“Und nachher wird getrendeIt!”

Wenn mir mein vierjähriges Söhnchen die Chanukageschichte zum so und so vielten Male erzählt — und es versteht darunter nicht ihren historischen Theil, sondern die Art und Weise, wie Chanuka praktisch, begangen wird — wie erst der Chanukaleuchter herbeigeholt und gefüllt, dann Abends Berocho gesagt, angezündet und Moaus Zur gesungen wird, dann lautet der Schlußrefrain der ganzen Darstellung regelmäßig: und nachher wird getrendelt! (Naftoli Hertz Ehrmann [Judäus]: Eine ungekannte Welt: Erzählungen aus dem jüdischen Familienleben. Frankfurt a.M. 1907)

Nach der Chanukkia [Chanukka-Menorah] ist der Dreidel das erste, woran wir denken, wenn wir an Chanukka denken. Im Hebräischen als סביבון Sewiwon bekannt, hat der Dreidel im Deutschen mehrere Namen und wird auch als Trendel und Kreisel bezeichnet. Seine ungewöhnliche Form eines Würfels mit einem Bein und seine sehr unorthodoxe Funktion – die eines Wettspiels – machen ihn zu einem einzigartigen und faszinierenden jüdischen Objekt. Die hebräischen Buchstaben, die ihn verzieren, machen aus diesem gewöhlichen Spielzeug einen mystischen Gegenstand.

Illustration von Victor Kosak (1922)

Die hebräischen Buchstaben נ-N, ג-G, ה-H, ש-S, die zunächst für den Einsatz und das, was man bekommt, standen: (N = nichts, G = ganzer Einsatz, H = halber Einsatz, S = setzen, d.h. man muss einsetzen), erhielten erst später ihre heute bekannte Bedeutung als נס גדול היה שם Nes Gadol Haya Scham (ein grosses Wunder geschah dort). Ein kleines Gedicht im Israelitischen Familienblatt vom 3. Dezember 1936, unterzeichnet mit “Ben Menachem” (wahrscheinlich ein Pseudonym für den Dichter Ludwig Strauss), weist auf diese frühe Verwendung der Buchstaben hin.

Israelitisches Familienblatt 3.12.1936

Wegen seines spielerischen und kindlichen Charakters wurden viele Lieder über den Dreidel geschrieben. Die bekanntesten sind auf Hebräisch, aber wir haben auch einige deutsche Übersetzungen gefunden. Als erstes stellen wir ein Lied des Kinderbuchautors und Dichters Levin Kipnis (1894-1990) vor. Kipnis (der auch das bekannte hebräische Lied “סביבון סוב סוב סוב” “Sewiwon, sow sow sow” schrieb) schrieb hauptsächlich auf Hebräisch und Jiddisch, aber wir hatten das Glück, eines seiner Dreidel-Gedichte zu finden, das von keiner Geringeren als der Dichterin Mascha Kaléko übersetzt wurde.

Eine weitere Übersetzung, von der wir weder die Quelle noch den Übersetzer kennen, findet sich in der Zeitung Die Neue Welt vom 9. Dezember 1936. Ausser der Tatsache, dass es aus dem Hebräischen übersetzt und “gesungen von Kindern in Erez Israel” wurde, können wir nicht viel über dieses schöne Lied herausfinden.

Die neue Welt. 9.12.1936.

Es wurden nicht nur Lieder, sondern auch Geschichten über den Dreidel geschrieben, die wir auch im deutschen Original gefunden haben. In diesen Geschichten geht es meist um den Dreidel als Zauberwesen, das sich endlos drehen oder manchmal sogar sprechen kann. Eine dieser Wunder-Dreidel-Geschichten finden wir in der Zeitung Der Israelit vom 10. Dezember 1936. Es ist die Geschichte einer armen Familie, in der die Kinder von einem magischen Dreidel zu einem Schatz geführt werden. Der/die Autor/in ist unbekannt und hat nur mit dem Namen “Deka” signiert.

Der Israelit 10.12.1936

Es ist schon dunkel, Die Chanuckahlichtlein erhellen mit ihren freundlichen Strahlen die Straßen des friedlichen Dorfes; In allen jüdischen Häusern herrscht Chanuckafreude. Nur in einem Hause scheint sie nicht eingekehrt zu sein. Wohl brennen auch hier im Stüblein am Fenster die Lichtlein. Jedoch von Freude ist nichts zu merken. Traurig sitzt am Ofen im Lehnstuhl eine Frau mit bleichem Gesicht. Man sieht es ihr an, daß sie geweint hat. Wie war doch immer das Chanuckahfest eine Freude als ihr sel. Mann noch lebte. Armut und Entbehrung sind seitdem eingekehrt. Am Tische sitzen zwei muntere Buben, Chajim der ältere und Menachem der jüngere. Ein Trendelcheh hat ihnen die Mutter zum Spielen gegeben. Statt der wohlschmeckenden Nüsse hat jeder ein Häufchen Brotstückchen vor sich liegen. Das Spiel beginnt. Chajim läßt das Trendelchen schnurren. Wie es auf dem glatten Tisch saust! Die Augen der Buben sind auf das Trendelchen gerichtet. Wird Chajim gewinnen oder verlieren? Das Trendelchen hört ja gar nicht auf zu schnurren. Plötzlich springt es auf die Erde und von hier zur Türe, die geöffnet ist. Es saust zur Türe hinaus. Die beiden Buben hinterher. Sie wollen es fassen. Aber es ist schon auf der Straße. Nun geht es schnell durch das Dörfchen über Stock und Stein in den Wald. Es ist eine sternenklare Nacht, so daß sie ihm leicht folgen können Aber o weh, das Trendelchen ist plötzlich verschwunden. Da stehen sie nun die Beide allein im Walde. Der kleine Menachem fängt an zu weinen. „Wo sind wir, wie kommen wir wieder nach Hause? Die Mutter weiß nicht, wo wir sind!” Aber Chajim legt seine Hand auf die Schulter des kleinen Bruders und sagt: „Weine nicht, G’tt wird uns nicht verlassen, wenn es hell wird, finden wir auch den Weg wieder nach Hause. Was war das ? Ein Vöglein sang auf einen Ast, ganz nahe bei den Kindern. Die Kinder blicken ängstlich zu ihm empor. „Fürchtet Euch nicht, liebe Kinder, ihr werdet noch eine Chanuckahfreude erleben, und zu Euerm Mütterlein werdet ihr auch bald wieder kommen. Folgt nur dem Trendelchen nach”, so sprach das Vöglein: und war verschwunden. Und siehe , da war auch wieder das Trendelchen, munter, schnurrte es weiter. Die Kinder hinterher.
„Halt, halt, ihr lieben Kinder!” Vor ihnen stand ein Englein im weißen seidenen Gewand und sprach: „Der liebe G’tt hat gesehen wie gut und lieb ihr zu euerm Mütterlein gewesen seid. Ihr habt soviel entbehren müssen seitdem euer Vater nicht mehr lebt. Darum soll euch eine Chanuckahfreude beschieden sein, wie sie kein Kind erlebt hat. Seht hier, in diesen Berg wollen wir gehen, da gibt es viel Schönes und Kostbares. Ihr dürft euch nehmen, soviel ihr tragen könnt. Aber eins müßt ihr mir versprechen, so bald ihr im Berg seid, dürft ihr nicht sprechen. Wenn nur ein Wort über eure Lippen kommt, hat alle Herrlichkeit ein Ende. Könnt ihr das?” Und Beide nickten, denn sie waren so benommen, daß sie nicht sprechen konnten. Indem dies der Engel gesagt hatte, führte er sie in den Berg. Was war da eine Pracht und Herrlichkeit! Die Wände glitzerten in purem Gold. Auf dem Boden lagen Berge von Goldstücken und Edelsteinen. Chanuckahleuchter in allen Größen und Formen aus Gold standen an den Seiten. Chajim konnte sich des Staunens nicht erwehren. Er öffnete seinen Mund und wollte einen Schrei der Verwunderung ausstoßen, aber schnell hielt ihm Chajim die Hand vor den Mund, so daß er nicht mehr weitersprechen konnte. “Nehmt euch liebe Kinder soviel ihr wollt, bringt alles euerm Mütterchen. Da liegen Säcke zum Füllen.” Und nun ging es an die Arbeit. Schnell waren die Taschen mit Edelsteinen und Gold gefüllt. Dann kamen die Säcke an die Reihe. Sie konnten sie kaum tragen, so schwer waren sie.
Der Engel führte sie wieder zum Berg hinaus, legte auf beide seine Hände: „Geht heim, grüßt euer Mütterlein, seid weiter so lieb und fromm, Dann verläßt euch G’tt nicht”. Mit diesen Worten war der Engel verschwunden, und die Kinder standen plötzlich vor dem Hause ihrer Mutter. Sie stürzten in die Stube. Wie groß war die Freude der Mutter, als sie ihre Kinder wiedersah! Wie groß war aber ihr Erstaunen, als die Kinder die Säcke und Taschen ausleerten. Alle Not hatte nun ein Ende, und Chanuckah erstrahlte im neuen Licht.
Siegfried Abeles – Das lustige Buch fürs jüdische Kind. Illustration von Willy Braun. Breslau, 1926. D 798

Eine weitere Geschichte über einen Wunderdreidel finden wir in “Das lustige Buch fürs jüdische Kind” von Siegfried Abeles, das 1926 in Breslau erschien. Wir haben Abeles bereits einen Artikel gewidmet (Sie finden ihn hier: https://breslauersammlung.com/2022/09/22/abeles/ ). In der Geschichte Das Trendel mit Kopf und Fuss geht es um Akiba, den faulen Rabbinersohn, und die Lektion, die er von einem sehr klugen und aussergewöhnlichen Dreidel lernt.

