beliebt und wurden von Tausenden von Schülern in Deutschland vor und während der schrecklichen Zeit des Holocaust gelesen. Die Entmenschlichung des jüdischen Volkes, seine Darstellung als böses Wesen, das sich Deutschland unter den Nagel reissen wollte, war eine organisierte, durchdachte und perfide Einschüchterungstaktik, die auf die empfänglichen und beeinflussbaren Gemüter der Jugendlichen am besten wirkte. Diese Kinderbücher zeigen auch, dass Rassenvorurteile weder angeboren noch instinktiv sind. Sie werden vielmehr sorgfältig eingeflösst, gelehrt und durch diese ausgearbeiteten pädagogischen Mittel aufgebaut.
Edward Horowitz – Sippurim Kallim. Illustriert von Alter David Bernstein. Hebrew Publishing Company. New York, 1942. H 684
In unserer Bibliothek befinden sich zahlreiche Bücher, die dem Erlernen der hebräischen Sprache dienen. Einige dieser Bücher konzentrieren sich auf das hebräische Alphabet, andere auf die Grammatik, wieder andere auf den Wortschatz und eine vierte Gruppe richtet sich an Personen, die bereits auf einem elementaren Niveau lesen können. Diese letzte Gruppe von Büchern richtet sich normalerweise an Kinder und enthält in der Regel bekannte Geschichten in einfacher Sprache, anhand derer die Anfängerin ihre Sprachkenntnisse üben kann.
Edward Horowitz (1904-1986)
Eines dieser Bücher “Sippurim Kallim” wurde 1942 in New York veröffentlicht und erweist sich als ein spannendes historisches Dokument. Das Buch, dessen Titel wörtlich übersetzt “einfache Geschichten” bedeutet und für Lehrer/innen der hebräischen Sprache gedacht war, wird von seinem Autor Edward Horowitz beschrieben als:
Eine Sammlung hebräischer Geschichten, die innerhalb der Grenzen eines Wortschatzes von ein paar hundert Wörtern geschrieben wurden.
Das Besondere an diesen Geschichten ist jedoch, dass:
…sie grösstenteils auf wenig bekannten historischen Ereignissen beruhen. Einige wurden durch Artikel in amerikanischen und palästinensischen Zeitungen angeregt; andere wurden von Flüchtlingen erzählt.
Das Buch wurde zwischen 1940 und 1942, in der kritischen Zeit des Holocaust, geschrieben und bringt die ersten Zeugnisse dieser Jahre in einem Buch in einfacher Sprache zusammen. Geschichten von Kindern, die ihren Eltern entrissen wurden, von Familien, die ihr gesamtes Hab und Gut verloren haben, und natürlich von den ständigen Grausamkeiten und Misshandlungen, denen die Juden auf den Strassen Europas ausgesetzt waren. In fast jeder dieser Geschichten wird Hitler erwähnt, und viele beginnen mit “in den Jahren vor Hitler” oder “viele Jahre vor Hitler”.
“Die Kinder versammelten sich im Zimmer der Brüder” aus der Geschichte ” Sklaven waren wir des Pharaos in Ägypten”.
In der Geschichte “Sklaven waren wir des Pharaos in Ägypten” sind drei Kinder gezwungen, das Pessachfest ohne ihre Eltern zu feiern, die in Konzentrationslagern inhaftiert sind. Die kleine Schwester stellt die vier Pessach-Kuschiot (Fragen) und fragt weiter, wo ihre Mutter und ihr Vater sind. Der ältere Bruder antwortet ihr, dass “die Juden vor vielen Jahren Sklaven des Pharao in Ägypten waren und jetzt Sklaven von Hitler in Deutschland sind, aber so wie die Juden sich von Pharao befreit haben, werden sie sich auch von Hitler befreien”.
“Sie verliessen das Haus und gingen in den grossen Wald” aus der Geschichte “Das Visum”.
In “Das Visum” erzählt eine Frau von ihrem Cousin Sigmund, der eines Tages an ihre Tür klopfte und ihr sagte, dass ein Nazi-Offizier nach ihm suchte. Sigmund war ein sehr erfolgreicher Kaufmann in Hamburg, und dieser Nazi hatte Waren von ihm bekommen und nie bezahlt, und nun jage er ihn, um ihn zu töten. Die Frau besorgte ihrem Cousin ein gefälschtes Visum für Belgien, und die Geschichte fährt fort, Sigmunds schreckliche Reise durch den Schwarzwald zu beschreiben, um sich in Sicherheit zu bringen. Die Geschichte endet damit, dass die Frau die Regierung der Vereinigten Staaten anfleht, ihm Schutz zu gewähren, bevor die Nazis ihn gefangen nehmen. Sigmund Klein wird nun in der schwarzen Liste der Nazis geführt.
Erste Seite der Geschichte “Die Bücherverbrennung”.
Eine sehr moralische Geschichte mit dem Titel “Die Bücherverbrennung” beschreibt eine Gruppe jüdischer Kinder in Jerusalem, die von ihren Lehrern, die “immer noch die deutsche Sprache verehren”, gezwungen werden, in der Schule nur Deutsch zu lesen und zu sprechen. Die Kinder beschliessen, sich dagegen aufzulehnen, und verbrennen alle deutschen Bücher in einem grossen Feuer. Diese Geschichte, die uns zweifellos an die Bücherverbrennung von 1933 in Deutschland erinnert, bei der Millionen von jüdischen Büchern verbrannt wurden. Der Protagonist, Ehud ben Yehuda (der Sohn vom Erneuer der hebräischen Sprache Eliezer ben Yehuda ), sagt uns am Ende, es sei zwar richtig, für unsere Sprache zu kämpfen, es sei aber immer falsch, Bücher zu verbrennen.
“Die Kühe kamen nach Givat Brenner” aus der Geschichte “Vierzig Kühe”.
Viele der Geschichten haben ein glückliches Ende, was in der Regel bedeutet, dass die Person Erez Israel, die Vereinigten Staaten oder England erreicht. In der Geschichte “Vierzig Kühe” geht es um eine reiche, deutsche Jüdin, die den Chaluzim in Givat Brenner 40 Kühe spendete. 20 Jahre später wird sie aus Deutschland vertrieben und ihres gesamten Besitzes beraubt. Sie kommt nach Israel und erfährt, dass man sich wegen ihrer grosszügigen Spende noch an sie erinnert, und sie erhält ein Haus in Givat Brenner.
“Das habe ich nicht getan!” aus der Geschichte “Kapitän Alfred Dreyfus”.
Das Buch berichtet über die ersten Erfahrungen der Flüchtlinge, gibt aber auch Einblicke in die seelische Verfassung der Menschen, die damals Hebräisch lernen wollten. Was waren ihre Ängste, ihre Hoffnungen, was begleitete sie in ihrem Alltag? Die Bilder – wunderbar illustriert vom “Jerusalemer Maler” Alter David Bernstein – vermögen auch dies einzufangen. Das Buch trägt den Titel “Sippurim Kallim“, “einfache Geschichten”, was natürlich die Einfachheit der Sprache des Buches beschreiben soll. Aber wenn man den Inhalt des Buches liest, bekommt der Name eine etwas ironische Bedeutung.
“Seit meiner Bar Mitzwa lebe ich in ständiger Frage an das Gesetz.”
Am 25. Februar 1936, kurz bevor er mit seiner Familie nach Zürich zog, wo sein Vater Rabbiner der Israelitischen Cultusgemeinde werden sollte, hatte Jacob Taubes seinen 13. Geburtstag gefeiert. Der Sohn des bekannten und angesehenen Rabbiners Zwi Taubes galt bereits als Wunderkind und seine Bar Mitzwa am Samstag, den 7. März war ein grosses Ereignis für die örtlichen jüdischen Gemeinden. Die lokalen jüdischen Zeitungen waren voll von Anzeigen, die das Ereignis ankündigten, und die glücklichen Eltern hatten eine offene Einladung an den Ort der Feier, den Pazmanitentempel, ausgesprochen, wo sie jeden willkommen hiessen, der ihren geliebten Sohn bewundern wollte.
