Louis Lamm – Schicksal eines jüdischen Verlegers

„Immer und allenthaben merkte ich: habent sua fata libelli [Bücher haben ihre Schicksale] – aber auch Buchhändler haben ihre Schicksale.“
Louis Lamm – Meine Buchhandlung. Neue jüdische Monatshefte 25.10.1919.

Manchmal klafft eine grosse Lücke zwischen dem, was ein Mensch hinterlässt, und der Erinnerung an ihn. In unserer Bibliothek befinden sich zahlreiche Bücher, die den Namen Lamm tragen. Die meisten davon sind Bücher, die im L. Lamm Verlag erschienen sind. Einige tragen jedoch den Namen Louis Lamm als Autor, und in diesen finden wir manchmal kleine Widmungen, in denen der Name auch handschriftlich vorkommt. In einem Fall ist der Name Louis Lamm auch als Besitzer eines Buches auf einem Exlibris vermerkt.

Ex Libris Louis Lamm. Aus „Geschichte der Juden im ehemaligen Fürstenthum Ansbach“. Carl Junge Verlag. Ansbach, 1867. D 2549

All dies erlaubt uns, diesen Beitrag Louis Lamm (1871-1943) zu widmen, einem Buchhändler, Verleger, Autor und Bücherliebhaber, der sich der Kunst des Erinnerns verschrieben hat und selbst fast völlig in Vergessenheit geraten ist.

Louis Lamm wurde am 12. Dezember 1871 in Wittelshofen als eines von sieben Kindern einer jüdisch-orthodoxen Familie geboren. Als er drei Jahre alt war, zog die Familie nach Buttenwiesen, wo er bis zu seinem 13. Lebensjahr blieb. Knapp 20 Jahre später schrieb er zwei Büchlein über die kleine Gemeinde Buttenwiesen:

Bild aus Louis Lamms „Zur Ortgeschichte von Buttenwiesen“. Berlin, 1902. B 1569

Das erste ist ein Separatabdruck aus dem Jahrbuch des Historischen Vereins Dilingen und trägt den Titel „Zur Ortgeschichte von Buttenwiesen“. Es ist 1902 in Berlin erschienen und behandelt die allgemeine Geschichte des Buttenwiesener Ortsgebietes seit dem 12. Jahrhundert. Lediglich ein kurzes Kapitel mit dem Titel „Streitigkeiten zwischen der israelitischen und christlichen Gemeinde“ befasst sich mit der jüdischen Gemeinde und ihren Problemen mit der christlichen Gemeinde in Buttenwiesen zu Beginn und Mitte des 18. Jahrhunderts.

Louis Lamm – Das Memorbuch in Buttenwiesen. Berlin, 1902. B 1570.

Das zweite Buch, das uns mehr interessiert, ist „Das Memorbuch in Buttenwiesen“, das ebenfalls 1902 in Berlin erschien. Dieses Buch, das auch als Separatabdruck erschien, diesmal aber in der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, ist der Versuch, das alte Memorbuch der jüdischen Gemeinde Buttenwiesen zu rekonstruieren und wieder zum Leben zu erwecken. Das ursprüngliche Memorbuch umfasste 26 Seiten, von denen einige durch Alter und Abnutzung bereits unleserlich geworden waren. Laut Louis Lamm war es sein Vater Max Lamm (1842-1917) gewesen, der als erster die Initiative ergriffen hatte, das Originalbuch, das sich in einem sehr schlechten Zustand im Besitz der örtlichen jüdischen Gemeinde befand, zu restaurieren. Louis Lamm übersetzte in diesem Buch die hebräischen Passagen, die das Martyrium der Juden der Gemeinde und die häufigen Pogrome gegen sie beschreiben.

Schon in diesen beiden kleinen Büchern wird deutlich, dass Louis Lamm immer sowohl ein objektives als auch ein persönliches Interesse an den Büchern hatte, die er schrieb und verlegte. Bücher waren für ihn immer sowohl Mittel zur Verbreitung von Wissen als auch Ziel: die Fortführung und Wiederbelebung des jüdischen Buches. Eine weitere persönliche Note finden wir in diesen beiden Büchern in den handschriftlichen Widmungen Lamms an „Fräulein Dr. Augusta Steinberg“. Beide Widmungen sind schlicht mit „vom Verfasser“ unterschrieben und auf Dezember 1902 datiert.