Das Trendel mit Kopf und Fuss

Akiba war das zehnjährige Söhnchen eines gelehrten Rabbiners, aber selbst wollte er nichts von Gelehrsamkeit wissen. Heute hatte er bereits seine hebräische Aufgabe begonnen, aber sehr unwillig waren schon die ersten Zeilen voll Fehler. Plötzlich und deshalb warf er den Federstiel fort, liess das Heft offen liegen und lief dann in den rückwärtigen Hof des Tempelgebäudes, in dem er wohnte. In diesem Hof hielt sich Akiba besonders gern auf, denn dort lagen viele alte, unbrauchbar gewordene Sachen, auf denen er gern herumturnte und unter denen er gern umherkramte.
“In einigen Tagen kommt Chanukkah”, dachte Akiba, “da will ich mir ein Trendel schnitzen.” Und er schnitt mit seinem Taschenmesser ein Stück Holz von einem alten Betstuhl. Wie wunderbar! Das Stückchen hatte sogleich die Form eines Trendels: ein Würfel, aus dessen Mitte oben ein Griff, unten ein zugespitzter Fuss hervorwuchs. Der Griff war aber nicht, wie sonst, oben zu einer Halbkugel abgerundet, sondern da sass auf dünnem Hals ein kleiner lustiger Bubenkopf und der Fuss lief nicht glatt zu einer Spitze zu, sondern unten befand sich ein kleiner Menschenfuss, der auf der Spitze seines schmalen Schuhes stand. Akiba sah zuerst verwundert diese Figur an, dann aber lachte und hüpfte er vor Freude und lief mit dem komischen Trendel in sein Zimmer, um die Buchstaben, die man zum Spiele benötigte, auf die vier Seitenflächen des Würfels zu schreiben. Aber er hatte vergessen, welche Lettern auf seinem vorjährigen Trendel gestanden, und als er vor seinem Schreibpult sass, rief er unwillkürlich: “Wenn ich nur die Buchstaben wüsste!” Dabei drehte er gedankenlos das Trendel. Dieses begann zu tanzen und zu hüpfen, sprang in das Tintenfass und wieder hinaus, dann tanzte es mit dem von der Tinte schwarz gewordenen Schuh über ein weisses Blatt Papier.
Was war aber das! Die Tintenspuren der Schuhspitze auf dem Blatt sahen wie geschriebene hebräische Buchstaben aus! ,,Ness gadol hajah scham” konnte Akiba deutlich lesen. “,Spassig !” rief er aus. ,,Gadol, das heisst ja ,,gross”. Aber das kann doch alles nur Zufall sein. Und das Ganze ist gewiss ein Unsinn. So ein dummes Trendel kann doch nicht schreiben und nichts wissen.” Da klappte plötzlich der Fuss des Trendels um, so dass er auf der Sohle stand, und die wundersame Figur hielt in ihrem Tanze inne. ,,Du junges Menschlein”, sagte sie plötzlich, ,,du glaubst klüger zu sein als ich? Mehr als tausend Jahre stand ich auf dem Libanongebirge, denn ich bin ein Stück einer alten Zeder. Dann nahm ein frommer Mann Zedernholz aus Palästina mit hierher, um sich einen Betstuhl daraus machen zu lassen. So stand ich nun wieder mehr als zweihundert Jahre im Bethaus und hörte viele Gebete und gelehrte Gespräche. Da bin ich also ein sehr kluges Trendel geworden. Das, was ich dir aufgeschrieben habe, heisst übersetzt: Grosses Wunder geschah damals. Die Anfangsbuchstaben, ein Nun, ein Gimmel, ein Heh und ein Schin musst du mir auf den Körper schreiben. ,,Aber Herr Trendel”, sagte Akiba verlegen stotternd ,,ich habe gar nicht gewusst, dass Sie auch reden können. Jetzt getrau ich mich nicht, auf Ihrem Leib mit der Feder zu kritzeln. “Schreibe nur ruhig”, erwiderte das Trendel. ,,Ich bin ja aus Holz und nicht ein bisschen kitzlig.” Da legte Akiba das Trendel auf den Rücken und zeichnete ihm ein hebräisches N in Druckschrift auf den Bauch. .,Jetzt erinnere ich mich schon”, rief er dabei, ,,das Nun bedeutet “,nichts”. Wenn das obenauf liegt, erhält man nichts aus der Kasse.” “,Und nichts hatten deine Väter”‘, sagte das Trendel, ,die vor Antiochus Epiphanes in die Höhlen des Gebirges flohen, um nicht Götzen anbeten zu müssen und ihrem Gotte treu bleiben zu können,” “,Und Heh bedeutet, halb”, sagte Akiba. ,Da habe ich immer die Hälfte aller Nüsse der Kasse erhalten.”
,,Diesen Buchstaben musst du mir auf den Rücken schreiben. Lege mich nur ruhig auf den Bauch”, lief sich wieder das Trendel hören und fuhr sogleich fort. “Halb hat der greise Priester Mathatias der den Kampf gegen Antiochus begann, den Sieg errungen.” ,,Aber was bedeutet das Schin?” fragte der Knabe. ,,Stell ein, zahl ein”, erwiderte das hölzerne Lehrerlein. Stell ein, zahl ein”, so hiess es im Kampf für viele wackere Juden, sie wurden verwundet oder getötet. Dennoch kamen immer mehr jüdische Kämpfer hinzu, denn sie alle liebten ihren Gott und ihr Vaterland. So, nun fehlt dir nur noch das Gimmel, das bedeutet ,,ganz”. “Hei!” rief Akiba fröhlich, “wenn das obenauf liegt, gehört die ganze Kasse mir!” “Und ,,ganz” hat Juda Makkabi, der Sohn des alten Priesters den Sieg erkämpft”, fuhr das Trendel fort. ,,Drum gefällt uns Juda, denn nur das hat Wert, was man ,,ganz” ausführt.” Auch ich will alles g a n z ausführen”, rief Akiba begeistert. Das Gimmel soll von nun an mein Zeichen sein. Was ich lerne, was immer ich beginne, will ich ,ganz” erreichen. “So?” sagte das Trendel. ,Wie steht es dann mit der hebräischen Aufgabe?” Da schämte sich Akiba sehr, denn die Aufgabe lag noch immer unfertig und voller Fehler auf dem Tisch. “Ich werde sie schon besser machen”, sagte er verlegen. Da sprang das Trendel auf und tanzte auf der Fussspitze quer über die hebräische Aufgabe und weil der Schuh des Trendels noch immer von der Tinte feucht war, gab das einen dicken Strich über das ganze Blatt. Nun legte sich das Trendel ruhig nieder und blickte nur neugierig nach Akiba, was dieser nun wohl sagen würde. Aber der Knabe murrte nicht und schrieb die Aufgabe sogleich noch einmal. Diesmal aber zu Ende und sehr sorgfältig. Seit dieser Zeit hat das sonderbare Trendel nie wieder gesprochen und nie wieder von selbst getanzt; aber immerfort lächelte es zufrieden, denn es wusste, dass es einen faulen Jungen gebessert hatte.

Wir schliessen mit einem wunderschön illustrierten Dialog zwischen einem Dreidel und einer Chanukka-Menorah, geschrieben von der unbekannten Else Schwoner aus Olmüth im Kinderteil der Jüdischen Rundschau vom 20. Dezember 1935. Die Beziehung zwischen der hochmütigen Menorah und dem frechen Trendel ist ein bekanntes Thema in Chanukka-Geschichten:

Oded Fluss. Zürich. 7.12.2023 נר ראשון של חנוכה

Ein Kibbuz in den Schweizer Alpen

Kibbuz-Hanoar 1933 : 1. zion. Jugendrepublik der Schweiz. B Q 130.

Wir leben hier bei körperlicher Arbeit, die uns von Haus aus fremd ist, in den Schweizerbergen, aber die Arbeit, die wir leisten, gilt Palästina.

Am 18. Juli 1933 wurde mitten in den Bündner Alpen in der Schweiz eine “zionistische Jugendrepublik” gegründet. Die Jugendbewegung Brith-Habonim nutzte zusammen mit anderen zionistischen Jugendbewegungen aus Deutschland und Frankreich die Sommerferien, um den Kibbuz-Hanoar zu errichten: Ein Sommerlager für junge Zionisten, das dem Ideal des palästinensischen Kibbuz folgte, in dem “fröhliche Tätigkeit und ernste Arbeit” mit “Spielen und Sport, Wandern, Musizieren und Feiern die jungen Menschen zu einer fröhlichen und bewussten Gemeinschaft zusammenfügen”. Auch die schweizerischen Ideale der Republik wurden berücksichtigt, denn im Kibbuz “hatten Jung und Alt die gleichen Rechte, waren zum gleichen persönlichen Einsatz verpflichtet. Ordnung nach freiwillig geschaffenen Gesetzen und Selbstdisziplin waren die Fundamente”.

Ein seltenes Büchlein aus unserer Bibliothek fasst die Idee hinter dieser Initiative zusammen. Begleitet von schönen, naiven Zeichnungen hilft es uns, den Zeitgeist der jungen Schweizer Juden in einer sehr kritischen Zeit einzufangen. Schon die zweisprachige Karte des Lagers (die vielleicht absichtlich ein wenig der Karte Palästinas ähnelt) zeigt, dass dieses Sommerlager anders war als alle anderen. Zelte für mehr als hundert junge Chawerim, ein grosses Gemeinschaftszelt, ein Büro für die Leitung, eine Lagerbibliothek, eine Küche, und in der Mitte die israelische Flagge – 15 Jahre vor der Gründung des Staates Israel. Wir sehen auch Wachzelte, die in der Schweiz vielleicht nicht so nötig sind, aber die Jugendlichen auf ein weniger sicheres Leben in Palästina vorbereiten sollen.

Das beispielhaft angeführte Tagesprogramm vom 2.8.1933 zeigt uns den Tagesablauf der jungen Zionisten. Nach dem Wecken um 6.30 Uhr folgt eine zehnminütige Hitamlut, hebräisch für “Übung”. Nach dem Frühstück gibt es bereits eine Stunde Ivrit (Hebräisch). Die hebräische Sprache spielte im Lager eine sehr wichtige Rolle und ein grosser Teil der täglichen Zeit war dem Erlernen dieser Sprache gewidmet. Um 11.00 Uhr wird die immer aktuelle “Araberfrage” diskutiert und um 16.45 Uhr ein Esrah Rischonah (Erste Hilfe)-Kurs durchgeführt. Der Tag endet mit einem Lagerfeuer und Neschef (hebräisch für Abschlussball).

Am eindrücklichsten sind vielleicht die Berichte der Jungen und Mädchen, die in dieser Broschüre vorgestellt werden. Sie sprechen über ihre Erlebnisse im Lager, wie es Jugendliche eben tun, aber die zionistische Haltung, die immer im Hintergrund bleibt, ist nicht zu übersehen. Das Sommerlager sollte vor allem das Leben in Palästina simulieren und auf die Alija (Einwanderung) vorbereiten, und so war es nicht nur Spiel und Spass, sondern auch harte Arbeit. Ein Beispiel sind die Worte der jungen Eva W. aus Zürich, die ihren Beitrag mit “Es ist nicht leicht” überschrieben hat.

Bis jetzt ging ich in die Sommerfrische, um mich zu erholen, alles Anstrengende wegzuwerfen, Bergtouren zu machen und sonstigen Vergnügungen nachzugehen. – Diese 3 Woche sind eine Probe für alle. Kann ich körperliche Arbeit verrichten?
Unsere 7 Zelte stehen auf einer grossen Wiese, die auf der einen Seite von einem Wald begrenzt ist. Ich liege am Waldrand und betrachte mit Augen und Verstand das Lager.
Inmitten der Zelte flaggt die grosse, blau-weisse, zionistische Fahne mit dem Magen David. Jüngere und ältere Chawerim führen ernste und lustige Gespräche; man hört Hammerschläge, immer tönen hebräische Lieder herüber […] Wir leben hier bei körperlicher Arbeit, die uns von Haus aus fremd ist, in den Schweizerbergen, aber die Arbeit, die wir leisten, gilt Palästina.

Einen etwas lustigen und sehr jugendlichen Beitrag lesen wir von Eli und Sari aus Zürich, die von ihrer ersten Nachtwache erzählen:

Ein weiteres interessantes Erlebnis schildert Elischewa, ein junges Mädchen aus Frankfurt. Der Kibbuz fand während des jüdischen Trauertages Tischa Be-aw statt und sie schrieb über ihre Erfahrungen in diesem Zusammenhang:

Kibbuz Hanoar war ein grosser Erfolg und wurde noch dreimal in der Schweiz wiederholt, bis die Situation der Juden in Europa dies verhinderte. Im Jahre 1937 fand er zum letzten Mal in Grindelwald statt, nun nur noch für Jugendliche aus der Schweiz. Jugendliche aus anderen europäischen Ländern würden sich tragischerweise zum Teil in einer anderen Art von Lager wiederfinden.

Letzte Seite der Broschüre mit dem hebräischen Wort “Schalom”

Oded Fluss. Zürich, 30.11.2023

Die Reichspogromnacht in den Schweizer Medien.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 kam es in Deutschland zu einem der grausamsten und schrecklichsten Ausbrüche von Hass und Antisemitismus gegen die deutschen Juden. In einer scheinbar spontanen, aber von den Führern des NS-Regimes, allen voran Joseph Goebbels, wohl geplanten Aktion kam es zu einem flächendeckenden Angriff auf jüdische Menschen, Einrichtungen, Geschäfte, Friedhöfe und vor allem Synagogen. Die deutschen Juden mussten hilflos mit ansehen, wie ihre Mitmenschen ermordet und angegriffen und ihre Häuser und Geschäfte geplündert und niedergebrannt wurden, weil Polizei und Feuerwehr angewiesen waren, ihnen nicht zu helfen.

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Die brennende Synagoge in Siegen während der ‘Reichspogromnacht 10.11.1938

Der Hauptvorwand der Nazis für diese Angriffe war das Attentat auf den deutschen Nazi-Diplomaten Ernst vom Rath am 7. November 1938 in Paris durch den polnischen Juden Herschel Grynszpan als Vergeltung für die Deportation seiner ganzen Familie im Rahmen der Polenaktion. Joseph Goebbels nutzte die Propagandamaschinerie der Nazis, um es so aussehen zu lassen, als sei das Attentat im Namen aller Juden als Angriff auf Deutschland geplant gewesen. Raths Tod wenige Tage später war das Signal für die Nazimassen, den grausamen Angriff auf ganz Deutschland zu beginnen.