ICZ Bibliothek: HB 143
Für Jakob selbst war die Bar Mitzwa sogar noch wichtiger. Der junge Mann, Spross einer bedeutenden rabbinisch-chassidischen Familie, hatte gerade sein erstes Buch fertiggestellt: einen wissenschaftlichen Vortrag über den Segen der Tefillin (Gebetsriemen). Das auf Hebräisch verfasste Buch war seinen berühmten Vorfahren auf beiden Seiten der Familie gewidmet und enthielt eine kleine Einleitung in Form eines Briefes von seinem Vater. Dieser Brief, der auch von seinem Vater anlässlich der Bar-Mitzwa vorgelesen wurde, sollte sowohl die Bindung zwischen Vater und Sohn als auch die Bindung zwischen dem jüdischen Volk und Gott, deren Symbol, die Tefillin, das Thema von Jakobs Buch war, betonen. Die Bar-Mitzwa-Zeremonie sollte gleichzeitig die Übergabe der Fackel vom Vater an den Sohn und von einem jüdischen Gemeindeleiter an seinen Nachfolger symbolisieren:
Mein geliebter Sohn,
Ich wusste, mein Sohn, dass auf mir die Pflicht lastete, den Weg zu ebnen, den du im Studium der Tora beschreiten würdest […] So gut ich konnte und solange ich nicht daran gehindert wurde, habe ich mich bemüht, diese heilige Pflicht zu erfüllen, denn nur durch die Erfüllung der Mitzwot [Pflichten] Talmud-Tora würde die Tora von Moses an Kehilat Jacob [das jüdische Volk] weitergegeben werden. Und auf uns lastet diese Pflicht noch mehr, denn die Tora sucht die Orte auf, die sie zuvor besucht hat, und du, mein geliebter Sohn, bist der Sohn eines angesehenen Geschlechts, aus dem viele Genies und Heilige hervorgegangen sind, von denen einige die mündliche Tora errichteten […] Und ich bete, dass auch du dich zu den Erbauern gesellst und die Tradition deiner Väter fortsetzt, und dass gute und hohe Kräfte in dir offenbart werden und du einen Garten auf dem Feld der Tora anlegst. Ich habe dich ein Kapitel im Studium der Halacha gelehrt, und ich habe gesehen, dass du hörst und zuhörst und eine Sache aus einer anderen verstehst, und es liegt in deiner Fähigkeit, die Worte der Alten sowohl zu interpretieren als auch zu erforschen. Und die Tefillin sind nicht nur ein Zeichen und ein Symbol unserer Kommunikation mit dem lebendigen Gott durch die lebendige Tora, sondern sie sind auch eine Krone der Tora, die jeder tragen kann, ganz zu schweigen von jemandem, der ein Glied in einer langen Kette von Genies und Rabbinern ist. Deshalb habe ich dich erweckt, damit du den ersten Samen in den Boden unserer Literatur pflanzt, wenn du kommst und zum ersten Mal die Last der göttlichen Pflicht auf dich nimmst. Und deine Mutter Feiga – möge sie leben – die gelehrt ist und unsere Lehrer schätzt, bemüht sich mit all ihrer Kraft, in dir den Samen der Leidenschaft und des Willens für Talmud-Tora und für gute Taten zu säen, und was mein und was dein ist – das ist ihres. Und ich bete, dass du zu denen gehörst, die die Tora aufbauen, und dass deine Taten dich ihr näher bringen, und dass du zu denen gehörst, die unser Heiliges Land erlösen werden, und dass wir es dank dir werden betreten können.
Dein Vater, dessen Seele mit deiner verbunden ist, Chaim Zwi Taubes Wien, Adar, 5696.
Die Bar Mitzwa war ein grosser Erfolg. Ein ziemlich langer Artikel, der am 13. März 1936 in der Wiener Zeitung Die Wahrheit erschien, gibt uns einen seltenen Einblick in die Ereignisse während und nach der Bar Mitzwa. Alle, die etwas auf sich hielten, waren an diesem Samstag in die Synagoge gekommen, von den Freunden der Familie über wichtige politische Persönlichkeiten bis hin zu bekannten Rabbinern. Jakob trug seine Lesung mit grosser Verständlichkeit und Schönheit vor und las anschliessend aus seinem gerade erschienenen Buch, das den Gästen als Geschenk überreicht wurde. Am darauffolgenden Sonntag empfingen Rabbiner Taubes und seine Frau die Gäste in ihrem Haus, wo Jacob erneut aus seinem Buch vorlas und von den Gästen mit grossem Beifall bedacht wurde.
Neben dem Buch, das Jacob Taubes zu seiner Bar Mitzwa schrieb, befindet sich in unserer Bibliothek noch ein weiteres seltenes Erinnerungsstück: Ein wunderschönes Buch, von dem wir durch einen Aufkleber wissen, dass es in der Josef Belf Verlags- u. Sortimentsbuchhandlung in Wien gekauft wurde, trägt im Inneren eine besondere hebräische Widmung:
מתנה להבחור היקר נטע יעקב טויבעס שליט”א ליום חגיגת הבר מצוה בפורים תרצ”ו מאוהבך ודוש”ט דר’ מ. ג. מעהרער
Ein Geschenk für den lieben Jüngling Netta Jacob Taubes, möge er lange und gut leben, zu seiner Bar Mitzwa am Purimfeste 1936. Von dem, der dich liebt und dir das Beste wünscht, Dr. M. G. Mehrer
ICZ-Bibliothek: D 7506
Dr. M. G. Mehrer ist kein anderer als Rabbiner Dr. Meier Gabriel Mehrer (1876-1948). Geboren in Lemberg war er ab 1912 Rabbiner in Krems, Horn (bis 1919) und Waidhofen an der Thaya, und ab 1922 Rabbiner in Wien Margareten. Nachdem Mehrer im Zuge des Novemberpogroms 1938 verhaftet worden war, gelang ihm Anfang 1940 gemeinsam mit seiner Frau Retta die Flucht in die USA. Er war ein sehr bekannter und wichtiger Rabbiner in Wien und dank dieses Dokuments wissen wir, dass er an Taubes’ Bar Mitzwa teilgenommen hat.
Noch im Jahr der Bar Mitzwa zog die gesamte Familie Taubes nach Zürich. Sein Vater, Rabbi Zwi Taubes, ist hier nicht nur für sein originelles Denken, sondern auch für seinen Mut und seinen Widerstand gegen die Nazis und seine Hilfe für jüdische Flüchtlinge bekannt. Er war die erste offizielle jüdische Persönlichkeit, die David Frankfurter im Gefängnis besuchte, und ihm wurde sogar die zweifelhafte Ehre zuteil, mit Foto in der Nazizeitung Der Stürmer in einem Artikel mit dem “schönen” Titel “Zürich erhält einen neuen Zauber-Rabbi” zu erscheinen .
Im Zürich der 1940er Jahre trafen sich einige der bedeutendsten Denker des 20. Jahrhunderts, und hier wurde Jacob Taubes einzigartiges und originelles Denken geformt. Er war Schüler und enger Gefährte sowohl des zionistischen Rabbiners Eliyahu Botschko als auch der antizionistischen Rabbiner Moshe Soloveitchik und Joel Teitelbaum (dem Satmar-Rabbiner), er besuchte Vorlesungen und führte Gespräche mit dem jüdischen Mystiker Oscar Goldberg und lernte durch seinen Vater die Leitfigur des liberalen Judentums Rabbiner Leo Baeck kennen. Taubes beschränkte sich jedoch nicht nur auf jüdisches Denken, sondern studierte zusammen mit einigen der bedeutendsten christlichen Denker seiner Zeit: Hans Urs von Balthasar, Karl Barth und Emil Brunner, um nur einige zu nennen. Er wusste, wie mit all diesen Extremen umzugehen und entwickelte sich zu einem der originellsten und umstrittensten Denker der jüdischen Philosophie und Religionssoziologie im 20. Jahrhundert, der die Gedanken von Marx und Paulus mit denen von Carl Schmitt zu einem Konzept einer theologischen Politik verband.
ICZ-Bibliothek: D 2562
Zürich war auch der Ort, an dem Jacob Taubes seine einzigartige und erfolgreiche akademische Karriere begann. Hier schrieb er 1947 sein erfolgreichstes (und fast einziges) Buch Abendländische Eschatologie, das ihn über Nacht weltberühmt machte und seine ungewöhnliche, bisweilen esoterische Denkweise demonstrierte.