Ex Libris Familie Weldler

Frau Steinberg ist uns besser bekannt als Dr. Augusta Weldler-Steinberg (1879-1932), eine Schweizer Historikerin und zionistische Aktivistin, die mit dem Schweizer Journalisten und Zionisten Norbert Weldler (1884-1961) verheiratet war. Beide waren leidenschaftliche Büchersammler, und unsere Bibliothek hatte das Glück, einen grossen Teil ihrer Sammlung als Schenkung zu erhalten.

Widmung in Leo Baecks „Das Wesen des Judentums“. Verlag von Nathansen & Lamm. Berlin, 1905. D 193(1)

Ein weiteres sehr wertvolles Buch von Louis Lamm, das Augusta Weldler gewidmet ist (diesmal mit seinem Namen signiert), ist das vielleicht wichtigste Buch des Rabbiners Leo Baeck „Aus Wesen des Judentums“. Die erste Ausgabe erschien 1905 in Berlin im Verlag Nathansen & Lamm und war eines der ersten Bücher, die Louis Lamm verlegte. 1903 eröffnete er zusammen mit Bernhard Nathansen das Antiquariat und Sortiment Nathansen & Lamm in der Neuen Friedrichstrasse in Berlin. Neben Büchern verkaufte er auch Judaica und trat damit in die Fussstapfen seines Vaters Max Lamm, der in Buttenwiesen ebenfalls ein Judaica-Geschäft betrieb.

Anzeige für den Judaica-Laden von Max Lamm. Der Israelit 12.11.1896.

Ab 1905 führte Louis Lamm die Judaica-Fachbuchhandlung allein und betrieb von dort aus einen Verlag. Dank seiner Kenntnisse und seines Know-hows auf dem Gebiet der jüdischen Geschichte wurde der L. Lamm Verlag zu einem der wichtigsten und einflussreichsten jüdischen Verlage des frühen 20. Jahrhunderts. Von Kabbala bis zu jüdischen Kinderbüchern erschien alles was Qualität hatte.

E. Flanter – Im Strahlenglanze der Menorah. Louis Lamm Verlag. Berlin, 1920. D 170.

Eine der interessantesten Buchveröffentlichungen des Lamm Verlags fällt in die Zeit des Ersten Weltkriegs. In dieser Zeit, in der viele deutsche Juden eine patriotische Haltung einnahmen, veröffentlichte Lamm seine einzigartige Buchreihe Lamm’s jüdische Feldbücherei: kleinformatige Bücher für jüdische Soldaten, die sie mit an die Front nehmen konnten. Darüber hinaus veröffentlichte er eine Reihe von Postkarten –Lamms jüdische Kriegspostkarten – und 1916 ein Verzeichnis jüdischer Schriften über den Krieg.

Der Krieg und wir Juden. Lamm’s Jüdische Feldbücher Nr. 1. Berlin, 1915. B 1156.

1933 musste Lamm nach Amsterdam emigrieren. Dort eröffnete er im Gebäude Amstel 3 ein Antiquariat und ein Judaica-Geschäft; seine Frau und seine Tochter folgten ihm. In Amsterdam führte er sein Geschäft weiter und gab einige sehr wichtige Judaica-Kataloge heraus. Zu seinem 70. Geburtstag am 12.12.1941 veröffentlichte die niederländische Wochenzeitung Het Joodsche Weekblad einen Artikel zu seinen Ehren mit einem aktuellen Foto.

Nach der Besetzung der Niederlande durch die Nationalsozialisten wurde Lamm im Durchgangslager Westerbork inhaftiert. Im November 1943 wurde er in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert und dort am 19. November 1943 zusammen mit seiner Tochter Ruth Fanny Lamm ermordet.

Signet des Louis Lamm Verlags

Louis Lamm ist fast vergessen, aber seine Bücher leben weiter. In unserer Bibliothek gibt es unzählige Bücher von grosser historischer Bedeutung, die im Verlag L. Lamm erschienen sind. Für uns hier in der Schweiz ist seine faksimilierte Neuausgabe der Sammlung Jüdischer Geschichten in der Schweiz (ursprünglich veröffentlicht 1768) von Johann Caspar Ulrich aus dem Jahr 1922 von grosser Bedeutung.

Johann Caspar Ulrich – Sammlung Jüdischer Geschichten in der Schweiz. Louis Lamm Verlag. Berlin, 1922. D 2727


Ein weiteres erwähnenswertes Buch aus unserer Bibliothek ist Alfred Feilchenfelds Grundzüge der jüdischen Geschichte in nachbiblischer Zeit. Dieses von den Nazis geraubte Buch, das sowohl den Namen Louis Lamm als auch den Stempel des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands trägt, erzählt das Schicksal eines vergessenen Buchliebhabers und Verlegers.