Die Pogrome gegen die Juden wurden von den Medien weltweit fast einhellig verurteilt. In diesem Artikel geben wir einen Überblick über die Reaktionen und die Berichterstattung der Schweizer Medien – sowohl der allgemeinen als auch der jüdischen – über diese Nacht und die folgenden Tage.

In der Morgenausgabe der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) vom 9. November findet sich ein erster Hinweis auf die Ereignisse in Deutschland, allerdings unter dem Thema des Attentats an Ernst vom Rath. Interessanterweise beziehen sich die Schweizer Medien auch auf ein anderes Attentat, das vor etwas mehr als drei Jahren in Davos von David Frankfurter verübt wurde, der den Landesgruppenleiter Wilhelm Gustloff ermordete (Mehr dazu in einem unserer früheren Beiträge: https://breslauersammlung.com/2022/09/01/david-frankfurter/). Unter dem Untertitel Vergeltungsmaßnahmen gegen die deutschen Juden erwähnt der Artikel die Sofortmassnahmen gegen die Juden, wie das Verbot jüdischer Zeitungen und den Ausschluss jüdischer Schüler von nicht-jüdischen deutschen Schulen.

Am gleichen Tag berichtet das Oberländer Tagblatt in Thun über “antisemitische Exzesse in Deutschland”. Neben der Warnung vor den Folgen des Pariser Attentats für die deutschen Juden wird auch von der Aufforderung des deutschen Polizeipräsidenten an die Juden berichtet, alle in ihrem Besitz befindlichen Waffen abzugeben.

Am nächsten Tag, dem 10. November, berichtet die NZZ über die Panik, die sich in deutschen jüdischen Gemeinden ausbreitet. Unter der Überschrift Die Lage der Juden in Berlin berichtet der Artikel von zahlreichen Juden, die nach dem Attentat auf Ernst vom Rath und den harten Massnahmen des deutschen Regimes zur Bestrafung der deutschen Juden aus Deutschland zu fliehen versuchen. Unter dem Untertitel Judenfeindliche Ausschreitungen berichtet die NZZ von ersten Ausschreitungen gegen Juden in Berlin, bei denen vor allem jüdische Geschäfte beschädigt werden. Aus München wird bereits vom Brand einer Synagoge und aus Dessau von “spontanen Demonstrationen” gegen Juden berichtet, die von der Polizei geschützt werden.

In einer späteren Ausgabe der NZZ wird unter der Überschrift Vergeltungsaktion gegen die deutschen Juden und dem Untertitel Eine Schreckensnacht in Berlin über die Zerstörung und Plünderung jüdischer Geschäfte und die Inbrandsetzung mehrerer Synagogen berichtet, wobei die Konstanzer Synagoge im Mittelpunkt steht.

Die Konstanzer Synagoge vor und nach dem Brand.

Am 11. November erreichten die ersten Nachrichten über das Ausmass der Schrecken der vergangenen Nacht die Schweiz. Unter dem Titel Die Aktion gegen die Juden in Deutschland berichtet die NZZ über die Gräueltaten dieser Nacht. Die meisten Einzelheiten betreffen die Zerstörung und Plünderung jüdischen Eigentums und jüdischer Geschäfte, aber auch die Evakuierung der Juden aus ihren Häusern durch die Nazis, die Untätigkeit von Polizei und Feuerwehr und die Gleichgültigkeit der deutschen Mitbürger gegenüber diesen Ereignissen. Wir hören auch, dass fast alle Synagogen in Deutschland niedergebrannt wurden.

Die NZZ bringt eine Falschmeldung über die jüdischen Besitzer des Bekleidungsunternehmens Bamberger & Hertz in Leipzig, die die Situation in Deutschland ausnutzen wollten, um die Versicherung zu betrügen und ihr eigenes Geschäft niederzubrennen. Dies wurde später als Propagandalüge der Nazis entlarvt. Die Firmeninhaber wurden im KZ Riga-Kaiserwald und im KZ Theresienstadt ermordet.

Ebenfalls am 11. November findet sich in der Berner Tagwacht ein Bericht mit dem Titel Judenpogrome in Deutschland. Neben dem, was wir schon in der NZZ gelesen haben ( hier allerdings ausführlicher), lesen wir auch über die Nazi-Gesänge “Jude verrecke” und “Tod den Juden”, die die Pogrome begleiteten. Wir lesen auch über den jüdischen Bankier Emil Krämer, der nach der Zerstörung seiner Bank und seines Hauses zusammen mit seiner Frau Selbstmord beging.

Die Tagwacht bringt auch die Rede von Joseph Goebbels, in der er alle Gewalt und Misshandlung der Juden rechtfertigt und weitere gesetzliche Massnahmen gegen sie verspricht. Wir hören auch vom Protest des Jüdischen Weltkongresses in Genf, der die Ermordung vom Raths verurteilt, aber die Nazis als die Schuldigen für das, was dazu geführt hat und für das, was noch folgen wird, sieht.

Nun zu den jüdischen Medien in der Schweiz: Die beiden grössten und meistgelesenen jüdischen Zeitungen in der Schweiz waren damals die Jüdische Pressezentrale Zürich und das Israelitische Wochenblatt, die keine Tages-, sondern Wochenzeitungen waren. Der 11. November, als die meisten Schweizer Zeitungen bereits auf dem neuesten Stand waren, war für beide die erste Gelegenheit, ihre Lesenden über die Situation der deutschen Juden zu informieren. Überraschenderweise beginnen beide Zeitungen nicht auf der ersten Seite mit den Nachrichten aus Deutschland. Die Jüdische Pressezentrale bringt sie auf der zweiten Seite, das Israelitische Wochenblatt auf der fünften. Beide Zeitungen konzentrieren sich mehr auf das Attentat in Paris, das nun fast schon eine Woche zurückliegt, als auf die Situation der deutschen Juden.

Unter dem Titel Das Attentat in Paris bringt das Israelitische Wochenblatt vom 11. November 1938 zunächst die Geschichte des Attentäters Herschel Grynszpan. Obwohl die Zeitung den Mord verurteilt, berichtet sie im Gegensatz zu anderen überlieferten Zeitungen voller Empathie die ganze Geschichte Grynszpans und seiner Familie. Sie geht sogar so weit, den Brief der Familie Grynszpan zu zitieren, in dem sie die tragische Geschichte ihrer Vertreibung aus Deutschland erzählt.

Über die Situation der deutschen Juden nach dem Attentat macht die Zeitung keine Angaben, aber sie weiss, dass die Nazis das Attentat sicher zu ihrem Vorteil ausnutzen werden und dass alles, was danach mit den deutschen Juden geschieht, bereits gut geplant ist.

Auch die Pressezentrale vom 11. November geht nicht näher auf die Ereignisse in Deutschland ein. Sie verurteilt das Attentat von Grynszpan und betont dessen Sinnlosigkeit. Vor allem aber versucht sie, den Schweizer Juden Worte des Trostes und der Ermutigung zu vermitteln und dem jüdischen Schicksal durch die Hilfe der Mitjuden einen Sinn zu geben.

Eine Woche später ist alles anders. Beide Zeitungen veröffentlichen auf ihren Titelseiten einen Aufruf zu einem allgemeinen Fasttag nach den Gräueltaten an den deutschen Juden. Der Aufruf ist von allen Rabbinern der Schweiz unterzeichnet.

Unter der Überschrift Unsagbares ist geschehen berichtet das Israelitische Wochenblatt am 18. November auf der Titelseite von den tragischen und schrecklichen Ereignissen der Nacht des 9. November. Der Schock über das Grauen zieht sich durch den ganzen Artikel. Es scheint, als hätten selbst die grössten Pessimisten nicht geglaubt, dass ein Pogrom diesesn Ausmasses und dieser Grausamkeit stattfinden könnte. Die Geschichten werden sehr persönlich und einfühlsam erzählt, und ein Aufruf zum Handeln, zum Helfen – auch wenn man nicht weiss wie – beherrscht die Zeilen.

Die Ereignisse der Nacht werden nun in ihrer Gesamtheit dargestellt, jede Stunde des Geschehens wird gezählt. Die Geschichte der Opfer, derer, die körperlich verletzt oder ermordet wurden, und derer, die alles verloren und in Konzentrationslager deportiert wurden, wird sehr detailliert erzählt. Auch die Verantwortung der NS-Führung wird nicht ausgespart. Die beispiellosen Proteste aus aller Welt werden ebenfalls dargestellt.

Eine andere Haltung nimmt die Pressezentrale vom 18. November ein. Im Hauptartikel Das deutsche Judentum rechtlos und wehrlos geht sie auf die innen- und weltpolitischen Folgen der Ereignisse in Deutschland ein. Der Autor, der Jurist Dr. O. Z., befasst sich mit den historischen und finanziellen Auswirkungen des Ereignisses ein und stellt die Neutralität der Schweiz in Frage.

Breiten Raum nimmt auch die Berichterstattung über die Reaktionen auf das Pogrom in der Welt ein, sowohl von Prominenten als auch von offiziellen Stellen der Länder. Zwei Seiten mit dem Titel Zeugen einer vergangenen Epoche zeigen zahlreiche Bilder von Synagogen, die während des Pogroms zerstört wurden.

In einem Beitrag, den wir vor einigen Jahren geschrieben haben, konnten Sie die Auswirkungen des Novemberpogroms von 1938 auf das Rabbinerseminar in Breslau sehen, aus dessen Bibliothek eine Sammlung von Büchern erhalten geblieben ist, die wir in unserer Bibliothek aufbewahren: https://breslauersammlung.com/2021/11/03/zum-gedenken-an-das-novemberpogrom-1938/

Oded Fluss. Zürich , 9.11.2023

Lobagola: Die verzwickte Geschichte eines jüdischen afrikanischen “Wilden”.

Bata Kindai Amgoza Ibn Lobagola ca. 1911

Anfang der 1930er Jahre ging eine Sensation durch die jüdische Welt. Eine Autobiografie, die zunächst auf Englisch erschien und kurz darauf ins Deutsche übersetzt wurde, avancierte schnell zum Bestseller. Der Titel des Buches: Lobagola. Der Untertitel: Die Geschichte eines afrikanischen Wilden, seine Erlebnisse in den Urwäldern Afrikas, seine Kämpfe mit Leoparden, Affen, Schlangen und weißen Menschen.
Doch das Erstaunlichste sollte noch folgen:

Dies ist die Autobiographie von Bata Kindai Amgoza Ibn Lobagola, einem schwarzen Juden, einem Nachkommen der verlorenen Stämme Israels, einem Wilden, der aus dem afrikanischen Busch in die Länder moderner Zivilisation kam und sich seitdem als Fremdling erkannte, fremd unter seinem eigenem Volk und fremd in der Welt des Zwanzigsten Jahrhunderts
Lobagola : die Geschichte eines afrikanischen Wilden, seine Erlebnisse in den Urwäldern Afrikas, seine Kämpfe mit Leoparden, Affen, Schlangen und weissen Menschen : [von ihm selbst erzählt]. Hagenberg Verlag. Wien, [ca. 1934]. D 1733.

In seinen eigenen Worten und mit vielen Details erzählt Lobagola die erstaunliche Geschichte seiner Kindheit. Geboren wurde er im Dorf Nodaghusa im Ondo-Busch im französisch kolonisierten Sudan, drei Tagesmärsche von Timbukto entfernt. Die Häuser waren aus Bambus gebaut und mit Kokosfasern gedeckt. Das Wetter war extrem, manchmal bis zu 55 Grad im Schatten. Zwischen Juni und August konnte es sechs Tage lang ununterbrochen regnen. Die unmittelbaren Feinde der Dorfbewohner waren Elefanten, Reptilien, Löwen, vor allem aber die Affen:

Die großen Affen sind die geschworenen Feinde der Menschen. Oft überfallen sie die Gemeinden und richten großen Schaden an. Wenn es den Affen gelingt, in ein Dorf einzudringen, so zerstören sie es, und wir müssen ein neues aufrichten. Sie ziehen in Herden oder Stämmen von drei- bis vierhundert einher. Kommen sie in eine Einzäunung, so reißen sie die Pfähle heraus, auf denen das Haus steht und zerstören alles, was ihnen in die Hände kommt. Erwischen sie ein menschliches Wesen, so reißen sie es in Stücke, nicht weil sie es fressen wollen, sondern weil Zerstören und Töten ihnen Vergnügen macht.