Dennoch war es seine Bar Mitzwa und die Parascha, die er lesen sollte, die Jacob Taubes als Auslöser für sein radikales Denken und den Wendepunkt in seinem Leben ansah. Der Samstag vor Purim ist bekannt als שבת זכור Schabbat Zekhor (Samstag des Gedenkens). Es ist eine von vier besonderen Paraschot, die zusätzlich zu den normalen wöchentlichen Abschnitten der Bibel gelesen werden. Es handelt sich um die Verpflichtung, der Taten Amalek gegen das Volk Israel zu gedenken (“Gedenke, was dir Amalek getan”), und um das Versprechen, das Gedächtnis Amalek von der Erde zu tilgen (“sollst du auslöschen das Gedächtnis Amaleks unter dem Himmel”). Die Parascha wird absichtlich vor Purim gelesen, um eine Verbindung zwischen Amalek und Haman herzustellen, der als Spross von Amalek angesehen wird.
Für Jakob Taubes war es mehr als nur ein Zufall, dass er an seiner Bar Mitzwa genau diese Parascha lesen sollte. Er hatte eine grosse Bedeutung hinter dieser Parascha gesehen und war davon erschüttert. Was ihn am meisten beunruhigte, war die direkte Verbindung zwischen den biblischen Feinden des israelischen Volkes (Amalek) und den späteren Feinden Israels aus der Esther-Megilla (Haman). Das Gebot, alle Feinde Israels zu vernichten, weil sie als Samen der Amalekiter anzusehen seien, hat Taubes’ theologisch-politisches Denken geprägt, und er weigerte sich, es zu akzeptieren. In seinen eigenen Worten begann hier sein “Zweifel am Gesetz”. In einem Brief, den er Anfang der 1950er Jahre an seinen Freund Hugo Bergmann schrieb und der in der israelischen Nationalbibliothek zu finden ist, schreibt Taubes:
Ich weiss nicht, ob ich Ihnen je erzählt habe, dass meine “Parsche” gerade פרשת זכור [Paraschat Zekhor] ist – ich bin darüber nicht hinweg-gekommen. Es hat tief meinen Zweifel am Gesetz bestimmt. Seit meiner Bar Mitzwa lebe ich in ständiger Frage an das Gesetz. Sie können sagen, es ist ein Zufall; gut: Dies Los ist mir zugefallen, ich will ihm nicht ausweichen.
NLI: ARC.4* 1502 09 272
Jacob Taubes’ Bar Mitzwa ist auch der Ausgangspunkt der neuen und faszinierenden Biographie “Professor der Apokalypse : die vielen Leben des Jacob Taubes” (Suhrkamp/Jüdischer Verlag) von Professor Jerry Z. Muller, die Ende letzten Jahres erschienen ist. Die Biographie beschreibt zum ersten Mal Taubes’ fesselndes und rätselhaftes Leben vom Vorkriegs-Wien über Zürich, Israel, New York bis ins Berlin des Kalten Krieges. Sein Weg vom Wunderkind, Sohn eines Rabbiners, über seinen Kampf mit seiner bipolaren Störung, sein fragwürdiges Verhältnis zu Frauen, sein Wandern zwischen Judentum und Christentum, Links und Rechts, Frömmigkeit und Übertretung, bis hin zu seinen Interaktionen und seinem Einfluss auf viele der grossen Geister seiner Zeit, von Leo Strauss und Gershom Scholem bis zu Herbert Marcuse, Susan Sontag und Carl Schmitt.
ICZ-Bibliothek: D 41035
Wir freuen uns, Professor Muller in unserem Gemeindehaus begrüssen zu dürfen. Zusammen mit einigen Verwandten von Jacob Taubes (Madeleine Dreyfus, Liliane Isaak-Dreyfus und Susanne Scheiner), die Mitglieder unserer Gemeinde sind, werden wir am Sonntag, den 26.2.2023 um 16.00 Uhr in einer von Omanut organisierten Veranstaltung über die Geschichte der Familie Taubes sprechen und viele andere interessante Gegenstände und Aspekte aus dem Leben von Jacob Taubes zeigen:
והארץ לא תמכר לצמתת כי לי הארץ (ויקרא כה, כג) Und das Land sollst du nicht für immer verkaufen; denn mein ist das Land (Levitikus 25,23). Übersetzt von Martin Buber.
Martin Buber (1878-1965)
Am 8. Februar jährte sich zum 145. Mal der Geburtstag des grossen jüdischen Denkers Martin Buber. In einem kurzen Text zu seinen Ehren widmen wir uns heute seinem Exlibris, das noch immer in der Vitrine unserer Bibliothek zu finden ist.1. Es ist ein Werk des berühmten jüdischen Künstlers Ephraim Moses Lilien (1874-1925), den Buber sehr bewunderte und über den er auch schrieb.
Das Ex-Libris wurde Anfang des 20. Jahrhunderts angefertigt und zeigt eine Miniatur der Stadt Jerusalem, die von einer Mauer in Form eines Davidsterns umgeben ist. Bubers Name steht in Deutsch und Hebräisch (auf Hebräisch: Mordechai ha-Levi Buber), und darüber ein Zitat aus Levitikus 25,23, das Buber selbst ins Deutsche übersetzt hat: “Mein ist das Land” (כי לי הארץ). 2
Gründungsmitglieder des Jüdischen Verlags. Ganz links stehend: Ephraim Lilien. Ganz rechts sitzend: Martin Buber. Berlin, 1902.
Dieses Zitat ist sehr ungewöhnlich in der Welt der Ex-Libris, die sich normalerweise auf Worte über die Liebe zu Büchern oder den Besitz von Büchern beschränken (“Dieses Buch gehört mir” ist ein sehr häufiger Ausdruck). Man könnte dieses Zitat auf Bubers zionistische Bestrebungen zurückführen, es könnte aber auch einen anderen Grund geben, der mit seiner talmudischen Erziehung zusammenhängt. In vielen alten Gebetbüchern unserer Bibliothek finden wir auf dem Innerseite des Vorderdeckels die Inschrift לה’ הארץ ומלואה “Gott gehört die Erde und was sie erfüllt”(Psalmen 24,1) und danach den Namen des Buchbesitzers. Da es in früheren Zeiten nicht erlaubt war, Eigentumsrechte an heiligen Büchern geltend zu machen, diente dies als Ausweg.
Eine alte Besitzhandschrift, die in einem der Bücher der Breslauer Sammlung gefunden wurde: [Gott gehört die Erde und was sie erfüllt und er hat mich auch mit der Fähigkeit beschenkt, dieses Buch an andere zu verleihen. Der junge Yekutiel Salman Poznan] לה’ הארץ ומלואה וזה אשר חנן לי להשאיל לאחרים. הצעיר יקותיאל זלמן פוזנן.
Das Zitat “Mein ist das Land” funktioniert hier auch als Hinweis darauf, dass Gott die Erde und alles, was darin ist, gehört und dass die Menschen nur Gäste oder Durchreisende sind, die niemals als Eigentümer von irgendetwas betrachtet werden sollten. Wie Buber selbst in seinem Buch Der heilige Weg; ein Wort an die Juden und an die Völker schreibt:
“Und das Land sollst du nicht für immer verkaufen; denn mein ist das Land; denn Fremdlinge und Gäste seid ihr bei mir” Dieser einem Griechen unfaßbare Gedanke Gottes als des einzigen Eigentümers alles Bodens ist der Grundstein der jüdischen sozialen Konzeption; ihr entspricht in der politischen Sphäre die Idee der Gottesherrschaft, der Gedanke Gottes als des alleinigen Herrschers des Gemeinwesend.
Die Gleichsetzung des Buches mit dem Heiligen Land, wie sie in Bubers Ex-Libris sowohl in der Darstellung Jerusalems als auch im Zitat aus dem Buch Levitikus zum Ausdruck kommt, ist für die damalige Zeit nicht ungewöhnlich (man erinnere sich vielleicht an Heines Vorstellung vom jüdischen Buch als tragbarem/ “portativem Vaterland”). Vermutlich spielte das Exlibris für Buber sowohl die übliche Rolle des Besitzanspruchs als auch die des Glaubens und der Anerkennung Gottes als den wahren Eigentümer von allem.
Jeder Jude stiftet einen oder mehrere Bäume. Zehn Millionen Bäume!