Alfred Feilchenfeld – Grundzüge der jüdischen Geschichte in nachbiblischer Zeit. Louis Lamm Verlag. Berlin, 1918. B 3566.

Oded Fluss. Zürich, 12.6.2023

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Die Sinai-Offenbarung in der jüdischen Kunst

Am dritten Tag, im Morgengrauen, begann es zu donnern und zu blitzen. Schwere Wolken lagen über dem Berg und gewaltiger Hörnerschall erklang. Das ganze Volk im Lager begann zu zittern.
Mose führte es aus dem Lager hinaus Gott entgegen. Unten am Berg blieben sie stehen. Der ganze Sinai war in Rauch gehüllt, denn Gott war im Feuer auf ihn herabgestiegen. Der Rauch stieg vom Berg auf wie Rauch aus einem Schmelzofen. Der ganze Berg bebte gewaltig und der Hörnerschall wurde immer lauter. Mose redete und Gott antwortete im Donner.

Die Offenbarung Gottes am Berg Sinai und die Übergabe der Zehn Gebote, die wir an Schawuot (Das Wochenfest) feiern, ist der entscheidende Moment, in dem das Volk Israel zur jüdischen Nation wurde. Diese dramatische Szene, begleitet von Feuer, starkem Rauch, Blitzen und Schofarblasen, ist bis heute eine der eindrucksvollsten Szenen im kollektiven Gedächtnis der Menschheit. Wie viele zentrale Momente in der biblischen Geschichte des jüdischen Volkes ist auch diese Szene nur spärlich beschrieben, was sie noch geheimnisvoller macht. Aus diesem Grund haben sich viele Künstler/innen dazu inspirieren lassen, dieses einzigartige Ereignis selbst zu interpretieren. Viele dieser Interpretationen, wie die von Rembrandt oben, sind sehr bekannt, aber wir haben aus einigen Büchern unserer Bibliothek einige weniger bekannte ausgewählt.

Joseph Budko – Schabuot. Das Jahr des Juden . Gurlitt Verlag. Berlin, 1920.

Wir beginnen mit dem Maler und Grafiker Joseph Budko (1888-1940), einem der bedeutendsten modernen jüdischen Künstler. Als Lieblingsschüler von Hermann Struck erlangte Budko Weltruhm und wurde der erste Direktor der Neuen Bezal’el-Schule für Handwerk und für Kunst in Jerusalem. Diese Miniaturradierung wurde 1920 in dem Buch Das Jahr des Juden: zwölf Gedichte zu zwölf Radierungen veröffentlicht, das eine einzigartige Zusammenarbeit zwischen Budko und dem grossen Dichter und Künstler Arno Nadel (1878-1943) darstellt.

Arno Nadel – Schabuoth. Das Jahr des Juden . Gurlitt Verlag. Berlin, 1920

Jede Radierung sollte einem besonderen Ereignis des jüdischen Jahres folgen und von einem Gedicht Nadels begleitet werden. Diese sehr expressionistische Radierung zeigt keine Menschen und konzentriert sich ausschliesslich auf das visuelle Spektakel auf dem Berg Sinai. Die Zehn Gebote sind oben in Form von zwei Tafeln mit den ersten zehn Buchstaben des hebräischen Alphabets von א [Alef] bis י [Jod] dargestellt.

Marc Chagall und die Bibel. Lahr : E. Kaufmann. 1970.

Eine ganz andere Interpretation findet sich bei Marc Chagall (1887-1985). In diesem sehr farbenfrohen Bild konzentriert sich Chagall vor allem auf die Empfänger der Gebote. In der Mitte stellt er Moses fast engelsgleich dar, wobei Chagall, wie in vielen seiner Mosesdarstellungen, Lichtstrahlen aus seinem Kopf zu entspringen scheinen. Auch das Volk Israel ist unter dem Berg zu sehen, besonders auffällig ist die blaue Frau, aber auch Tiere wie der Vogel und das Pferd sind dargestellt. Gott erscheint in männlicher Gestalt in Form von zwei Händen, die Moses die Gebote geben.

Uriel Birnbaum – Moses. Thyrsos-Verlag. Wien und Berlin, 1924.