Lobagola weiss auch viel über seine jüdische Herkunft zu erzählen. Er stammt aus einem Volk, das sich selbst “Bnei Ephraim” nennt, einer der zehn verlorenen Stämme Israels. Sie brachten die Tora nach Afrika, nachdem sie vor mehr als 1800 Jahren aus dem Heiligen Land vertrieben worden waren. Ihre Tora ist in aramäischer Sprache geschrieben und nicht mit Tinte, sondern mit glühendem Eisen auf Pergament gebrannt. Deshalb kann keine Buchseite verändert werden. Sie kennen nur die Tora, nicht den Talmud. Ihre Zahl beläuft sich auf etwa 2000 Personen, die von sieben Rabbinern angeführt werden, die ihren Titel innerhalb der Familie weitergeben; niemand kann zum Rabbiner gemacht werden, man muss als Rabbiner geboren werden. Über die Feiertage und Rituale schreibt er:

Unsere Feste sind: Pessach, Schewuoth, Rosch-Haschanah, Yom Kippur und Sukkoth. Wir brauchen keine Speisegesetze, da wir niemals Fleisch essen und nie Milch trinken. Es gibt für uns nicht das Problem des Mischens von Milch und Fleisch. Wir essen Fleisch nur während des Pessach-Opfers, und auch da essen es nur die sieben Rabbiner und ihre Familien, nicht das Volk. Unser Volk beschneidet seine Knaben im Alter von acht Tagen, wobei es den Ritus nach dem Buchstaben ausführt.

Die Geschichte geht weiter und Lobagola erzählt, wie er fast zufällig aus dem wilden Afrika herauskam und schliesslich die ganze Welt bereiste, sie mit den Augen eines Wilden erlebte, aber es auch schaffte, die westliche Kultur zu lernen und sich ihr anzupassen. Sein Buch ist voll von unglaublichen Geschichten und Abenteuern, aber eine ist besonders interessant: Während des Ersten Weltkriegs hörte er von weissen Juden, die in der jüdischen Legion am Krieg teilnahmen. Er beschloss, sich ihnen anzuschliessen, und kämpfte Seite an Seite mit ihnen bei den britischen Bemühungen, Palästina vom Osmanischen Reich zu erobern. Er sollte der einzige Schwarze in der jüdischen Legion sein, und obwohl er nach dem Krieg in Palästina bleiben wollte, wurde ihm dies verwehrt.

Ich wünschte, in Palästina zu bleiben, aber der jüdische Oberst widersetzte sich dem und erklärte, ich sei ein Mensch von schlechtem Charakter. Da mein Leumundszeugnis seine Behauptung widerlegte, bestritt ich das in einem an das Generalhauptquartier gerichteten Protest. […] Aber letzten Endes erreichte dieser Oberst sein Ziel — wenigstens vorübergehend. (Ich erlebte es, ihn viel später in Palästina wieder zu treffen, wo er mir den Aufenthalt mit solcher Erbitterung streitig gemacht hatte.) Demzufolge wurde ich zur Demobilisierung nach England geschickt.
Wladimir Zeev Jabotinsky

Wie man sich vorstellen kann, wurden viele Augenbrauen hochgezogen, als die sensationelle Autobiographie von Lobagola veröffentlicht wurde. Sie war das Gesprächsthema des Tages, aber viele zweifelten an ihrer Authentizität. Der Kritiker der New York Times Robert L. Duffus war berühmt für seine Aussage: “Die einzige Möglichkeit, dass diese Geschichte wahr ist, ist, dass es unmöglich ist, eine so verrückte Geschichte zu erfinden”. Ein Teil der Geschichte wurde jedoch von einer überraschenden Quelle als wahr bestätigt. Der berühmte Zionist und Schriftsteller Wladimir Zeev Jabotinsky (1880-1940) war auch der Gründer der jüdischen Legion im Ersten Weltkrieg. In einem Artikel, der am 19.12.1930 in der jiddischen Zeitung Haynt unter dem Titel “Legionär Lobagola” erschien, berichtet er von seiner Begegnung mit dem afrikanischen Wilden während seiner Dienstzeit.

Lobanola ist eine wirkliche Gestalt von Fleisch und Blut; eine Menge seiner merkwürdigen Schilderungen wird man gewiss bezweifeln ein Abschnitt darin aber ist unantastbare Wahrheit und ich bin sein Zeuge: er ist der afrikanische Wilde Soldat in der jüdischen Legion gewesen und hat bei uns in Erez Israel gedient!
W. Jabotinsky – Legionär Lobagola. Haynt. Warschau, 19.12.1930

Obwohl Jabotinsky Lobagolas Geschichte als sehr einfühlsam empfand und sein Buch als “eines der stärkesten, wirkungsvollen, die ich in den letzten Jahren zu lesen Gelegenheit hatte” bezeichnete, zweifelte er auch an den meisten Aussagen, vor allem an Lobagolas jüdischer Herkunft. Er erzählt von einem Freund, der Lobagola ebenfalls kannte und zu ihm zu sagen wusste:

Er ist ein Jude, wie ich ein Toter bin. Und Westafrika hat er in seinem Leben nicht gesehen. Er hat euch alle zum Narren gehalten. Lobagola ist ein gewöhnlicher amerikanischer “Nigger”. einer jener unzähligen schwarzen Badchonim [Komiker], die in den unzähligen “Music-Halls” von America auftreten. Ich selbst sah ihn in einer Music-Hall irgendwo in Saint Louis und half ihm daraus einer Missverständnisaffäre mit der Polizei, ohne dass er davon Erwähnung tat , er halte sich für einen Juden.


Und tatsächlich: 1934, als er kurz vor der Deportation in seine “Heimat” stand, gestand Lobagola schliesslich die Wahrheit: in Wirklichkeit war er in Baltimore, USA, geboren. Sein richtiger Name war Joseph Howard Lee. Seine Herkunftsgeschichte und seine Religion waren erfunden. Sein Charisma und sein schauspielerisches Talent ermöglichten es ihm, fast jeden, den er traf, zum Narren zu halten. In den vier Jahren nach der Veröffentlichung seines Buches, das in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde, erschien er in unzähligen Zeitschriften und wurde sogar zu Vorträgen an Universitäten in der ganzen Welt eingeladen.

Norwegische Ausgabe des Buches

Über das Schicksal des Mannes, der sich Lobagola nannte, ist wenig bekannt. Nach seiner Enttarnung schien er von der Bildfläche verschwunden zu sein. Sein Buch, das aus dem Nichts auftauchte und die Welt im Sturm eroberte, verschwand noch schneller in der Versenkung. Seine sterblichen Überreste befinden sich heute in Parzelle 29 des Attica-Gefängnisses in New York, was darauf hindeutet, dass er dort als Gefangener starb.

Logabola signiert sein Buch in einer Schule in New York. ca. 1930.

Oded Fluss. Zürich. 25.10.2023

Rosinkes mit Mandlen – Jüdische Schlaflieder und Gedichte

Sie sind das Letzte, was wir vor dem Einschlafen hörten und der Hintergrundton unserer Kindheitsträume. Sie prägten unsere ersten Erinnerungen, manchmal sind ihre Worte und Melodien die ersten, die wir nachsprechen können. Wiegen- und Schlaflieder sind ein wichtiger Teil unserer Identität, der unserer Vorfahren und unserer Nachkommen, der persönlichen und der kollektiven Identität.
Das wohl bekannteste jüdische Wiegenlied ist Rosinkes mit Mandlen [Rosinen mit Mandeln].

Unter Yideles vigele, אונטער יידעלעס וויגעלע
Shteyt a klor-vays tsigele, שטייט א קלאר וייס ציגעלע
Dos tsigele iz geforn handlen – דאס ציגעלע איז געפארן האנדלען
Dos vet zayn dayn baruf: דאס וועט זיין דיין בארוף
Rozhinkes mit mandlen. ראזשינקעס מיט מאנדלען

Dieses jiddische Volkslied wurde erstmals 1880 von Abraham Goldfaden (1840-1908) in seinem berühmten Theaterstück Sulamith bearbeitet und auf die Bühne gebracht und seither in zahlreichen Fassungen und immer wieder neu komponiert. In ihrem Buch Memoiren einer Grossmutter erzählt Pauline Wengeroff (1833-1916), wie das Kindermädchen ihres Neffen dieses Lied sang:

Ein sehr schönes, naives Schlaflied schrieb die junge Mascha Kaléko (1907-1975) zur Geburt ihrer kleinen Schwester Rachel (Puttel genannt). Das Lied Einem Kinde im Dunkeln wurde 1933 in Kalékos ersten Gedichtband Das lyrische Stenogrammheft veröffentlicht. Es handelt von der Angst kleiner Kinder von der Dunkelheit und dem Alleinsein und einfachen, vertrauten Gegenständen wie Blumen, Bäumen und dem Mond.

Manchmal werden diese Lieder aber auch zu Gedichten und enthalten Botschaften und Moral, Humor und Kritik, während sie ihre “kindliche” Form und Sprache behalten. Wie in vielen anderen Fällen ist die Zielgruppe nicht das Kind, sondern die Eltern, die sie vorlesen. Statt Liedern, die die Kinder ins Bett bringen, sind es eigentlich Gedichte, die Themen behandeln, die den Eltern den Schlaf rauben. Jüdische Gedichte dieser Art haben oft traditionelle Themen, die sich auf die Bibel, aber auch auf aktuelle Ereignisse beziehen.

Schlaflied für Mirjam des Dichters und Schriftstellers Richard Beer-Hofmann (1866-1945) ist eines seiner bekanntesten und berühmtesten Gedichte. Er schrieb es 1897 zum Geburtstag seiner Tochter Mirjam und veröffentlichte es ein Jahr später, am 15. November 1898, erstmals in der Zeitschrift Pan. Es erlangte schnell Weltruhm wurde mehrfach komponiert und selbst Rainer Maria Rilke soll es auswendig gekannt haben.

Max Ettingers Komposition von Schlaflied für Mirjam aus der Max Ettinger Sammlung der ICZ Bibliothek.


Das Besondere an diesem Gedicht ist, dass es, obwohl es in Struktur und Sprache sehr einfach ist, sehr ernste Themen wie Tod und Gefahr vermittelt und voller Melancholie ist. Das Kind soll das Gedicht nur in seiner Melodie, in seinem “Schall” erleben: “Schlaf mein Kind – und horch nicht auf mich!/ Sinn hat’s für mich nur, und Schall ist’s für dich!”. Es soll die Worte, den Sinn des Gedichts noch nicht verstehen, und darin liegt auch der Trost.

Fritz Rosenthal (Ben-Chorin) – Das Mal der Sendung. B. Heller Verlag. München, 1935

Ein weiteres interessantes jüdisches Gedicht dieser Art ist Ruths Schlaflied von Fritz Rosenthal, bei uns besser bekannt unter dem Namen Schalom Ben-Chorin (1913-1999). Das Gedicht erschien erstmals 1935 in Ben-Chorins erstem Gedichtband Das Mal der Sendung, einem für die damalige Zeit bahnbrechenden Buch, das jüdische Geschichte, Sagen und aktuelle Ereignisse in poetischer Form miteinander verband. In einer für die deutschen Juden sehr sorgenvollen Zeit sollte es Hoffnung und Trost spenden und zum Handeln aufrufen.

Das Gedicht basiert auf dem biblischen Buch Ruth, wie man an den Namen der Personen leicht erkennen kann. Die Mutter Ruth singt dieses Lied für ihren Sohn Owed, der der Überlieferung nach der Grossvater des Königs David sein soll. Das Landschaftsbild sind die Jehuda-Berge und die Motive sind, wie im Buch Ruth, die Natur, die Ernte und die offenen Felder. Der “Meschiach”, der im letzten Vers erscheint, ist sowohl König David als auch das Ideal der zionistischen Bewegung, die ihr Erlösung im verheissenen Land finden will.