Für die Juden, die in der Diaspora leben, ist Tu biSchevat ein etwas unpassender Feiertag. Auch bekannt als das neue Jahr der Bäume, verkündet dieser Feiertag das Ende der Regenzeit und die ideale Zeit, um mit dem Pflanzen zu beginnen. Das mag in Israel so sein, nicht aber in der Schweiz und anderen Ländern, wo der Feiertag, der im bürgerlichen Kalender normalerweise zwischen Ende Januar und Anfang Februar liegt, meist von starkem Regen und Schnee begleitet wird.
Vor der Gründung Israels spielte der Feiertag jedoch eine wichtige Rolle im Denken der Zionisten. Tu biSchewat symbolisierte die untrennbare Verbindung zwischen ihnen und dem Land Zion, und indem sie ihn feierten, zeigten sie, dass ihre zionistischen Bestrebungen sogar die Jahreszeiten überwinden konnten. Die Idee, einen Baum in Palästina zu pflanzen, auch wenn man nicht vor Ort war, hatte die Herzen vieler Zionisten erobert und die Spende für einen Baum, der dort gepflanzt werden sollte, war eine der häufigsten Spendenarten für den KKL und andere zionistische Einrichtungen.
Die Baumspende des Keren Kajemeth Lejisrael. Hg von Hauptbüro des KKL. Jerusalem, 1924.
Einer der grössten Inspiratoren für die Idee der Baumspende war Theodor Herzl, der Gründer der zionistischen Bewegung. In einem früheren Beitrag [https://breslauersammlung.com/2022/12/15/herzl-und-chanukka/ ] haben wir bereits Herzls Gedicht “Menorah” besprochen, in dem er die Chanukka-Menora mit einem Silberbaum vergleicht. Dieser Vergleich verdeutlicht die Allegorie des jüdischen Volkes, das Wurzeln schlägt und wie ein Baum in seinem Land wächst. Es gibt jedoch noch zwei weitere Fälle, in denen der Baum eine sehr wichtige Rolle in Herzls zionistischem Denken spielt. Als Visionär erkannte Herzl schon vor seiner berühmten Reise nach Palästina im Jahr 1898 das Problem der schrecklichen Hitze und des fehlenden Schattens im Land und suchte nach Lösungen. In einem Tagebucheintrag vom 23. August 1896 bietet er eine an:
Wir müssen einen nationalen Baumverein zur Aufforstung des Landes gründen. Jeder Jude stiftet einen oder mehrere Bäume. Zehn Millionen Bäume!
Wie viele von Herzls Ideen schien auch diese übertrieben und naiv zu sein, aber wenn wir die Zukunft betrachten und die Millionen von Spenden sehen, die von Juden und Jüdinnen in der ganzen Welt für diesen Zweck gespendet wurden, sehen wir, dass diese Idee, wie auch viele andere von ihm, verwirklicht wurde und sogar Herzls Erwartungen übertraf.
Herzl war nicht nur ein Visionär, sondern vor allem ein sehr praktischer Mensch. Auf seiner berühmten Reise nach Palästina hinterliess er ein sehr bedeutungsvolles Andenken an seinen Besuch. Eine sehr beliebte zionistische Hymne am Ende des 19. Jahrhunderts war das Gedicht “Dort, wo die Zeder” des Dichters Dr. Isaac Feld (1862-1922). Es war so beliebt, dass Herzl selbst es für den besten Kandidaten für die neue israelische Nationalhymne hielt, und als er auf dem ersten Zionistenkongress seinen Willen äusserte, nachdem das Lied von dem Basler Kantor Sigmund Drujan-Bollag gesungen worden war, erhielt er stehende Ovationen.
Zürcherische Freitagszeitung, Nummer 36, 3. September 1897
Das Gedicht, das auf Jiddisch geschrieben wurde, aber erst in seiner deutschen Übersetzung berühmt wurde, debütierte in Palästina, während Herzls Besuch im Jahr 1898. Herzls Delegation hatte das Lied spontan bei einem Besuch in Chaderah gesungen, wie wir aus Willy Bambus’ Buch “Palästina, Land und Leute” erfahren, das im selben Jahr erschien.
[…]bald waren wir auf dem richtigen Wege und in einer Viertelstunde fuhren wir in Chedereh ein unter Absingen des Zionliedes „Dort wo die Ceder blüht.” Der Gesang weckte zunächst alle Hunde des Dorfes[…]
Man kann also davon ausgehen, dass diese zionistische Hymne Herzl dazu inspiriert hat, in Motza auf dem Grundstück seines zionistischen Genossen und Pioniers Schmuel Broza (Broze) eine junge Zeder zu pflanzen, wie er in seinem Tagebucheintrag vom 4. November 1898 berichtet:
In Mozah pflanzte ich auf Brozes Grundstück, an dem geschützten Abhange, der von St. Jean abgekehrt liegt, eine junge Zeder. Wolffsohn pflanzte eine kleine Dattelpalme. Einige Araber halfen uns nebst den Kolonisten Broze und Katz.
Obwohl es wie eine kleine Nebengeschichte von Herzls Reise erscheint, sollte diese kleine Pflanze zu einem zionistischen Mythos werden und das nicht nur wegen der Anekdote, dass es sich gar nicht um eine Zeder, sondern um eine Zypresse handelte. Der Baum, der trotz Herzls Irrtum als “Herzlzeder” (ארז הרצל) bekannt werden sollte, wurde nach Herzls Tod zu einem zionistischen Pilgerort. Es wurden Postkarten mit dem Bild des Baumes gedruckt und Gedichte über ihn geschrieben:
Ernst Müller – Moza. Die Welt. Berlin, 17.7.1908
Die Herzlzeder wurde noch mehr zum Mythos, als während des Ersten Weltkriegs im Jahr 1915 eine Gruppe von Arabern aus einem Nachbardorf sie entwurzelte. Jahre später behauptete die Tochter von Mohammed Amin al-Husseini, dem Mufti von Jerusalem, dass ihr Vater es war, der den Baum aus Trotz entwurzelte. Dieser Vorfall wurde zu einer nationalen Tragödie und die Überreste der Pflanze wurden später in einem Glaskasten aufbewahrt.
Der Baumstumpf der Herzlzeder
Herzls Einfluss auf die Baumpflanzung in Israel war so gross, dass nur wenige Jahre nach seinem Tod ein Wald mit seinem Namen gepflanzt wurde. Der Herzl-Wald wurde zu einem beliebten Ort für Spenden von Juden aus aller Welt in Form eines Baumes, eines Hains oder sogar eines ganzen Waldes (1000 Bäume). Eine sehr beliebte Zeit für solche Spenden war natürlich Tu biSchewat.
Der Herzl-Wald (Die Baum-Spende). Hg von Hauptbüro des Jüdischen Nationalfonds. Den Haag, 1916.
Oded Fluss. Zürich. 2.2.2023
Addendum: Der liebe Freund der Bibliothek, Michael Guggenheimer, hat uns auf einen Text von Hanno Loewy, dem Direktor des Jüdischen Museums Hohenems, aufmerksam gemacht, in dem es um einen kleinen Holzsplitter des Herzlzeder geht, der seinem Grossvater gehörte und jetzt in seinem Besitz ist. Wir fügen ihn mit der Erlaubnis von Hanno Loewy ein und danken ihm dafür:
Aus: Ein gewisses jüdisches Etwas : Dokumentation zur Ausstellung am 2. September 2007 im Schweizerischen Landesmuseum Zürich, veranstaltet von Omanut
Es war ein Mann im Lande Schweiz, mit Namen Ajchenrand. So sollte ein Beitrag über einen modernen Hiob beginnen. Und Lajser Ajchenrand, der jiddische Dichter, der alles durch den Nazi-Terror verloren hatte, ist tatsächlich ein Hiob. Nicht nur, weil er alles verlor, sondern auch, weil seine Dichtung ein ständiger Streit mit Gott war. Ein oxymoronischer, “einseitiger Dialog”, bei dem einer spricht und der andere nicht hört.