Eine weitere farbenprächtige Darstellung findet sich in dem Buch „Moses“ von Uriel Birnbaum (1894-1956). Der begnadete Autodidakt hat das ganze Buch dem Bild und der Person des Moses gewidmet. Wir finden hier die Szene auf dem Berg Sinai, in der Moses allein und winzig klein vor dem Allmächtigen erscheint, der wiederum in Form von zwei riesigen Tafeln dargestellt ist. Diese scheinen sich auf die kleinen Tafeln in Moses‘ Händen zu projizieren. Unter dem Bild steht in hebräischer Sprache der Vers aus Exodus 31,18:

Nachdem der Herr zu Mose auf dem Berg Sinai alles gesagt hatte, übergab er ihm die beiden Tafeln der Bundesurkunde, steinerne Tafeln, auf die der Finger Gottes geschrieben hatte
Lesser Ury: Bilder der Bibel. Jüdische Verlagsanstalt. Berlin, 2002.

Eine weitere einzigartige Moses-Darstellung stammt von Lesser Ury (1861-1931). Dieser etwas in Vergessenheit geratene Impressionist war vor allem für seine nächtlichen Strassen- und Caféhausbilder bekannt. Von ihm stammen aber auch einige sehr schöne Bibeldarstellungen. Der Künstler, den Buber den „Dichter unseres Zornes und unserer Liebe“ nannte, hat uns hier das Bild des einsamen, in sich gekehrten Moses beschert, der den Berg besteigen soll. Der Winkel, in dem das Bild gemalt ist, lässt die Proportionen von Moses und dem Berg gleich gross erscheinen. Interessant ist auch, dass Moses, der in vielen Darstellungen dieser Szene sein Kopf hebt, hier in Selbstbetrachtung den Kopf senkt.

Die Haggadah von Sarjevo. Faxismil-Ausgabe vom „Jugoslavija“ Verlag. Beograd, 1963.

Wir schliessen mit dieser schönen Illustration aus der Haggada von Sarejevo. Diese schöne und historisch bedeutsame Haggada, von der man weiss, dass sie die älteste noch existierende Haggada ist (geschrieben um 1350), stellt auch die Übergabe der Zehn Gebote auf dem Berg Sinai dar. Die Pessach-Haggadot sind dafür bekannt, dass sie Moses überhaupt nicht erwähnen, aber hier wird Moses sehr wohl dargestellt, und nicht nur das, er wird so dargestellt, als wäre er der Berg selbst. Umgeben von Rauch und von seinem Volk, das zu ihm aufschaut, hält er stolz die Tafeln in seinen Händen. Auf Hebräisch lesen wir über dem Bild „und Moses stieg zu Gott hinauf“ und „Matan Torah“ (die Übergabe der Tora). Unter dem Bild finden wir in Hebräisch das Zitat aus Exodus 19,16 „Das ganze Volk im Lager begann zu zittern“ und aus Exodus 24,7 „Was Gott gesagt hat, das wollen wir tun; wir wollen gehorchen“.

Mehr zum Thema Schauwot finden Sie in unserem Beitrag über das Buch Ruth: https://breslauersammlung.com/2022/06/02/das-buch-ruth-und-schawuot/

Oded Fluss 22.5.2023

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Buchstaben steigen in die Luft

Als die Flammen seinen Körper schon umgaben, hatte er noch die Kraft, seinen Jüngern zuzurufen: „Das Pergament brennt nur, die Buchstaben steigen in die Luft.“ (Avoda Sara 18a)

Die talmudische Geschichte vom Märtyrertod des Rabbi Chanina ben Teradjon, der von den Römern in eine Torarolle gewickelt auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, mag radikal sein, aber sie kann uns viel lehren: Erstens zeigt sie den direkten Zusammenhang, den die Geschichte immer wieder zwischen der Verbrennung von Büchern und der von Menschen hergestellt hat. Zweitens veranschaulicht sie uns die Widerstandskraft eines Buches, das wie die Idee, die es trägt, nicht einfach ausgelöscht werden kann.