Selma Meerbaum-Eisinger

In ihrem kurzen Leben von 18 Jahren schrieb Selma Me(e)rbaum-Eisinger (1924-1942) 52 Gedichte in ein Album, das nach ihrem tragischen Tod entdeckt wurde. Von diesen 52 Gedichten tragen fünf den Titel Schlaf- oder Wiegenlieder. Meerbaum-Eisinger wurde in Czernowitz als Tochter einer deutschsprachigen Familie geboren. Schon in jungen Jahren begann sie Gedichte zu schreiben, die sie meist ihrem Geliebten Leiser Fichman widmete. Sie sind von unvergleichlicher Authentizität und poetischer Kraft und beschreiben ihre Träume und ihren Schmerz. Selma überlebte das Czernowitzer Ghetto, aber nicht den Holocaust. Sie starb 1942 im Alter von 18 Jahren im Konzentrationslager Michailowka an Typhus.

Glücklicherweise hat ihr Gedichtalbum Blütenlese überlebt, aus dem wir das Gedicht Schlaflied zitieren, das sie im Januar 1941 schrieb, kurz vor ihrer Deportation und ihrem frühen Tod. Das Gedicht zeigt die grosse Originalität ihres Werkes, die Schönheit und die verborgene Düsternis wenn der Schlaf dem Erwachen vorgezogen wird. In all ihren Schlafliedern versuchte Meerbaum-Eisinger nicht nur den kleinen Kindern, sondern auch den grossen Kinder (wie ihr selbst) Trost und Einfühlungsvermögen zu vermitteln. So heisst es in einem von ihr aus dem Jiddischen übersetzten Gedicht von H. Lejwik: “Kleine Kinder schlafen schon,/ große muss man wiegen”.

Das nächste Gedicht, Schlaflied für ein Emigrantenkind, erschien am 4. Januar 1940 in der deutschsprachigen Exilzeitung Aufbau in New York. Der Autor ist Günther (Stern) Anders (1902-1992), Philosoph, Dichter und erster Ehemann von Hannah Arendt. In diesem Gedicht ist bereits eine direkte kritische Auseinandersetzung mit dem damals aktuellen Thema Exil und Emigration zu erkennen. Die sich wiederholende erste Zeile jeder Strophe: “Schlaf, mein gutes Kind”, die an ein gewöhnliches Schlaflied erinnert, löst beim Lesen des restlichen Verses Befremden aus, denn es geht um Entwurzelung, um den Verlust des Vaters und vor allem um die Endlosigkeit dieser Situation, da das Kind selbst zum Vater wird.

Einen ähnlich kritischen Ton, nun aber wie an das Kind selbst gerichtet, finden wir in dem Gedicht Schlaflied des Exildichters Hans (Salomon) Sahl (1902-1993), das erstmals 1942 in seinem Gedichtband Die hellen Nächte in New York erschien. Dieses sehr kurze Gedicht wirkt fast grausam, da es das weinende Kind als jemanden anspricht, der lernen sollte, schnell erwachsen zu werden. Es ist natürlich mehr eine Kritik an der Zeit, die dies von dem Kind verlangt, als an dem Kind selbst.

Um den Kreis zu schliessen, bringen wir das Gedicht Schlaflied für eine deutsche Mutter des Schriftstellers, Journalisten und Publizisten Friedrich Torberg (1908-1979), das 1. Juni 1945 kurz nach Kriegsende in der Exilzeitung Aufbau erschien. Torberg zitiert eine deutsche Mutter (aus dem Time Magazine, April 1945), die erleichtert ist, als ihr Sohn in amerikanische Gefangenschaft gerät und sagt, dass sie nun “wieder ruhig schlafen” kann. Indem er die deutsche Mutter als Objekt benutzt, kritisiert er in diesem Gedicht das ganze deutsche Volk, das selbst während der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten nachts ruhig schlafen konnte.

Oded Fluss. Zürich, 12.10.2023

Juden in der Synagoge am Jom Kippur

Es gibt wohl kein anderes Bild, das mehr mit Jom Kippur verbunden ist. Maurycy (Moritz, Moses) Gottliebs Juden in der Synagoge am Jom Kippur aus dem Jahr 1878 ist eine der tiefgründigsten, philosophischsten, psychologischsten, aber auch autobiografischsten Darstellungen des Versöhnungstages. Es ist auch eines der farbenprächtigsten Porträts der polnischen Juden und Jüdinnen im 19. Jahrhundert – wie sie waren und wie sie sich selbst sahen – und ist daher von historischer und ethnologischer Bedeutung für das Studium der Kultur dieser Zeit.

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Maurycy Gottlieb (1856-1879)

Maurycy Gottlieb wurde 1856 im westgalizischen Drohobych als eines von elf Kindern einer bürgerlich-traditionellen jüdischen Familie geboren. Sein Geburtsort, in dem sich verschiedene Religionen, Kulturen und Sprachen vermischten, sollte sein Leben entscheidend prägen. Ein gutes Zeichen dafür sind die drei Vornamen, unter denen er bekannt ist: der jüdische Moses, der deutsche Moritz und vor allem der polnische Maurycy.

Gottlieb Selbstporträt in polnischer Adelstracht

In seiner Jugend besuchte er eine Jeschiwa und später eine deutschsprachige Schule (Drohobytsch gehörte damals noch zur österreichisch-ungarischen Monarchie). Sein künstlerisches Talent wurde sofort erkannt und er wurde an die Akademie der bildenden Künste in Wien geschickt. Dort entdeckte er paradoxerweise Polen wieder, als er eine Ausstellung des Malers und polnischen Patrioten Jan Matejko besuchte. Der damalige Direktor der Krakauer Kunstakademie wurde später Gottliebs Inspirationsquelle und Lehrer. An der Krakauer Kunstakademie war er aber auch dem Antisemitismus seiner Mitstudenten ausgesetzt. In dieser Zeit las er die Geschichte der Juden von Heinrich Graetz, die ihn tief beeindruckte.

Gottlieb (links) neben seinem Gemälde von Shylock und Jessica.

Diese gespaltene Seele eines deutschsprachigen polnischen Juden war ein entscheidender Faktor in Gottliebs kurzen Leben und hat seine Kunst stark beeinflusst. Er malte überlebensgrosse historische Porträts, in die er aber immer die verschiedenen Teile seiner Identität, manchmal auch seiner Biografie, mit einbezog, da die Figuren die Gestalt von Personen annahmen, die er kannte, oder in vielen Fällen von sich selbst. Die Themen, die er malte, waren fast immer Grenzfälle: ein Porträt von Shakespeares Shylock und seiner Tochter Jessica, von Uriel Acosta und seiner Frau, ein Selbstporträt von sich als Ahasver, der ewige Jude.

Maurycy Gottlieb – Ahasver. Muzeum Narodowe w Krakowie

Sein wohl bekanntestes Gemälde ist jedoch Juden in der Synagoge am Jom Kippur, das er kurz vor seinem frühen Tod im Alter von nur 23 Jahren fertigstellte. Gottlieb selbst hatte an Jom Kippur ein lebensveränderndes Erlebnis, das er später als seine erste Sünde bezeichnete. Als junger Gymnasiast malte er – um sich nicht von den anderen Schülern zu unterscheiden – auch an diesem heiligsten aller jüdischen Tage:

Später an diesem Tag kam ich mit einem schrecklichen Schuldgefühl nach Hause, das mein Gewissen überflutete. Als man mich fragte, wo ich gewesen sei, wurde ich zuerst rot, dann blass, und meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich wusste keine Antwort.
Gottliebs Gemälde auf einer israelischen Briefmarke (1975).

Dieses Gemälde, das viele Jahre lang verschollen war und sich heute im Kunstmuseum von Tel Aviv befindet, erlangte Weltruhm. Im Gegensatz zu anderen romantischen Historiengemälden jener Zeit sind wir hier nicht Zeugen eines bestimmten historischen Ereignisses oder einer biblischen Szene, sondern eines universellen menschlichen Moments: betende Juden in einer Synagoge. Die Menschen, junge und alte Frauen und Männer, alle in einer Komposition versammelt, ohne dass sie zu einer Menschenmenge werden. Sie sind alle, jeder auf seine Weise, durch das Gebet miteinander verbunden, doch jeder mit seiner eigenen Bitte an Gott. Wer andere Gemälde von Gottlieb kennt, wird auf dem Bild Personen aus seinem Leben wiedererkennen, wie seine Schwester, seine Verlobte (die ihn verliess und ihm das Herz brach) und seinen Vater.

Die Figur Gottliebs erscheint dreimal auf dem Gemälde und repräsentiert seine persönliche Geschichte in drei verschiedenen Lebensaltern: Unten links ist ein junger Gottlieb zu sehen, sein Blick ist etwas abwesend und er trägt ein etwas unpassendes, aus der Zeit gefallenes orientalisches Gewand. Auch wenn es schwer zu erkennen ist, trägt der kleine Junge eine Halskette mit einem Davidstern und den Initialen מ. ג [M.G]. Unten rechts sehen wir einen Jungen im Bar Mitzwa-Alter, der mit einem älteren Mann liest. Die Ähnlichkeit mit dem Jungen links lässt vermuten, dass es sich auch hier um Gottlieb handelt, der zusammen mit seinem Vater dargestellt ist.

Die dritte und auffälligste Figur ist der junge Mann in der Mitte, der den derzeitigen Gottlieb darstellt. Sein hypnotisierender Blick ist sowohl nach aussen gerichtet, als ob er uns anschauen würde, als auch nach innen, als ob er sein Innerstes erforschen würde. Er trägt die gleiche Halskette wie der kleine Junge und traditionelle jüdische Kleidung, aber nicht wie die anderen: Die Farben sind nicht schwarz-weiss, sondern bunt und haben etwas Orientalisches. Man könnte sich vorstellen, dass das gestreifte, bunte Gewand des biblischen Josefs so aussah.

Durch diese drei Figuren setzt sich Gottlieb mit seiner Identität auseinander. Er ist sich seiner jüdischen Herkunft bewusst (die Figur von ihm und seinem Vater), aber er ist sich auch bewusst, dass er ein Aussenseiter ist.

Aber das ist nicht die einzige Art, wie Gottlieb auf dem Bild erscheint. Wenn man genau liest, was auf dem Toramantel in der Mitte steht, findet man Maurycy Gottlieb ein letztes Mal. In hebräischer Schrift steht da, als wäre er der Stifter der Torarolle:

“נדבה לזיכרון נשמת המנוח כבוד מורנו הרב רבי משה גאטליעב זצ”ל, שנת תרל”ח לפ”ק
Spende zum Gedächtnis an die Seele unsere Lehrer des Rabbiner Moshe Gottlieb sZ”l im Jahre 5638 (1878)

Diese Schrift, die zu ihrer Zeit viel Aufsehen erregte und sich als prophetisch erwies (es sollte das letzte Jahr in Gottliebs Leben werden), wurde dem jungen Maurycy Gottlieb selbst zweimal vorgelegt. Das erste Mal durch den Chirurgen und Zionisten Ruben Bierer (1835-1931), der Gottlieb danach fragte und die Antwort erhielt:

Genau an dieser Stelle meines Bildes angelangt, empfand ich ein Gefühl, dass ich dieser Welt entrückt bin und nicht weiter leben kann; da wollte ich wenigstens mein Andenken an dieser Stelle verewigen. (Selbst-Emancipation 19.9.1892)

Die zweite Person, die Gottlieb nach der Schrift fragte, war der hebräische Schriftsteller und Publizist Natan (Neta) Samueli (1843-1921), knapp acht Monate vor Gottliebs frühem Tod. In seiner Erzählung שתי אבני זכרון (Zwei Erinnerungssteine) berichtet er darüber:

Als ich ihn nach dem Grabstein fragte, den er zu Lebzeiten selbst gemacht hatte, antwortete er mir: “Ich habe nicht genug Worte, um diese Frage zu beantworten, und ich kann es mir auch nicht erklären. Während meiner Arbeit war ich in einer Stimmung, die ich nicht beschreiben kann. Manchmal schien es mir, als stünden hier vor mir die Schatten von Menschen, die von uns gegangen sind, und hier kehren sie zurück und schauen mich mit ihren toten Augen an, als wollten sie mich anflehen: ‘Mach uns wieder lebendig!’ Und ich zeichnete einige von ihnen aus der Erinnerung und einige von alten Familienfotos […] und wie diese Toten wurde mir plötzlich klar, dass auch ich nicht ewig leben werde, dass das Leben des Menschen auf dieser Erde kurz ist und dass ich bald zu dem Boden zurückkehren werde, von dem ich gekommen bin. Und dann stand plötzlich der Grabstein vor mir, und ich war verwirrt wie ein Mensch, der zu Lebzeiten seinen Grabstein sieht.”
(ha-Magid 18.11.1892)

Oded Fluss. Zürich 21.9.2023

Rabbi Amnon und das U-netane Tokef

…Hier aber, in der Synagoge, wird mit zerknirschtem Herzen unter Tränen der so bedeutungsvolle Unessane Taukef keduschas hajom gelesen. Die Engel zittern und rufen: „Das ist der Tag des Gerichts!” Die große Posaune wird geblasen. Und es wird bestimmt, wer im künftigen Jahr leben soll oder eines natürlichen Todes sterben oder meuchlings umkommen, wer verarmen oder reich, erhöht oder erniedrigt werden soll. Aber Reue, Gebet und Wohltaten befreien von bösen Geschicken.
(Aus Pauline Wengeroff – Memoiren einer Großmutter. Berlin, 1908)
U-netane Tokef aus Machzor le-Kol ha-Schana. Amsterdam, 1670. BH 1496.