Ajchenrands Biografie ist wie seine Poesie: sie fasst das Schicksal eines ganzen Volkes zusammen und bleibt doch einzigartig und individuell. Er wurde 1911 oder 19121 im damaligen russischen Demblin in eine arme Familie hineingeboren. Sein Vater war Melamed (Religionslehrer), die Mutter eine einfache Hausfrau. Er hatte keine formale Ausbildung und schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch, um die Familie zu unterstützen. Mit 15 Jahren versuchte er sein Glück in Warschau und begann dort während seiner Lehre als Schneider, jiddische Gedichte zu schreiben. Im Jahr 1934 gelang es ihm, sein erstes Gedicht in der Warschauer jiddischen Zeitung ליטערארישע וואכנשריפט [Literarische Wochenschrift] zu veröffentlichen:
Wenn letzter Gassnlamtern derbrennt, Tog zehenkt sich iber Gassn un Hoifn, nehm ich meine hugerike Hend un trug sei zum Verkoifn
Dieses Gedicht “Hend zum verkoifn” (Hände zum Verkaufen) zeigt bereits Ajchenrands Genie, das Einfache und Alltägliche auf die höchste Stufe der Spiritualität zu heben. Es zeigt auch, wie Ajchenrand seine Poesie einsetzt, um Licht auf die Elenden und Ausgestossenen der Gesellschaft zu werfen; Poesie nicht zum Erheben, sondern zum Trösten und Erbarmen.
Kreidezeichnung Lajser Ajchenrand von Wladimir Sagal (1959)
Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs beschloss er, seinem Bruder nach Paris zu folgen, wo er sich der Fremdenlegion anschloss. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, wurde er aus unbekannten Gründen entlassen und flüchtete in das “freie Gebiet” (Vichy). Dort wurde er verhaftet und in ein Konzentrationslager geschickt. Wie der Rest seiner Familie sollte er in die Gaskammern geschickt werden, aber im Gegensatz zu ihnen gelang ihm die Flucht in die Schweiz. Seine Erlebnisse in den Konzentrationslagern und das Schicksal seiner Familie und seines Volkes sollten seine Poesie beherrschen. Er wurde zum Propheten ohne Volk. Ein verspäteter Prophet, der die Menschen vor dem erschreckte, was bereits geschehen war.
Und so erschien 1942 in der Schweiz ein seltsamer Vogel: ein Dichter, der keine erbaulichen Gedichte schrieb, sondern nur traurige und düstere. Ein gläubiger Dichter, der seinen Gott verloren hatte und dessen Gedichte fast alle seine Leser/innen nur in der Übersetzung lesen konnten. Dieser Vogel weigerte sich jedoch, mit dem Singen aufzuhören. Seine erste Buchveröffentlichung erschien 1945 im Zürcher Carl Posen Verlag. Der Gedichtband mit dem Titel “Wir verstummen nicht” war ein Gemeinschaftswerk mit zwei anderen Exilanten: Jo Mihaly und Stephan Hermlin. Ajchenrand war der einzige, dessen Gedichte nicht auf Deutsch, sondern auf Jiddisch mit lateinischen Buchstaben gedruckt wurden.
NZZ 19.12.1946
Wie das Schweizerdeutsche ist der Grundton des Jiddischen der des Mitteldeutschen, was Ajchenrand wahrscheinlich half, das Schweizer Publikum zu erreichen. 1946 wurde sein Gedicht “Meine Mutter” im Feuilleton der NZZ in einer zweisprachigen Form mit jiddischer und deutscher Übersetzung veröffentlicht. Das Gedicht beginnt mit der Widmung: “Allen vergasten Müttern”. 1947 wurde sein erstes Buch “Hörst du nicht” im Zürcher Carl Posen Verlag ebenfalls in beiden Sprachen gedruckt.
Ajchenrand hatte immer darauf bestanden, neben der deutschen Übersetzung auch das jiddische Original zu bringen: “Im Deutschen wird alles härter; ein jiddisches Gedicht zu verdeutschen heisst dann immer gleich: es verhärten.”2 Für Ajchenrand bedeutet dies jedoch nicht, dass die beiden Sprachen nicht nebeneinander existieren können: “Jemand sagte, dass trotz der Verwandtschaft beider Sprachen die jiddische Poesie nicht zur Deutschen gehöre. Wir aber sangen: Die Sprache des Dichters erhebt sich über alle nationalen und sprachlichen Grenzen – wie der lebendig schwingende Rhythmus des ewigen Alls.” Die Übersetzung ins Deutsche würde ihm helfen, das deutsche Volk zu erreichen, an das seine Gedichte auch gerichtet waren:
און גיב גאט… אז ווען אונדזערע מערדער וועלן אין זיך אריינקוקן זאל זיי אנכאפן א גרויל .פון זיך אליין
…und gebe Gott: wenn unsere Mörder in sich hineinsehen, soll es ihnen vor sich selber grauen.
Welchen Eindruck Ajchenrand auf die Schweizer Bevölkerung und die Schweizer Kulturkreise machte, zeigt ein offener Brief an ihn, den der berühmte Schriftsteller Hermann Hesse am 8. November 1947 in der NZZ veröffentlicht hatte. Der Brief war ursprünglich an Ajchenrand selbst gerichtet, aber Hesse beschloss, ihn zu veröffentlichen, um Ajchenrand bei seinen Schwierigkeiten mit der Schweizer Fremdenpolizei zu helfen, aber auch um sich durch Ajchenrand an alle leidenden Juden zu wenden:
Sie wissen schon, daß ich von Ihren jiddischen Gedichten einen starken und schönen Eindruck habe. lch habe sie längst nicht alle gelesen, aber die, die ich lesen konnte, haben zu mir gesprochen. Wir Dichter haben, unter andrem, die Aufgabe, das von den Menschen unserer Zeit Erlittene auszusprechen, und das können wir nur, wenn wir es nicht vom Hörensagen, sondern aus eigenem Erleiden kennen. Ob das Aussprechen nun auf pathetische oder sentimentale, auf klagende oder auf witzige oder auf anklägerische Art geschient, es ist auf jeden Fall notwendig, und muß der Menschheit auf ihren unbeholfenen Kinderschritten der Entwicklung ein wenig helfen. Die heutige Größe des Leides gibt uns eine Solidarität, die alle Völker und alle Arten von Dasein und Leiden umfaßt. Das Unerträgliche muß zu Wort kommen, um vielleicht überstanden zu werden. Darin sind wir Brüder.
NZZ 8.11.1947
Ajchenrand war in seinem ganzen Wesen ein Dichter und so kamen auch beim Schreiben eines Briefes oder einer Widmung seine poetischen Fähigkeiten zum Tragen. In unserer Bibliothek und in einigen Antiquariaten in der Schweiz sind ein Paar dieser Gedichtwidmungen aufgetaucht. Diese sind manchmal so schön und poetisch, dass sie selbst in einen Gedichtband passen könnten. Aus diesen Widmungen haben wir zwei sehr schöne ausgewählt und stellen sie Ihnen hier vor:
Die erste Widmung findet sich in unserer Bibliothek in Ajchenrands erstem Gedichtband “Hörst du Nicht“, der 1947 in Zürich im Carl Posen Verlag erschien. Die Widmung ist an eine unbekannte Person gerichtet, die Ajchenrand als “die gute Mirjam” bezeichnet, und ist auf Dezember 1946 datiert:
tif oys dem leyd gehoybn brent yedes vart vi eyn fakel eyngekretst in unzer shtern der gloybn un tsu toyzenzer yar oyf gales shvel!
Und wenn wir es wortwörtlich ins Deutsche übersetzen wollen:
Tief aus dem Leid gehoben brennt jedes Wort wie eine Fackel eingeritzt in unsere Stirn der Glaube, zu tausend Jahren auf Exils Schwelle!
Die zweite Widmung finden wir in Ajchenrands Buch ממעמקים [Mi’ma’amakim] (Aus der Tiefe). Es wurde 1953 im di goldene Pave Verlag in Paris gedruckt und war das erste Buch von Ajchenrand, das in jiddischer Schrift veröffentlicht wurde. Die ebenfalls auf Jiddisch verfasste Widmung ist für Ajchenrands gute Freundin und Dichterin Jo Mihaly (1902-1989). Mihaly war eine der beiden Dichter, die ihre Gedichte zusammen mit Ajchenrand in dem 1945 in Zürich erschienenen Buch “Wir verstummen nicht” veröffentlichten. In diesem Buch hatte Ajchenrand ihr bereits ein Gedicht gewidmet, aber für die Widmung in unserem Buch, die acht Jahre später entstand, hatte Ajchenrand ihr ein ganz anderes Gedicht geschrieben, das nie veröffentlicht wurde.