Lasar Segall – Rabbi ben Teradjon

Bücherverbrennungen sind so alt wie das Buch selbst. Die ‚Mächtigen‘ wollen immer an der Macht bleiben, und Bücher gelten seit jeher als gefährlich für konservative und reaktionäre Kräfte. Bücher wurden gefürchtet von denen, die sich vor der Wahrheit fürchteten, und sie waren eine Bedrohung für diejenigen, die auf Oberflächlichkeit bauen wollten, ohne den Abgrund darunter erkennen zu lassen. Deshalb wurden sie verbrannt.  Das berühmte Zitat von Heinrich Heine:

Dies war ein Vorspiel nur, dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen

ist jedoch keine Prophezeiung, wie viele meinen. Menschen sind auch schon immer verbrannt worden. Sowohl grosse und mächtige Reiche als auch kleine und arme Gemeinschaften wurden in Schutt und Asche gelegt. Diejenigen, an die wir uns heute noch erinnern, verdanken ihre Erinnerung unverbrannten Büchern.

Fotomontage von John Heartfield zur Bücherverbrennung am 10. Mai. AIZ. 10.5.1933

Neben neuen Methoden, Bücher und Menschen zu verbrennen, hat uns die moderne Technologie auch neue Werkzeuge der Erinnerung an die Hand gegeben. Wir sind nicht mehr nur auf Bücher angewiesen, um die Vergangenheit festzuhalten, sondern auch auf visuelle und auditive Mittel wie Fotos und Filme.  Eine zufällige Begegnung mit einem historischen Bild zeigt, wie ein Foto und ein Buch zusammen eine ‚poetische-Erinnerung‘ schaffen können.

Das Foto zeigt eine Bücherverbrennung. Die genaue Zeit und der Ort sind nicht bekannt, vermutet wird Salzburg 1942. Auffallend ist das jugendliche Alter der Beteiligten und das lächelnde Gesicht des Jungen links. Bei näherer Betrachtung fällt aber noch etwas anderes auf. Der Junge am rechten Bildrand hält ein Buch in der Hand. Obwohl es relativ viele Bilder von Bücherverbrennungen gibt, kann man auf diesen Bildern normalerweise nicht die Bücher erkennen, die verbrannt wurden. Aber hier ist der Einband des Buches ziemlich einzigartig, und wenn man ihn kennt, kann man ihn erkennen.

Zufälligerweise befindet sich dieses Buch (nicht genau dieses, aber ein identisches) im Altbestand unserer Bibliothek. Es wurde 1899 in Stuttgart gedruckt und trägt den gleichen auffälligen Jugendstil-Einband mit einem Harfe spielenden Engel. Es handelt sich um eine Sammlung von Werken des bereits erwähnten Heinrich Heine, von dem das berühmte Zitat über die Bücherverbrennung stammt. Heine wurde zu Lebzeiten von seinem Vaterland zensiert und verboten. Dasselbe Vaterland würde fast hundert Jahre später seine Bücher erneut zensieren und verbieten und sie schliesslich ins Feuer werfen.

Moritz Oppenheim – Bildnis Heinrich Heine


Und man stellt sich vor, wie dieses Buch ins Feuer geworfen wurde, die Blätter verbrannten und die Buchstaben in die Luft stiegen. Die Buchstaben von Heines Gedicht Edom:

Ein Jahrtausend schon und länger,
Dulden wir uns brüderlich,
Du, du duldest, daß ich atme,
Daß du rasest, dulde Ich.

Und in die Luft stiegen auch die wunderbaren Buchstaben, die seine Worte über das heiligste Buch der Juden bauten. Wie es den Brand des Tempels überlebte und zur Heimat der Juden wurde. Wie die Deutschen von dieser Rettung vor dem ersten Brand profitierten:

…denn die Juden, die dasselbe aus dem großen Brande des zweiten Tempels gerettet, und es im Exile gleichsam wie ein portatives Vaterland mit sich herumschleppten, das ganze Mittelalter hindurch, sie hielten diesen Schatz sorgsam verborgen in ihrem Ghetto, wo die deutschen Gelehrten, Vorgänger und Beginner der Reformation, hinschlichen um Hebräisch zu lernen, um den Schlüssel zu der Truhe zu gewinnen, welche den Schatz barg.
Holzschnitt von Heinz Kiwitz

Es ist falsch, Bücherverbrennungen als eine Angelegenheit der Vergangenheit zu betrachten. Auch heute noch werden Bücher verbrannt, auch wenn sie nicht physisch ins Feuer geworfen werden. Immer wieder hören wir, dass Bücher, die unbequeme historische Wahrheiten enthalten oder das Narrativ der Machthaber in Frage stellen, verboten und aus öffentlichen Bibliotheken und Schulen entfernt werden. Dies geschieht nicht nur in Diktaturen, sondern auch in Ländern, die wir für demokratisch halten. Diese Zensur ist meist vergeblich, und wie im Falle Heines, dessen Bücher zeitlebens und auch danach beschlagnahmt und verboten waren, werden sie weiterhin gelesen.
Die Buchstaben steigen in die Luft und erreichen schliesslich ihre Leserschaft.