Eines der bekanntesten und hoch beachteten Pijutim für Rosch ha-Schana und Jom Kippur ist U-netane Tokef. Dieses Pijut aus dem Genre des Siluk (aramäisch für Erhebung) wird von vielen als der Höhepunkt der Rosch ha-Schana Gebete in der Synagoge angesehen und hat einen wichtigen Platz in der jüdischen Tradition und Kultur eingenommen.

Israelitische Gebetordnung. Gottesdienst für Busstage, Neujahrsfest und Versöhnungstag. Stuttgart, 1878.

Auf sehr schöne, anschauliche und erschreckende Weise beschreibt dieses Pijut die Zeit der Jamim Noraim (die Zeit zwischen Rosch ha-Schana und Jom Kippur) als Zeit des Gerichts, und die Rolle Gottes als Richter in dieser Zeit. Es enthält viele bekannte Motive und Ideen, wie z.B. Gott auf seinem Thron sitzend, während er die Seelen seiner Geschöpfe prüft und ihnen ihr Urteil in sein Buch schreibt. Berühmt sind die erschreckenden Zeilen über die möglichen Arten des Todes: “Wer durch Feuer und wer durch Wasser, wer durch Krieg und wer durch Hungernot, wer durch Gewitter und wer durch Pest umkommen soll”. Ein etwas aktuelles Beispiel für den grossen Einfluss dieser Zeilen ist ihre Inspiration für das Lied “Who by fire” von Leonard Cohen.

Im Gegensatz zu anderen Pijutim der Jamim Noraim gibt es hier einen Schrei zu Gott, der sich nicht nur auf das israelitische Volk beschränkt, sondern universell ist und alles Leid beschreibt, das die Menschheit insgesamt kennt. Es handelt vom allmächtigen Gott im Gegensatz zur Ohnmacht und Nichtigkeit des Menschen. Der Weg zur Verbesserung des Schicksals ist nicht nur Busse und Gebet, sondern auch Hilfe für Bedürftige durch Zedaka (Almosen).

“Aber – Busse, Gebet und Almosen wenden das Böse Verhängnis ab”

Über den drei hebräischen Wörtern: Tschuba (Busse), Tefilla (Gebet) und Zedaka (Almosen) stehen in kleiner Schrift die drei parallelen Worte: Tzom (Fasten), Kol (Stimme) und Mamon (Geld). Damit sollen die wirklich wichtigen Dinge im Leben gestärkt werden und nicht die Mittel, um sie zu erhalten.

Jitzchak ben Moshe – Sefer Or Zarua. Schytomyr, 1862.

Über die Entstehung und vor allem über den Verfasser dieses Pijuts ist im Laufe der Jahre viel diskutiert worden. Als Verfasser wurde lange Zeit Rabbi Amnon von Mainz angesehen, der heute eher als fiktive Figur gilt. Die Geschichte oder Legende vom Märtyrer Rabbi Amnon erscheint in vielen Machzorim kurz vor oder als Anmerkung zum U-netane Tokef. Die älteste bekannte Quelle ist das Sefer Or Zarua von Rabbi Jitzchak ben Mosche aus Wien, das Mitte des 13. Jahrhunderts geschrieben und erstmals 1862 in Schytomyr gedruckt wurde.

Shai Agnon – Jamim Noraim. Schocken Verlag. Berlin, 1938. H 368

Diese Geschichte wurde später von dem Nobelpreisträger Shai Agnon in seinem berühmten Buch ימים נוראים Jamim Noraim aufgegriffen (wir haben darüber bereits berichtet, siehe Beitrag: https://breslauersammlung.com/2022/08/29/jamim-noraim/ ). Auf Deutsch erschien es in Michah Josef Bin Gorions (Berdyczewski) Der Born Judas. Diese Übersetzung bieten wir hier an:

In der Stadt Mainz lebte ein Lehrer namens R. Amnon, der war von edler Abkunft und ein sehr schöner Mann, auch begütert und angesehen unter seinen Zeitgenossen. Diesen R. Amnon suchte nun der Kurführst von Mainz zu überreden, den Glauben seiner Väter aufzugeben. R. Amnon neigte diesen Worten sein Ohr nicht; man fuhr jedoch fort, täglich dieses Ansinnen an ihn zu stellen. Als er eines Tages besonderes bedrängt wurde, antwortete R. Amnon, er wolle mit sich zu Rate gehen und werde seinen Entschluss nach drei Tagen mitteilen. Wie er aber das Haus des Statthalters verlassen hatte, reute es ihn, das er solche Worte hatte aussprechen können, und er war bekümmert.
Porträt des Hauses von Rabbi Amnon in Mainz, wie es 1891 in den Sabbat-Stunden abgebildet war.

Nach drei Tagen liess der Kurführst R. Amnon rufen, er aber weigerte sich, zu ihm zu gehen. Da wurde er wider seinen Willen abgeführt, und der Kursführst redete mit ihm hart. R. Amnon sagte: Ich will mein Urteil selbst sprechen: mir möge meine Zunge herausgeschnitten werden, die eine Lüge gesprochen hat. Das sagte er, weil er den Namen des Herrn heiligen wollte. Der Kurführst aber sprach: Nicht die Zunge ist schuld, denn sie hat die Wahrheit gesprochen, sondern die Füsse, die hierher nicht gehen wollten. Ich will sie abhacken und den Leib züchtigen. Und er gab Befehl, die Finger der Hände und die Zehen der Füsse einzeln abzuhauen. Bei jeden Gliede aber, das abgeschnitten werden sollte, fragte man R. Amnon, ob er seinen Sinn nicht ändern wolle, und er antwortete: Das will ich nicht tun. Als das Werk verrichtet worden war, befahl der Kurführst, R. Amnon auf eine Bahre zu legen und ihn nach Hause zu tragen. Die abgeschnittenen Glieder legte man zu dem Körper. Nicht umsonst hiess der Märtyrer Amnon, denn er bekundete den Glauben an den lebendigen Gott


Kurz darauf wurde das Neujahrsfest gefeiert, und R. Amnon liess sich ins Bethaus tragen. Als das Gebet der Gottesheiligung gesprochen werden sollte, sagte der Dulder zu dem Vorbeter: Lass mich den Namen des Herrn heiligen. Und er rief mir lauter Stimme und sprach: Unsere Heiligung möge zu dir aufsteigen, denn du bist unser Gott, o König. Danach sang er die von ihm verfasste Hymne: Lasset uns reden von des Tages Macht, welcher furchtbar ist und voller Schauer! Wie er aber den Gesang vollendet hatte, verschied er und entschwand den Blicken, denn Gott hatte ihn hinweggenommen. Nach drei Tagen erschien der Heilige dem Sohne Mesulems, Kalonymos, im Traum der Nacht, lehrte ihn die Hymne und befahl ihm, diese überall, wo die Kinder Israel gestreut wohnten, bekanntzugeben.
Seit der Zeit ist es Brauch, diese Hymne am Neujahresfest in den Synagogen vorzutragen.

Die Geschichte von Rabbi Amnon gilt als Legende, hat aber die jüdische Kultur enorm inspiriert. Sie wird nicht nur in zahlreichen Machzorim erwähnt, sondern hat auch Schriftsteller und Dichter angeregt, und die Märtyrerfigur des Amnon taucht in vielen Erzählungen und Gedichten auf. Der bereits erwähnte Shai Agnon verwendete die Figur des Rabbi Amnon beispielsweise in seiner Erzählung Jatom ve-Almana (Waise und Witwe) und in seinem Roman Nur wie ein Gast zur Nacht.

Abraham M. Tendlau – Das Buch der Sagen und Legenden jüdischer Vorzeit. Stuttgart, 1842.

Bereits 20 Jahre vor dem Druck in hebräischer Sprache im oben erwähnten Sefer Or Zarua erschien eine deutsche Bearbeitung dieser Erzählung in Abraham M. Tendlaus (1802-1878) Das Buch der Sagen und Legenden jüdischer Vorzeit, das erstmals 1842 erschien. Das in unzähligen Auflagen gedruckte Buch sammelte vor allem Geschichten und Legenden aus dem Talmud und dem Midrasch, enthielt aber auch mittelalterliche und frühneuzeitliche Sagenstoffe.

Die Geschichte mit dem schlichten Titel “Amnon” wird hier in einer persönlicheren Weise erzählt, die sich auf die subjektiven Gedanken des Rabbi Amnon und seine Interaktion mit seiner Frau konzentriert.

Leopold Stein – Amnon – eine jüdische Legende. Ostrows, 1854. BH 3659.

In der Breslauer Sammlung befindet sich das Buch Amnon, der Marthyrer und Verfasser des Unsanne Tokef des Rabbiners und Dichters Leopold Stein (1810-1882). Dieses lange Epos, zweisprachig in Deutsch und Hebräisch verfasst, ist ein gutes Beispiel für die populäre Verarbeitung jüdischer Legenden in Gedichten in dieser Zeit. Wie die oben erwähnte Bearbeitung von Tendlau handelt es sich auch hier um eine frühe Darstellung der Geschichte in poetischem Stil, noch bevor sie Eingang in den religiösen Kanon fand.

Ein weiteres schönes Beispiel, das in vielen Anthologien und Zeitschriften des frühen 20. Jahrhunderts zu finden ist, ist Rabbi Amnon von Adolph Donath (1876-1937), ein Gedicht aus seinen frühen sogenannten “Judenliedern”, die zwischen 1896 und 1897 entstanden. Donath, ein berühmter Kunstkritiker, Dichter und Zionist seiner Zeit, fasst die Geschichte Amnons in einem Gedicht wunderbar zusammen. Darin enthalten sind auch die wichtigsten Motive des U-netane Tokef.

Allgemeinde Zeitung des Judenthums . Berlin. 6.9.1907. Z 302.

Wir schliessen mit einer schönen Kuriosität aus dem Archiv des Hebrew Union College, wo sich der Nachlass von Isaak (Itzik) Offenbach (1779-1850) befindet. Der Vater des grossen Komponisten Jacques Offenbach war ebenfalls Komponist und Kantor der jüdischen Gemeinde in Köln. In seinem Nachlass findet sich eine musikalische Komposition des U-netane Tokef Pijut, die in hebräischer Sprache, aber von links nach rechts geschrieben ist, um der Richtung der Noten zu entsprechen.

Oded Fluss, Zürich. 14.9.2023

Die Andacht zweier Frauen

“בַּיִת וָהוֹן, נַחֲלַת אָבוֹת; וּמֵיְהוָה, אִשָּׁה מַשְׂכָּלֶת”
משלי יט, יד
“Haus und Vermögen sind ein Erbteil von den Vätern, aber vom Ewigen kommt ein verständiges Weib.”
Buch der Sprichwörter 19.14
Oberer Teil des Gemäldes von Maurycy Gottlieb “Juden in der Synagoge an Jom Kippur, 1878.