פאר יא מיהאלי
איך ווייס, מיר טרעפן זיך תמיד אין שווייגן ,ווו עס איז מער ני דא קיין אנהייב און קיין סוף ווו דער פרולינג פון אונזערע בליקן וונשט זיך אויף שווייגן און לעשט זיך מער ניט אויס אין וואך זיין אור אין שלאף
וווי מיר צינדן אן ס’גזאנג דאס פארלאשענער פון שטערן ;און זאמלען איין דער שטויב פון פארשוויגענעם דור און זעען ווו גאט שפיגלט זיך זיין פארגעסענע טרענן .און בעהעלט מיט זין שטיל זיין אייביק-ערשטן קאיאר
Ikh veys, mir trefn zikh Tamid in shveygn vu es iz mer nit da keyn Anheyb un keyn Sof vu der Fruling fun unzere Blikn vunsht zikh oyf shveygn un lesht zikh mer nit oys in Vakh zeyn ur in Shlaf.
vi mir tsindn an s’gzang das Farlashener fun Shtern un zamlen eyn der Shtoyb fun farshvigenem Dor; un zeen vu Gat shpiglt zikh zeyn fargesene trenn un behelt mit zin Shtil zeyn eybik-ershtn Kaiar.
vi Malakhim zukhn durkh undz der Veg tsum Lebn un fregn bloyzikh, vas iz Nekhtn, vas iz Heynt? un veysn nit az er hat in tunkeler Rega gegebn di shtile Eybikeyt vas atmet tsvishn Freynd.
Und auf Deutsch:
Für Jo Mihaly
Ich weiss, wir treffen uns immer schweigend, wo es keinen Anfang und kein Ende gab Wo der Frühling unserer Augen will schweigen und verbringt seine Tage nicht mehr im Schlaf
Wo wir mit einem Gesang das Verblassen der Sterne erleuchten und den Staub einer verschwiegenen Generation sammeln Und sieh, wo Gott seine vergessenen Tränen spiegelt und in seiner Stille sein ewiges erstes Abendrot behält
Wo Engel durch uns den Weg zum Leben suchen Und frag nur, was war gestern, was ist heute? Und weiss nicht, dass er in der dunklen Sekunde gab die stille Ewigkeit, die zwischen Freunden atmet.
Hans Rippmann – Porträt Lajser Ajchenrand
Haben Sie auch eine Widmung von Ajchenrand in einem Ihrer Bücher? Wir würden uns freuen, wenn Sie sie mit uns teilen.3
Im “Giftschrank” unserer Bibliothek – wo wir antisemitische Bücher und Dokumente aufbewahren – befindet sich eine kleine Broschüre, die 1925 im berüchtigten Hammer Verlag in Leipzig unter dem Titel “Der deutsche Buchhandel und das Judentum – ein Menetekel” erschienen ist. Der Autor, der sich hinter dem Pseudonym “Lynkeus” versteckt, ist eine eher obskure Figur namens Rudolf Linke.1. Sein “Menetekel” ist die bekannte Verschwörungstheorie, dass die Juden den deutschen Buchhandel und Journalismus übernommen haben, um das deutsche Volk einer Gehirnwäsche zu unterziehen. Sein angebliches Ziel in diesem Buch ist es, diese Juden zu entlarven, die seiner Meinung nach alles tun, um sich als solche zu verschleiern.
Die jüdische Mimikri sorgt dafür, dass in vielen Fällen aus den Namen der Firmen und Besitzer die Zugehörigkeit zum Judentum nicht hervorgeht: Der „verdächtige” Vorname wird abgekürzt, der östliche Familienname, unter der passiven Förderung amtlicher Stellen, eingedeutscht, und wo dieses Ziel noch nicht ganz erreicht ist, da wählt man wohlklingende Firmenbezeichnungen, deren Neutralität zu durchschauen in den seltensten Fällen gelingen will. Zwar hilft mitunter der Name des Direktors, Geschäftsführers oder Prokuristen weiter, wenn es sich um eine Aktiengesellschaft oder eine G. m. b. H. handelt; es gibt aber grosse Konzerne, die ohne Angabe auch nur eines einzigen Eigennamens auszukommen verstehen. Sie werden schon wissen warum.
Das Buch stellt dann eine Liste mit über 200 Einträgen von Buchhandlungen, Buch- und Zeitungsverlagen und Antiquariaten vor, die sich im Besitz von Juden befinden, und “enttarnt” sie als solche. Der Autor, der sich auf die berüchtigten und gefälschten zionistischen Protokolle stützt, behauptet eine “Verjudung” und “Vergiftung” der deutschen Kultur durch die jüdischen Buchhändler und möchte die “naiven” Deutschen warnen, bevor sie bei ihnen kaufen. Wie die meisten antisemitischen Bücher ist auch dieses kaum eine Erwähnung wert und enthält hauptsächlich grausame Lügen und Verleumdungen. Es gibt jedoch einen Eintrag in diesem Buch, der unser Interesse weckt, und sei es nur, um einen Ausgangspunkt für eine ziemlich rätselhafte Sache zu bieten. Während die meisten Einträge sich damit begnügen, den Namen des Unternehmens, seinen Sitz und den Namen des jüdischen Inhabers anzugeben, sind einige ausführlicher und gehen auf spezifische Details ein. Unter dem Kapitel “Der Schönwissenschaftliche Verlag”, das sich mit Buchverlagen befasst, die Belletristik, Literatur, Poesie und Kunst publizieren, finden wir einen relativ langen Eintrag über den Georg Bondi Verlag:
Georg Bondi, Berlin. Inh.: Dr. phil. Georg Bondi.
Den Kern des Verlags bildet der Kreis der „Blätter für die Kunst”. Dessen geistiges Haupt, Stefan George, ist wohl kein Jude, aber das Judentum spielt in seinem Kreise eine unverhältnismäßig große Rolle: Hugo von Hofmannsthal, Ludwig Klages, Karl Wolfskehl, Leopold Andrian, Friedrich Gundolf (-Gundelfinger), gehören dazu. Die meisten dieser Autoren haben auch Bücher bei Bondi erscheinen lassen. — Als besonders taktlos muß es gerügt werden, daß sich der jüdische Verlag Bondi nicht scheut, auf den Einbänden der Bücher seiner jüdischen Autoren das arische Heilszeichen des Hakenkreuzes anzubringen.
Georg Bondi wurde 1865 in Dresden als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Familie geboren. Er studierte Germanistik und promovierte in Leipzig. Dann begab er sich nach Berlin, wo er im Jahre 1895 den “Georg Bondi Verlag” gründete. 1897 lernte er den damals noch eher unbekannten Dichter Stefan George kennen und fühlte sich, wie viele andere auch, sofort zu ihm und seinem Werk hingezogen. Der Bondi Verlag sollte der Hausverlag für Stefan George und seinen Kreis werden und entwickelte eine ganz eigene Ästhetik und einen Stil, der von gnostischen, mythologischen und kosmischen Motiven beeinflusst war und jede Publikation bis hin zum kleinsten Prospekt und Inserat verzierte. Dieser Stil passte zum eher esoterischen Gedankengut des George-Kreises, der oft als Sekte gesehen wurde, die ihrem ‘Meister’, dem Propheten Stefan George, folgte – einem Mann, der sowohl ein genialer Dichter als auch ein sehr exzentrischer Mensch war.
Ähnlich wie Bondi selbst waren viele der Mitglieder des George-Kreises jüdischer Herkunft, aber meist assimiliert und nicht auf ihre jüdische Identität bedacht. Bondi hatte sich sogar öffentlich von seinem Judentum losgesagt, wie wir in einer kleinen Anzeige vom 13. Juli 1911 im “Israelitischen Familienblatt” lesen können.
Das hielt die Antisemiten (auch innerhalb des George-Kreises) nicht davon ab, den “jüdischen Einfluss” auf George, der als der deutscheste aller Dichter galt, und seinen Kreis zu kritisieren. Diese Kritik erhielt zusätzlichen Auftrieb durch das bereits erwähnte “arische Heilszeichen”, das der Bondi Verlag als Signet in vielen seiner Veröffentlichungen verwendete. Erschwerend kam hinzu, dass die erste Publikation, die das Hakenkreuz-Symbol trug, von dem Dichter und Literaturwissenschaftler Friedrich Gundolf (1880-1931) stammte, damals Stefan Georges rechte Hand und ein Jude.