Oded Fluss. Zürich. 10.5.2023.

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Das Lagbaomer-Fest in Meron

Wer niemals die Freude am Grabe des Rabbi Schimon ben Jochai am Lagbeomer in Meron sah, der hat all sein Lebtag keine Freude gesehen.

Mit diesem berühmten Satz beginnt der Nobelpreisträger S.J. Agnon seine kurze Beschreibung der Feier auf dem Berg Meron während des Lagbaomer-Festes. Die hebräische Kurzgeschichte erschien erstmals 1935 unter dem Titel „ha’Hadlaka“ (Das Lichtzünden) und wurde bereits ein Jahr später ins Deutsche übersetzt und in vielen deutsch-jüdischen Zeitungen abgedruckt.

S.J Agnon – ha-Hadlaka. Beschuwa va-Nachat. Schocken Verlag. Berlin, 1935.

Die Welt steht am Rande eines Krieges. Die Juden Europas leiden unter dem brutalen Regime des Dritten Reiches. Diese etwas utopische Geschichte ruft die Welt zur Ordnung und bittet Gott um sein Eingreifen. Gott hört den Schrei seines Volkes, kehrt in die Welt zurück, beendet alle Kriege und Leiden und stellt die Ordnung wieder her. Menschen aller Nationen und Religionen entzünden und teilen ein Feuer am Berg Meron, das die ganze Welt mit Freude erleuchtet.

Reuven Rubin – Lag Baomer in Meron

Es ist kein Zufall, dass Agnon Lagbaomer wählte. Der 33. Tag der Omerzählung ist der Tag, an dem die Trauerzeit des Omer für einen Tag unterbrochen werden kann und die Menschen sich freuen, heiraten und ihre Haare schneiden können. (Mehr dazu in unserem vorherigen Beitrag: https://breslauersammlung.com/2023/04/26/zaehlet-die-tage/

Aus „Der Israelit – Ein Zentralorgan für das orthodoxe Judentum“. Frankfurt am Main, 1911.

Agnon war selbst Zeuge eines sehr tragischen Lagbaomer-Festes auf dem Meron. Im Jahr 1911 versammelten sich etwa 10.000 Menschen auf dem Meron, um Lagbaomer zu feiern. Eine der Absperrungen, die dem Druck der vielen Menschen nicht standhalten konnte, stürzte ein und riss 11 Menschen, darunter auch Kinder, in den Tod. Dieses Unglück, das uns an die Katastrophe von Meron vor einem Jahr erinnert, wurde von Agnon bezeugt:

Und ich, der vor einer Stunde noch unter all den heiligen Menschen stand, blieb am Leben. Wie wurde ich gerettet? Ich hörte ein sehr lautes und starkes Geräusch, ich dachte, es sei das Geräusch der Hadlaka (Entzündung), ich war in Trauer, ich bin fünf Tage zu Fuss gegangen, um die Hadlaka zu sehen… Zwischen mir sind Krankentragen und auf ihnen die Toten… und ich, der ich vor einer Stunde zwischen ihnen stand, als sie noch lebten, ich bin zum Träger der Toten geworden.
Tim Nachum Gidal – Meron, Mai 1936.

Die Kurzgeschichte, die wir Ihnen hier in voller Länge vorstellen, erschien 1936 in der Übersetzung von Bertha Badt-Strauss:

S.J Agnon – Das Lichtzünden in Meron

Wer niemals die Freude am Grabe des Rabbi Schimon ben Jochai am Lagbeomer in Meron sah, der hat all sein Lebtag keine Freude gesehen. Denn dorthin ziehen Scharen um Scharen von Juden festlich geschmückt, unter Liedern und Musik. Von allen Orten her kommen sie dorthin, aus den Stätten unseres Gottes, aus den Ländern Edoms und Ismaels. Tag und Nacht verweilen sie dort, lernen Schar und andere liebliche Lehren beten und singen Lobgesänge. Eine Mamorsäule ist dort aufgerichtet, die trägt auf der Spitze ein Becken fürs Oel. Dort schüttet man Olivenöl hinein. Unterdes hat man schon Fäden von Seide aus schönen Schleiern und kostbaren Kopftüchern, gold- und silbergestickten Gewändern ausgezupft. Die tut man nun ins Oel und zündet es an. Und nun wird das grosse Jahrzeitsfest gefeiert. Da tanzt man im Kreise — der Schechina entgegen, die in selbiger Nacht herab steigt, um teilzunehmen an der Freude des göttlichen Tannaiten. Am innigsten aber freut sich heute die heilige Gemeinde, die Leute von Safed. Denn sie sind ihm ja näher als alle die Andern — in ihrem Bereiche ist er begraben. Drum freuen sie sich auch heute noch unendlich viel mehr an seiner Freude. Danach aber verschuldeten es unsere Sünden, daß die Freude verschwand und die ganze Welt sich mit Grausen erfüllte. Denn die Könige zogen aus, um miteinander zu kämpfen. Esau kämpfte wider Ismael, Ismael wider Esau; und beide kämpften wider Israel. Ging einer auf die Strasse, so verzehrte, ihn das Schwert. Blieb er daheim, so frass ihn der Hunger. Hatte er noch einen Tropfen Oel, so wußte er nicht: soll ich damit meinen Lieben das Seelenlicht anzünden, die man totschlug im Kriege? oder soll ich Weib und Kinder damit versorgen, die mir Hungers sterben? — Wer einst im Purpur aufwuchs und sich in Seide hüllte, zur Augenlust für die Leute  — der saß jetzt still und stumm daheim, bedeckte mit Lumpen seine Blösse und scheute sich, auszugehen.. bis man das Gebot der Wallfahrt vergass im Heiligen Lande und die Wege verödeten. Stumm wurden die Wege, die einst strotzten von Israeliten. Meron — einst hell wie ein Hochzeitshaus — jetzt lag es im Dunkel. Und gar die Männer von Safed: jene heilige Schar, einst Helden an Kraft, dem Schöpfer zu dienen in Freuden — jetzt verbargen sie sich in ihren Häusern und stimmten ein Klagelied an. Endlich kehrte der Heilige, gelobt sei Er, zu dem Orte zurück, von dem Er ausgezogen war und sah sich an, was in seiner Welt geschah. Da erfüllte ihn Erbarmen mit seinen Geschöpfen und Er begnadigte die Überlebenden, die das Schwert Verschont hatte; Er zerbrach die Herrschaft der Frevler und stürzte den Stolz der Tyrannen. Sie legten die Waffen fort; die Kriegsgeräte ruhten, und die Menschen begannen wieder, ihren Berufen nachzugehen. Volk nach Volk kehrte in sein Land — Volk nach Volk kehrte in seine Heimat zurück. Und es kam eine Zeit der Gnade für Israel, wie man sie seit den Tagen der Zerstörung des Tempels nicht erlebt hatte. Mancher von den Juden , die noch nicht den Glauben an die Erlösung verloren hatte, machte sich auf und ging ins Land Israel. Dort fand er das Land verwüstet und blutbesudelt — und die Juden verstört und gedrückt. Da wandten die Ankömmlinge alle Herzenskraft darauf, die Kranken zu heilen und die Wankenden zu stützen; sie bereisten das ganze Land und halfen mit gutem Rat, mit Brot und Gewand. Als sie nach Safed kamen, war´s gerade am Tage vor Lagbeomer. Da kamen ihnen alle Juden von Safed entgegen und sprachen zu ihnen: „ Brüder, nicht Silber noch Gold erbitten wir von Euch noch sonst eine Gabe. Aber: es gibt im Lande Israel einen altgeheiligten Brauch, daß man am Lagbeomer nach Meron zieht und auf dem Grabe des Rabbi Schimon ben Jochai die Ölflamme entzündet. Vielleicht helft Ihr uns zur Erfüllung dieses Gebotes. Denn in allen Kriegsjahren waren die Wege übervoll mit Truppen — wir sassen wie Gefangene in unseren Häusern und konnten nicht nach Meron hinauf. Jetzt da sich der Heilige, gelobt sei Er, seiner Welt wieder erbarmt hat, wollen wir gerne wieder hinaufziehen und dort das Licht entzünden am Tage der Jahrzeit, wie sich’s gehört. Da sagten die Männer aus den Landen der Zerstreuung zu den Männern von Safed: „Auch wir wollen teil haben an dieser Freude!“ Sie liessen Krüge voll Oel holen und – brachten kostbare Tücher dazu; dann stiegen sie alle nach Meron hinauf. Als sie aber zur Höhle des Rabbi Schimon ben Jochai kamen, da fanden sie ein Häuflein Araber vor der Höhle stehen. Die trugen zerschlissene Läppen, in Oel getaucht, in den Händen. Da sagten die Araber zu den Juden: Gelobt sei der Allgegenwärtige, gelobt sei Er, der Euch hierher brachte. Und gesegnet sollt Ihr dem Gotte unseres Vaters Abraham sein, daß Ihr zur rechten Zeit kämet. Alle die Jahre, da ihr nicht kämet, haben wir das Licht am Grabe dieses Frommen entzündet. Jetzt, da ihr wieder da seid… tut was Eures Amtes ist — entzündet das Licht!
Und Israel feierte das Fest des Lichtzündens am Grabe des Rabbi Schimon ben Jochai — bis das ganze Land widerstrahlte von seinem Licht.