Unterschiedlicher hätten die beiden Frauen auf den ersten Blick nicht sein können. Die eine, 1819 in Böhmen geboren, stammte aus einer mährischen Rabbinerfamilie und war die Frau des berühmten Rabbiners Abraham Neuda. Ihre literarische Tätigkeit, die erst nach dem Tod ihres Mannes einsetzte, widmete sie ausschliesslich religiösen Themen. Als erste Frau, die jüdische Gebete für jüdische Frauen in deutscher Sprache verfasste, wurde sie weltberühmt und ihr Buch wird ins Jiddische, Hebräische und Englische übersetzt. Sie starb im Alter von 75 Jahren, umgeben von ihren Kindern und Enkelkindern.
Die andere Frau wurde 1890 in Frankfurt am Main in kleinbürgerlichen Verhältnissen geboren. Sie studierte Philosophie und Geschichte, promovierte mit einer Arbeit über den Einfluss Friedrichs des Grossen auf Voltaire und wurde Dichterin, Schriftstellerin, Pädagogin, Fechterin – die nicht zögerte, ihr Schwert zu nehmen und für die Rechte der Frauen zu kämpfen – und eine bekannte Sportjournalistin. Sie war nie verheiratet und hatte keine Kinder, war aber eine der Hauptorganisatorinnen der sogenannten Kindertransporte, mit denen während der Nazizeit tausende jüdische Kinder ins Ausland gebracht und gerettet wurden. Mit 52 Jahren wurde sie zusammen mit ihrer Schwester Lydia in Sobibor ermordet.

Martha Wertheimer in der Redaktion der Offenbacher Zeitung ca. 1930. © Jüdisches Museum Frankfurt


Und doch verbindet diese beiden Frauen, Fanny Neuda (1819-1894) und Martha Wertheimer (1890-1942), ein unzerbrechliches Band in Form eines kleinen Gebetbuches. Stunden der Andacht, das erste in deutscher Sprache von einer Frau für Frauen geschriebene jüdische Gebetbuch, wurde 1855 von Fanny Neuda (geb. Schmiedl) verfasst und zu einem Bestseller. Es wandte sich nicht nur an die Frauen in ihrer öffentlichen Rolle während der Feiertage und in der von Männern kontrollierten Synagoge, sondern auch an sie in ihren persönlichen Alltagserfahrungen, und zwar aus der Sicht einer Frau. Gebete über Schwangerschaft, über Witwenschaft, über eine Mutter, die ihr Kind zum Militärdienst schickt und eines für eine Mutter, die am Grab ihres Sohnes steht, aber auch für die damalige Zeit verschwiegene Themen wie Stiefmutterschaft, kinderlose Ehe, und sogar das Gebet für die “Unglückliche Ehegattin” sind darin enthalten. Das Buch erlebte zahlreiche Auflagen und wurde über Generationen von Mutter zu Tochter weitergegeben.

Fanny Neuda – Stunden der Andacht. Gebetbuch für Mädchen und junge Frauen israelitischen Glaubens. Verlag von Wilhelm Koebner. Breslau, 1890. D1805.

Es ist also kein Zufall, dass dieses Buch auch in die Hände von Martha Wertheimer gefallen ist. Diese beeindruckende und leider fast vergessene Frau hatte sich neben ihren vielen anderen “weltlichen” Tätigkeiten immer auch mit jüdischen Fragen beschäftigt und stand in engem Kontakt mit wichtigen Denkern wie Franz Rosenzweig und dem liberalen Rabbiner Max Dienemann. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 verlor sie ihre Anstellung bei der Offenbacher Zeitung und trat in die Redaktion des Israelitischen Familienblattes ein, wo sie sich zunehmend mit jüdischen Fragen, vor allem mit denen in Bezug auf Frauen, beschäftigte. Das Gebetbuch von Fanny Neuda war einer ihrer grössten Einflüsse in dieser Zeit:

In den Händen unserer Grossmütter und Mütter sind die “Stunden der Andacht” von Fanny Neuda immer dann gewesen, wenn sie sich neben dem hebräischen Gebete der Tefillah in ihrer eigenen Sprache zu Gott wand[t]en, wenn sie in Freunden oder Kümmernissen Dank aussprachen, Trost suchen wollten.

Wertheimer würde aber auch erkennen, dass das Gebetbuch, so wichtig es auch sein mochte – durch seine altmodische Sprache und seinen überholten Charme bei der Generation, die es vielleicht am meisten brauchte, etwas an Einfluss verloren hatte:

…nach siebzig langen Jahren hat das Buch doch manches von seiner ersten Frische eingebüsst […] im Stile der Zeit, in der das Buch geschrieben wurde, — stark von einer sprachlichen Form überdeckt, die es gerade der jungen Frauengeneration unmöglich macht, diese Gebete als die ihrer eigenen Sprache zu machen.
Das jüdische Sportbuch: Weg, Kampf und Sieg. Unter Mitarbeit von Dr. Martha Wertheimer, Siddy Goldschmidt, Paul Yogi Mayer. Atid Verlag. Berlin, 1936. B1849

1936, zu einer Zeit, als es für Juden äusserst schwierig war, Bücher in Deutschland zu veröffentlichen, brachte Wertheimer zwei Bücher heraus, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: Das eine, Das jüdische Sportbuch, war eine Reaktion auf die Olympischen Spiele in Berlin, die jüdische Sportlerinnen und Sportler von der Teilnahme ausgeschlossen hatten. Dieses eindrucksvolle Zeitdokument zeigt das grosse Engagement deutscher Juden und Jüdinnen im Sport und enthält zahlreiche Fotos von Teilnehmern jüdischer Sportveranstaltungen und Vereine.
Das andere, eine Neuauflage von Neudas Stunden der Andacht, wurde sprachlich an die neue Generation jüdischer Frauen angepasst.

Fanny Neuda – Stunden der Andacht. Ein Gebet und Erbauungsbuch für Israels Frauen und Mädchen zur Öffentlichen und Häuslichen Andacht. Durchgesehen und Bearbeitet von Martha Wertheimer. J. Kaufmann Verlag. Frankfurt a. M, 1936.

Und tatsächlich, wie eine Übersetzerin aus einer anderen Sprache hat Wertheimer dieses Buch genommen und es völlig modernisiert, ohne den ursprünglichen Ton zu verändern. Im “Vorwort zur durchgesehenen Neuausgabe” schreibt sie:

Selbstverständlich durfte nichts an den Worten geändert werden, in denen Fanny Neuda von sich aus und als Verfasserin dieses Gebetbuchs zu Israels Frauen spricht. Ihr Vorwort und ihr Nachwort sind daher ohne jede Änderung stehen geblieben und zeigen ihren Stil. Mehr als ihren Stil aber, ihr kluges gutes Unterfangen, für jüdische Frauen und Mädchen Gebetworte zu finden, ihnen eine Helferin zu “Stunden der Andacht” und in solchen Stunden zu sein, weist nach wie vor aus, was sie zu sagen hat, wenn auch das Wie dem Sprachgebrauch unserer Tage sich anpassen musste, um das Was lebendig zu halten.

In unserer Bibliothek befinden sich sowohl die dritte Auflage der Originalfassung des Buches Stunden der Andacht, die 1890 kurz vor dem Tod der Autorin Fanny Neuda und im selben Jahr, in dem ihre Nachfolgerin Martha Wertheimer geboren wurde, erschien, als auch die von Wertheimer selbst 1936 herausgegebene Neuauflage. Während die alte Fassung keine besonderen Merkmale aufweist, weist die neue einige auf:

Die erste Spur, die wir bereits auf der Innenseite des Buchdeckels finden, ist der Aufkleber der “Kedem Buchhandlung”. Diese berühmte Buchhandlung, die Ende 1920 von L. D. Bronstein und Leo Blumstein gegründet wurde, entwickelte sich zu einem Verlag, der einige der wichtigsten deutsch-hebräischen Wörterbücher, jüdische Jugendliteratur sowie zionistische Werke der Zeit veröffentlichte. Trotz des grossen Erfolgs musste der Laden bereits 1938 wegen des Verbots jüdischer Buchhandlungen schliessen. Auf dem Aufkleber findet sich die damalige Adresse des Ladens in der Dahlmannstrasse 8 in Berlin-Charlottenburg und sogar die Telefonnummer.

Die zweite Spur ist eine kleine Widmung, die wir auf der Seite neben dem Titelblatt finden und die von zwei Schwestern im April 1938 verfasst wurde. Leider wissen wir nicht, wem das Buch gewidmet ist, aber wir kennen die Namen der Schwestern: Jenny und Käthe Mielzynski. Die Widmung, die aus einem biblischen Zitat aus dem Buch der Sprichwörter besteht, fasst die Essenz des Buches auf wunderbare Art und Weise zusammen:

Haus und Vermögen sind ein Erbteil von den Vätern, aber vom Ewigen kommt ein verständiges Weib. Nimm’ dieses Buch zum Andenken an.
Deine,
Jenny Mielzynski und
Käthe Mielzynski
Im April 1938

Nach den Aufzeichnungen in Yad va-Shem ist davon auszugehen, dass beide Schwestern Opfer des Holocaust wurden und zwischen 1942 und 1943 ermordet wurden. Eine letzte Spur von Käthe Mielzynski findet sich in der Exilzeitung Aufbau in Form einer Suchanzeige, die eine andere Schwester der Familie, Herta Mendelson, am 24. Juni 1946 aufgab.

Aus der Anzeige geht hervor, dass der letzte bekannte Wohnort von Käthe Mielzynski Berlin Charlottenburg war, 10 Minuten von der Buchhandlung entfernt, in der das Buch gekauft wurde.

Oded Fluss. Zürich, 30.8.2023.

Menachem Ussischkin in der Schweiz

“Es ist die Reihe gekommen auch an die Schweizer Judenheit!”
Menachem Ussischkins Rede. Zürich, 28. November 1925.
Hermann Struck – Porträt von Menachem Ussischkin

Eine der herausragenden Persönlichkeiten der zionistischen Bewegung war Menachem Ussischkin (1863-1941), dessen 160. Geburtstag wir in dieser Woche begehen. Er wurde als Sohn einer chabad-chassidischen Rabbinerfamilie in der damals zum Russischen Reich gehörenden Kleinstadt Dubrouna geboren und beschäftigte sich schon früh mit Fragen der jüdischen Identität und Nationalität. Bald wurde er von der zionistischen Bewegung, insbesondere von Theodor Herzl und dessen Buch “Der Judenstaat”, mitgerissen und nahm am ersten jüdischen Kongress in Basel teil. Ussischkin, der die hebräische Sprache fliessend beherrschte, war einer ihrer grössten Förderer und betrachtete die Wiederbelebung und Integration des Hebräischen als eines der wichtigsten Ziele des Zionismus. Auf dem Ersten Zionistischen Kongress wurde er zum Sekretär für Hebräisch ernannt.

Menachem Ussischkin 1890

Von den Pogromen in Kischinew 1903 schwer betroffen, sah er in Palästina die einzige Hoffnung für das jüdische Volk, reiste häufig dorthin und war einer der Hauptakteure beim Kauf palästinensischen Landes für die Alija und die Ansiedlung. Eine sehr berühmte Debatte, an der er teilnahm, folgte auf das sogenannte “Uganda-Programm”, einen vom britischen Kolonialminister Joseph Chamberlain ausgearbeiteten und auch von Herzl unterstützten Plan, der das afrikanische Mau-Plateau (Kenia) als Zufluchtsort für die bedrängten russischen Juden vorsah. Der Plan, der auf dem Sechsten Zionistischen Kongress 1903 vorgestellt wurde, spaltete die Zionisten, und Ussishkin war einer der lautstärksten Gegner.

M. Ussischkin – Unser Program. “Zion” Verlag. Wien, 1905. B 169

1905, als das Uganda-Programm bereits aufgegeben worden war, veröffentlichte Ussischkin eine seiner wichtigsten Schriften mit dem Titel Unser Programm, in der er neben politischen Aktivitäten auch die Ansiedlung in Palästina forderte, was später als “synthetischer Zionismus” bezeichnet wurde. Ussischkin begründete seine Ablehnung und seinen Streit mit Herzl damit, dass das Uganda-Programm die zionistische Bewegung von ihrem eigentlichen Ziel, dem jüdischen Volk eine Heimstätte in Palästina zu geben, abgelenkt und stattdessen zu einem Kompromiss in Form einer Ansiedlung in Afrika geführt hätte.