Wie viele andere grafische Werke für den Georg Bondi Verlag wurde auch dieses Signet vom George-Kreis-Mitglied und begabten Künstler Melchior Lechter (1865-1937) entworfen. Dieses “Hakenkreuz”, oder besser gesagt diese “Swastika”, war eines von mehreren von Lechter entworfenen Signets und wurde speziell den wissenschaftlichen und biographischen Werken des George-Kreises zugedacht.
Verschiedene Signete des Georg Bondi Verlags
Das Design erschien bereits 1910, also bevor die Swastika von der nationalsozialistischen Partei als Symbol übernommen wurde und daher noch ein “unschuldiges” Symbol war. Ursprünglich war die Swastika ein religiöses Kultursymbol, das vor allem in den verschiedenen antiken euroasiatischen, afrikanischen und amerikanischen Kulturen verwendet wurde; in der indischen Religion war es (und ist es immer noch) ein Symbol für Spiritualität und Göttlichkeit. Lechter liess sich auf einer seiner Indienreisen von diesem Symbol inspirieren und übernahm es, angeregt durch die kosmische Abteilung des George-Kreises (Alfred Schuler, Ludwig Klages, Karl Wolfskehl und Albert Verwey).
Die Kosmiker v. l. n. r.: Karl Wolfskehl, Alfred Schuler, Ludwig Klages, Stefan George, Albert Verwey
In den 1920er Jahren, als das Swastika zum Hakenkreuz wurde, tauchten immer mehr Kritiker auf, die Stefan George und seinen Kreis mit der Nazi-Partei in Verbindung brachten2 und – wie wir oben gesehen haben – kritisierten, dass die Juden das Hakenkreuz benutzten, um sich zu tarnen. Dies veranlasste Georg Bondi, in seinem Verlagskatalog von 1927 eine Erklärung abzugeben, in der er dieses Problem ansprach:
Das Innenteil der vorstehenden Vignette wird vielfach fälschlich als “Hakenkreuz” gedeutet. Demgegenüber sei festgestellt, daß dieses Innenteil schon seit 1910 auf Veröffentlichungen der “Blätter für die Kunst” zu finden ist, und daß die obige Vignette in der jetzigen Gestalt seit 1916 den Werken der Wissenschaft aus dem Kreise der Blätter für die Kunst aufgedruckt ist. Als dieses uralte (indische) Zeichen im Oktober 1918 “Hakenkreuz” benannt wurde und seinen heutigen Sinn bekam, konnte der Kreis der Blätter für die Kunst sein seit vielen Jahren eingeführtes Signum nicht abschaffen. Wer die unter diesem Zeichen veröffentlichten Bücher auch nur flüchtig kennt, dürfte wissen, daß sie mit Politik nichts zu tun haben.
Erstes Auftauchen der Swastika in Friedrich Gundolfs Übersetzung von Shakespeare’s “Coriolanus” (Bondi Verlag, 1910).
Das Swastika-Symbol wurde von den Mitgliedern (Vor allem den Juden) des George-Kreises zunächst in seiner unschuldigen Bedeutung wahrgenommen. Sie hatten sich erlaubt, seine neu hinzugekommene Bedeutung zu ignorieren und zu verdrängen. Dies konnte jedoch nur kurz anhalten.3 Die Verwendung des Hakenkreuzes durch die nationalsozialistische Propaganda hatte es zu einem der berüchtigtsten Symbole der Menschheitsgeschichte gemacht und ihm seine ursprüngliche Bedeutung völlig beraubt.
Eine kleine Geschichte, die der Wirtschaftswissenschaftler Edgar Salin (1892-1974) in seinem Buch “Um Stefan George” erzählt, bringt den tragischen Moment der Erkenntnis. Die Szene spielt nach der Beerdigung von Friedrich Gundolf, dem ersten aus dem Kreis, der die Swastika als dekoratives Element in seinem Buch hatte. Es ist Juli 1931 und Salin und Karl Wolfskehl, beide Juden aus dem George-Kreis, gehen über den Heidelberger Bergfriedhof und kommen ins Gespräch:
Dort auf dem Friedhof begann auch das Zeit-Gespräch, das nicht mehr abreissen sollte. Wir waren schon lange gewandert, hatten unter Tränen Erinnerungen getauscht und das Bild des Teuren so herzlich und stark beschworen, dass er im Geiste, wie einst im Leben, federnd und sprühend und beglückend mit uns schritt. Plötzlich blieb Wolfskehl mit allen Zeichen des Entsetzens stehen. Wir befanden uns in einer Reihe, in der einige Grabsteine neu errichtet waren, und der Blick des Blinden hatte einen Stein gesichtet, nein gewittert, den ein Hakenkreuz verunzierte. ,,Edgar! Das Zeichen!‘‘ stammelte er, ,,An heiliger Stätte verdrängt die Svastika das christliche Kreuz! Fort, fort, fort von hier”.
Vor 50 Jahren starb einer der einflussreichsten und wichtigsten jüdischen Philosophen und Denker des 20. Jahrhunderts, Professor Rabbiner Abraham Joshua Heschel (1907-1972). Abraham Joshua Heschel wurde in Warschau als das jüngste von sechs Kindern geboren. Er stammte auf beiden Seiten seiner Familie von bedeutenden chassidischen Rabbinern ab. Nach einer traditionellen Jeschiwa-Ausbildung und dem Studium für die orthodoxe rabbinische Ordination (Semicha), promovierte Heschel an der Universität Berlin und erhielt die rabbinische Semicha an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. Dort unterrichtete er Talmud und studierte bei einigen der besten jüdischen Pädagogen seiner Zeit. Ende Oktober 1938, als er in Frankfurt wohnte, wurde Heschel von der Gestapo verhaftet und im Rahmen der ‘Polenaktion’ nach Polen deportiert. Dort verbrachte er zehn Monate damit, am Warschauer Institut für Jüdische Studien Vorlesungen über jüdische Philosophie und Tora zu halten. Sechs Wochen vor dem deutschen Einmarsch in Polen verliess Heschel Warschau in Richtung London. Heschels Schwester und Mutter wurden von den Nazis ermordet und zwei weitere Schwestern von ihm starben in Konzentrationslagern. Er kehrte nie wieder nach Deutschland, Österreich oder Polen zurück.
Abraham Joshua Heschel ca. 1945
Heschel kam im März 1940 in New York an. Er war fünf Jahre lang Mitglied der Fakultät des Hebrew Union College (HUC), der zentralen Hochschule des Reformjudentums, in Cincinnati. Im Jahr 1946 nahm er eine Stelle am Jewish Theological Seminary of America (JTS) in New York an, dem Zentrum des konservativen Judentum. Dort entwickelte er sein einzigartiges religiös-humanistisches und politisches Denken. Heschel hatte sich nie erlaubt, im Elfenbeinturm zu sitzen und betrachtete sein Denken als Teil des Lebens. In seinen politischen Aktivismus wurde er zur Stimme der Ungehörten; er war ein enger Freund und Kamerad von Martin Luther King in seinem Streben nach gleichen Rechten für Schwarze in Amerika und ein entschiedener Gegner des Vietnamkriegs. Beeinflusst von den biblischen Propheten, über die er auch sein erstes philosophisches Buch schrieb, war eine seiner Hauptideen der Dialog und die wechselseitige Interaktion zwischen Mensch und Gott: Der Mensch darf den Gräueltaten nicht tatenlos zusehen und ist verpflichtet, Gott bei der Schaffung einer besseren Welt zu “helfen”. Gott und Mensch sind voneinander abhängig und das Leid des Menschen bringt Gott Leid und vice-versa. Genauso wie der Mensch Gott sucht, sucht Gott den Menschen.
Ein paar seltene Bücher von Heschel aus unserer Bibliothek Bestand
Abraham Heschel wurde zu einem der bekanntesten und einflussreichsten jüdischen Denker des 20. Jahrhunderts. Sein Gedanke sollte die Barriere der Religion durchbrechen und universell anerkannt werden. Unsere Bibliothek verfügt über zahlreiche Bücher von Heschel sowohl in deutscher, englischer als auch hebräischer Sprache, darunter seine frühesten Werke aus den 1930er Jahren und seine späteren Werke aus den letzten Jahren seines Lebens. Doch noch mehr Bücher, die über Heschel geschrieben oder von ihm direkt beeinflusst wurden, stehen in unseren Regalen und zeigen den immensen Einfluss, den sein Denken bis heute hat.
Es gibt jedoch einen Aspekt in Heschels Leben und Denken, der vielen unbekannt ist. 1925, vor seiner Ankunft in Berlin, ging der 18-jährige Heschel nach Wilna, um dort das Mathematisch-Naturwissenschaftliche Gymnasium zu absolvieren. Die Schule, die er besuchte, war das jiddischsprachige jüdische Realgymnasium, das von Leib Turbowicz geleitet wurde. Dort machte er Bekanntschaft mit der renommierten jiddischen Dichtergruppe יונג-ווילנע (Jung Vilna) und veröffentlichte 1933 sein eigenes jiddisches Gedichtbuch דער שם המפורש מענטש “Der Shem Hamefoyrosh: Mentsch” [der ausdrückliche/ unaussprechliche Name: Mensch] .
Eine Anzeige auf der ersten Seite der jiddischen Zeitung “Haynt” in Warschau vom 4. Dezember 1933.
Dieser Gedichtband ist mehr als alles andere ein biografisches Dokument einer sehr wichtigen Zeit in Heschels Leben Anfang der 30er Jahre in Wilna und Berlin. Darin schildert der junge Heschel mutig seine inneren Kämpfe mit zeitgenössischen Denkern, mit seiner chassidischen Herkunft, mit Gott und mit sich selbst. Hier wird zum ersten Mal Heschels einzigartige und aktive Herangehensweise an das jüdische Prinzip des Tikun Olam (Reparatur der Welt) dargestellt. Das Buch, der einzige Gedichtband von Heschel, wurde nie ins Deutsche übersetzt und wird überraschenderweise fast völlig übersehen, obwohl es viele von Heschels späteren Ideen und Gedanken enthält. Zu Ehren seines 50. Todestages haben wir beschlossen, eines der Gedichte aus seinem Buch ins Deutsche zu übersetzen, in der Hoffnung, dass dies andere dazu inspiriert, eine richtige Übersetzung dieses ganzen schönen Buches zu machen.
Das Gedicht איך און דו (Ich und du) ist das erste in diesem Band. Es kommt unter dem Kapitel “der mentsh iz heylik” (der Mensch ist heilig) und steht im direkten Dialog mit Martin Bubers berühmtem Buch, das ebenfalls “Ich und du” heisst. Wir finden hier einen Dialog zwischen Heschel und Gott, der nicht in Worten, sondern durch Gefühle geführt wird. Auffällig ist die direkte Beziehung, ja fast Identität, die Heschel zwischen Gott und Mensch herstellt. Im Gegensatz zur üblichen religiösen Poesie, in der der Sprecher die Hilfe und den Trost Gottes sucht, erscheinen hier Mensch und Gott als austauschbar; beide teilen Körper, Leiden und Träume. Sie sind in voller Synergie, wechseln ständig die Rollen und sind gleichermassen für einander verantwortlich.
Viele der Bücher in unserer Bibliothek sind Geschenke von Spender/innen und Leser/innen. Diese kommen normalerweise persönlich, schicken eine E-Mail oder rufen uns an und fragen, ob wir an diesem oder jenem interessiert sind. Es gibt aber auch Fälle, in denen ein Buch anonym vor dem Eingang der Bibliothek abgelegt wird, in der Hoffnung, dass es von unserer Bibliothek “adoptiert” wird. Vor ein paar Monaten wurden zwei schöne hebräische Kinderbücher auf diese Weise vor unserer Bibliothek hinterlegt. Wie immer in solchen Fällen haben wir geprüft, ob diese Bücher bereits in unserer Bibliothek vorhanden sind und in unseren Bestand passen. Stellen Sie sich unsere Überraschung vor, als wir die Bücher aufschlugen und feststellten, dass die Bücher nicht nur von der Autorin/Illustratorin Mariam Bartov signiert waren, sondern auch vollständig von ihr handschriftlich ins Deutsche übersetzt worden waren.
Mariam Bartov (1914-2012)
Mariam Bartov (1914-2012) war eine deutsch-israelische Künstlerin und Kinderbuchautorin. Im Sommer 1914 in Hamburg geboren, verlor sie in ihrer frühen Kindheit ihre Mutter und zog zu ihren Grosseltern nach Berlin. Schon als kleines Mädchen zeichnete sie hervorragend und studierte später an der Berliner Kunsthochschule. Noch bevor sie ihr Studium abschliessen konnte, wurde sie 1933 wegen ihrer jüdischen Herkunft von der Kunstschule verwiesen. 1935 beschloss ihre Familie, vor den Nazis nach Argentinien zu fliehen, doch sie als junge Zionistin entschied sich, nach Palästina zu reisen und sich einem Kibbuz anzuschliessen.
Ihre Kindheitsgeschichte erzählte sie kurz in einem kleinen Beitrag zusammen mit ihrem Selbstporträt in “ספר המאיירים הגדול” [Das grosse Buch der Illustratoren]:
Ich hatte eine sehr einsame Kindheit im Haus meines Grossvaters erlebt. Meine Mutter starb, als ich vier Jahre alt war. Ich ging nicht in den Kindergarten und hatte keine Spielkameraden. Einmal kam ein Soldat zu uns nach Hause, um nach Waffen zu suchen. Das war 1920, zwei Jahre nachdem der Krieg zu Ende war und es Zivilisten nicht erlaubt war, Waffen in ihrem Haus aufzubewahren. Meine junge und anmutige Tante Trude flirtete mit dem Soldaten und “half” ihm bei seiner Suche. Später fand ich heraus, dass das alles nur ein Ablenkungsmanöver war, denn in einem Schrank über dem Badezimmer war die Waffe meines Onkels versteckt. Der Soldat hatte mir grosse Angst eingejagt und ich zeichnete ihn so: [siehe Bild]. So begann meine Kunstkarriere.
Mit ihren geschickten Händen arbeitete sie zunächst als Spielzeug- und Puppenmacherin, während sie in der Zwischenzeit ihre ganz eigene Kunstform entwickelte. Mit Scherenschnitten, Holzschnitten und Glas wurde ihre Kunst vom deutschen Expressionismus und Bauhaus beeinflusst, wobei sie sich auf einfache Materialien und wenige Farben beschränkte.
1949 schrieb und illustrierte sie ihr erstes Buch: עליקמא הקטן Alikama ha-katan, nach einer Geschichte, die sie ihren Kindern mit Handpuppen erzählte. Dieses Buch wurde zu einem Klassiker unter den israelischen Kinderbüchern und Bartov sollte im Laufe ihres Lebens noch viele weitere Kinderbücher schreiben und illustrieren. Als einzigartige und bahnbrechende Künstlerin erhielt sie 1986 vom israelischen Nationalmuseum eine Auszeichnung für ihr Lebenswerk, der ihr vom damaligen israelischen Präsidenten Chaim Herzog überreicht wurde. Ihre Kunstwerke sind auch heute noch sehr begehrt.
Die beiden Bücher, die in unserer Bibliothek gelandet sind, sind צפור השמחה (Tzipor ha-simcha) übersetzt von Bartov in “Freude-Vogel” und מעשה בצמר פלא (Ma’ase be-tzemer pele) übersetzt in “Die Wunderwolle”. Wie in den Büchern angegeben, wurden beide von Mariam Bartov selbst 1997 übersetzt und einem Mädchen (oder einer Frau) namens Anni gewidmet (dieser Name ist der einzige Hinweis, den wir auf die Identität der Spenderin der Bücher haben). Das Besondere an unseren Exemplaren der Bücher ist, dass man auf jeder Seite neben dem gedruckten hebräischen Text auch Bartovs deutsche handschriftliche Übersetzung findet.
Unsere Bibliothek, die sich unter anderem zum Ziel gesetzt hat, die Verbindung zwischen der deutschen und der hebräischen Sprache wiederherzustellen, hätte nicht glücklicher sein können, diese wunderbaren, einzigartigen Bücher zu bekommen. Wir laden unsere deutschen und hebräischen Leserinnen und Leser ein, diese Bücher von rechts nach links oder von links nach rechts zu lesen und die wunderbaren Geschichten und Zeichnungen von Mariam Bartov zu geniessen.