In unserer Bibliothek befindet sich die sehr seltene Erstausgabe von Ussischkins Unser Programm, erschienen 1905 in Wien im Zion Verlag. Das kleine Büchlein enthält eine Widmung Ussischkins in deutscher Sprache an seinen Freund und “Gesinnungsgenossen” Felix Pinkus (1881-1947). Pinkus, der unserer Bibliothek viele seiner Bücher geschenkt hat, war Bankier, Journalist und Schriftsteller, bekannt für seine Schriften über das Judentum und den Zionismus. Er war mit der Schauspielerin Else Flatau verheiratet und Vater des bekannten Schweizer Verlegers und Buchhändlers Theo Pinkus.

Felix Lazar Pinkus mit Else Flatau-Pinkus und den Kindern Theo und Miriam vor einem Bild von Theodor Herzl, ca. 1917

Ussischkin besuchte die Schweiz sehr häufig und reiste neben der Teilnahme an den zionistischen Kongressen im Rahmen seiner Funktionen in der WZO (Zionistische Weltorganisation) und im Jüdischen Nationalfonds, dessen Direktor er fast 20 Jahre lang war, regelmässig in die Schweiz, um für seine zionistischen Ideen zu werben und die Alija zu fördern.

Gregor Rabinovitch – Menachem Ussischkin. Jewish agency: 36 Köpfe, Original Lithographien. Verlag der Galerie Aktuaryus. Zürich, 1929. Q 53a

Die schweizerisch-jüdischen Medien berichteten immer wieder über seine Auftritte, insbesondere über einen sehr intensiven Besuch zwischen November und Dezember 1925, als Ussischkin nach Zürich reiste und vier Versammlungen abhielt: die erste am 28. November im Schulhaus Hirschengraben; die zweite einen Tag später in der Augustin-Keller-Loge; am 30. November im Volkhaus Zürich in der Misrachi-Versammlung und die letzte am 6. Dezember wiederum in der Augustin-Keller-Loge. Den Veranstaltungen ging ein Presseempfang am 26. November voraus, an dem alle wichtigen Schweizer Zeitungen und die jüdisch-zionistischen Medien teilnahmen. Die Worte und die Präsenz von Ussischkin beeindruckten die Anwesenden, die ihn “mit stürmischem Applaus ” aufnahmen.

Menachem Ussischkin in Zürich, 1925.


Der Besuch war so eindrucksvoll, dass Anfang 1926 in Zürich eine kleine Broschüre mit dem Titel “Ussischkins Reden an die Juden der Schweiz” über die gesamte Reise veröffentlicht wurde. Diese Broschüre, die sich auch in unserer Bibliothek befindet, ist ein sehr interessantes Zeitdokument, das die zionistischen Bestrebungen und Einflüsse der Schweizer Juden in der Zwischenkriegszeit dokumentiert und alle Reden Ussischkins und die Reaktionen darauf mit Bildmaterial enthält.

Ussischkins Reden an die Juden der Schweiz. Sonderabdruck aus der “Jüdischen Presszentrale”. Zürich, 1926. B 222/1

Oded Fluss. Zürich, 17.8.2023

Tischa beAw in der modernen Dichtung.

Jacob Steinhardt – Tischa be’Aw

Und es heißt, sie weinten wirklich
Einmal in dem Jahr, an jenem
Neunten Tag des Monats Ab–
Und mit thränend eignen Augen

Schaute ich die dicken Tropfen
Aus den großen Steinen sickern,
Und ich hörte weheklagen
Die gebrochnen Tempelsäulen. – –

Tischa be’Aw ist bekannt für seine zahlreichen Kinot – hebräische Klagelieder oder Elegien, die in den Synagogen gesungen werden und sich hauptsächlich mit der Zerstörung des ersten und zweiten Tempels in Jerusalem und anderen Tragödien der jüdischen Geschichte befassen. Einige von ihnen sind fast so alt wie die jüdische Geschichte selbst.

Bekhi Tamrurim – Seder Kinot ke-Minhag Ashkenaz. Metz, 1768. Breslauer Sammlung BH 131

Diese Kinot – die eine religiös-moralische Tendenz darstellen, die sich in der Regel im Sündenbekenntnis und in der Bitte um Gottes Vergebung äussert – sind bis heute von grossem Interesse für die jüdische Wissenschaft, und ihre Entstehung und Verwendung in den verschiedenen jüdischen Gemeinden war und ist Gegenstand zahlreicher Forschungen und Bücher.

Tischa Beab – Sefer Minhagim. Amsterdam, 1723.

Die besondere Präsenz von Tischa be’Aw im kollektiven jüdischen Gedächtnis hat aber auch zu einer anderen, moderneren Art des künstlerischen Ausdrucks geführt, die religiöse Grenzen überschreitet und eine eher säkulare Form annimmt. Diese konzentriert sich erstens hauptsächlich auf die Gegenwart statt auf die Vergangenheit und zweitens auf die persönliche Erfahrung des Einzelnen statt auf die kollektiven Erfahrung der Vielen. Politische Bestrebungen, wie der Zionismus, werden ebenfalls miteinbezogen. All dies geschieht unter Verwendung traditioneller Motive der Kinot, wie die Trauer über die Zerstörung der Tempel und die Sehnsucht nach Jerusalem.

Leopold Horowitz – Tischa-Beab

In diesem Beitrag werden wir uns auf einige deutsche Gedichte konzentrieren, die zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert geschrieben wurden und Tischa be’Aw verwenden, um einen neuen, modernen Blick auf die jüdische Erfahrung zu werfen.

Ludwig August Frankl – Porträt von Leopold Pollak

Beginnen wir mit einem ganz besonderen, heute leider vergessenen Dichter: Ludwig August Frankl von Hochwart (1810-1894). Der Neffe Zecharia Frankels, dem Gründer des Breslauer Rabbinerseminars, bei dem er auch seine jüdische Ausbildung erhalten hatte, studierte Medizin, widmete sich aber vor allem der Dichtung und dem journalistischen Schreiben. Er war bekannt dafür, dass er in seinen Schriften die eher seltene Kombination von Patriotismus für das österreichische Kaiserreich und Verbundenheit mit seinen jüdischen Wurzeln verband.
Bereits in seinem 1860 erschienenen Buch “Nach Jerusalem!” schreibt Frankl über Tischa be-Aw, wie er diesen Tag der Trauer auf einer Reise nach Ägypten erlebt hat. Schon hier wird die tiefe Bedeutung deutlich, die er diesem Feiertag beimisst, nicht unbedingt als religiösem, sondern als nationalem Feiertag:

Wie lebendig und gewaltig sind die historischen Erinnerungen in diesem Volke, das ohne politische Einigung und über alle Erde gestreut ein nationales Trauerfest noch heutzutage nach zwei Jahrtausenden so allgemein feiert, wie in der ersten Zeit nach der Vernichtung des Tempels und nach der Verluste von Zion

Das Gedicht, das vier Jahre später in seinem Gedichtband “Ahnenbilder” veröffentlicht wurde, trägt den Titel “Der neunte Ab”. Noch vor der ersten Strophe wird man Zeuge einer Merkwürdigkeit: Der Untertitel des Gedichts ist die Jahreszahl 1492 mit einem Sternchen, das den Leser auf den Kommentar darunter hinweist:

“Entspricht dem 2. August 1492, an welchem Colombo eine neue Welt zu entdecken auszog”.

Frankl war fasziniert von Christoph Kolumbus, über den er auch ein berühmtes Gedicht schrieb, das ihm die Ehrenbürgerschaft von Kolumbus’ Geburtsstadt Genua einbrachte. Die sogenannte Entdeckung einer “neuen Welt” durch Kolumbus inspirierte ihn, sie als Vorbild für ein neues Land, “ein neues Kanaan”, wie er es nannte, für die in der ganzen Welt verstreuten Juden zu sehen.

Ludwig August Frankl – Ahnenbilder. Oskar Leiner Verlag. Leipzig, 1864. D 1308

Über den Autor des nächsten Gedichts wissen wir fast nichts. Er heisst Martin Friedlaender und sein Gedicht “Tischah-B’Ab” wurde erstmals in der Zeitung “Jüdische Volkstimme” vom 15.7.1901 veröffentlicht und später in zwei Anthologien für junge jüdische Dichter: “Junge Harfen” hrsg. von Berthold Feiwel 1903 und drei Jahre später in “Jungjüdische Gedichte” hrsg. vom Verein Jüdischer Studenten (Hochschule Berlin-Charlottenburg als Festgabe zu seinem Winterfest 15. Febr. 1906.)

Junge Harfen – Eine Sammlung jungjüdischer Gedichte. Jüdischer Verlag. Berlin, 1903.

Abgesehen vom Titel, der sich zweifellos auf Tischa be’Av bezieht, ist es sehr schwierig, in diesem seltsamen Gedicht irgendeinen Bezug zu dem jüdischen Feiertag zu finden. Es scheint eine intime Szene zwischen einem Mann und einer Frau zu beschreiben, bzw. es handelt sich um ein Liebeslied, das wie jedes Liebeslied auch morbide Motive enthält. Es könnte sich aber auch um ein Vater-Tochter-Gespräch handeln, in dem der Vater versucht, seiner Tochter auf freundliche Weise düstere historische Ereignisse zu erklären.
Auf jeden Fall ist das Gedicht sehr schön und wir würden es für Interpretationen offen lassen.

Joseph Budko – Tischa B’Ab

Das nächste Gedicht stammt von dem begabten Dichter, Musiker, Übersetzer und Künstler Arno Nadel (1878-1943) aus dem Buch “Das Jahr des Juden“, das er 1920 zusammen mit dem Künstler Joseph Budko (1888-1940) verfasste. Jedes Gedicht von Nadel in diesem Buch ist einem Feiertag des jüdischen Kalenders gewidmet und wird von einer Radierung Budkos begleitet. Dieses Buch, das bereits in einigen unserer früheren Beiträge erwähnt wurde, ist ein Meisterwerk der modernen expressionistischen Adaption religiöser Motive.

In diesem Gedicht führt Nadel zwei Dialoge, zunächst zwischen dem Dichter und der zerstörten Stadt Jerusalem, dann zwischen dieser Stadt und Gott. Nadels Vermenschlichung der Stadt ermöglicht es ihm, sie zum Träger von Sünden gegen Gott zu machen und schliesslich von ihm vergeben zu bekommen. Er verwandelt die Sehnsucht nach Jerusalem von einem historischen Moment in ein gegenwärtiges zionistisches Moment, in dem das erlöste Jerusalem das jüdische Volk wieder umarmen kann.

Käthe Kaufmann – Von Nissan zu Nissan. Gedichte einer jüdin in Deutschland. Joachim Goldstein Verlag. Berlin, 1937.

Wenig bekannt ist die Dichterin, mit der wir schliessen wollen. Käthe Kaufmann veröffentlichte Ende der 1930er Jahre einige Gedichte in der Zeitschrift Israelit. Sie starb aus ungeklärten Gründen im Alter von nur 39 Jahren, kurz nachdem 1937 ihr einziger Gedichtband “Von Nissan zu Nissan. Gedichte einer Jüdin in Deutschland” im Joachim Goldstein Verlag in Berlin erschienen war.

Der Zeitpunkt der Veröffentlichung ihres Werkes ist entscheidend für das Verständnis der Stimmung ihres Gedichts “Zum 9. Aw”, das in dem jüdischen Monat Aw gewidmeten Kapitel vorkommt. Dieses Gedicht, das ein Jahr zuvor im Israelit zu Tischa Be’aw 1936 erschienen war, trägt die dunkle Ahnung des Schicksals in sich, das hinter der nächsten Ecke lauert. Es spricht von einer Zerstörung in der Gegenwart und endet nicht mit einem hoffnungsvollen Blick nach vorn, sondern mit einem Blick zurück.

Oded Fluss. Zürich, 26.7.2023
עודד פלוס. ציריך. ערב תשעה באב התשפ”ג