Oded Fluss. Zürich. 8.5.2023

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Der jüdische Mai

Efraim Moses Lilien – Der jüdische Mai. Lieder des Ghetto. S. Calvary Verlag, Berlin, 1902.

Selten passen ein Bild und ein Gedicht so gut zusammen.
Der jüdische Mai, ein jiddisches Gedicht von Morris Rosenfeld (1862-1923), und die gleichnamige Zeichnung des grossen jüdischen Künstlers Efraim Moses Lilien (1874-1925) sind so harmonisch, dass sie aus derselben Quelle zu stammen scheinen. Sowohl in der Zeichnung als auch im Gedicht wird der Mai als Monat des Frühlings, der Erneuerung, der Wiedergeburt beschrieben und dargestellt. Die gesamte Natur ist von der Ankunft des Mais betroffen, nur der Jude scheint ausserhalb der Natur zu stehen, gefangen in seiner Religion, seiner alten Tradition und seinem Leid. 

Efraim Moses Lilien

Der neue zionistische Jude hingegen wünscht sich seinen eigenen Mai, seinen eigenen Frühling. Er bleibt seiner Religion und seiner alten Tradition verbunden, aber er betrachtet das Heilige Land aus der Ferne, wie Moses auf dem Berg Sinai, und sehnt sich mit ganzem Herzen danach. Die Beschreibung dieses Bildes durch Heinrich Löwe (1869-1951) in der zionistischen Zeitung „Die Welt“ im Jahre 1904 ist sehr treffend:

Von Dornengestrüpp umfangen sitzt der Jude auf dem Lilienschen Bilde, das der Künstler zu Morris Rosenfelds „Jüdischem Mai“ geschaffen hat. Schlangen züngeln um ihn empor und zischen ihm ins Antlitz. Er aber sieht nichts davon und merkt nicht auf das Otterngezücht. Denn in der Ferne gewahrt er die hohe Burg Zion, umflossen vom goldenen Strahl der lebenspendenden Maiensonne. Über Palmen und gewundene Blumenpfade schweift sein Blick zu einem glücklichen Jerusalem inmitten grünender und blühender Gärten, in einem blühenden und reichen Judenlande.
Der jüdische Mai, der Tag, an dem die Frühlings sonne nicht bloß für die Menschheit, nein, erst einmal wieder für das zwei Jahrtausende lang geknechtete Volk aufgehen soll, muß kommen. Zwei Jahrtausende bitteren Leides haben wir um ihn gebangt, haben wir uns nach ihm gesehnt und haben wir ihm entgegengearbeitet.
Der jüdische Mai muß kommen. Die Winternacht hielt unsern Volkskörper schon viel zu lange in ihrer eisigen Umklammerung, als daß wir uns jetzt nicht noch viel mehr, noch viel glühender nach der Maiensonne sehnen sollten.

Der Mai ist hier nicht nur der Beginn einer neuen Jahreszeit, sondern auch ein Symbol für die Wiedergeburt des Juden als freier Mensch. Pessach, das mehr als alles andere für die Befreiung aus der Sklaverei und für die Sehnsucht nach dem Heiligen Land steht, wird hier zionistisch gedeutet und der darauffolgende Mai als Aufruf zum Handeln. Das Gedicht galt seinerzeit als Nationalhymne und wurde auf dem Ersten Zionistischen Kongress in der wunderbaren Übersetzung von Berthold Feiwel vorgetragen.

Morris Rosenfeld

Rosenfeld, der mehr als alles andere eine starke sozialistische Überzeugung hatte und als „Kronendichter“ der jiddischen Arbeiterbewegung bekannt war, konzentriert sich in diesem Gedicht zwar auf den Juden, sieht in ihm aber ein universelles Beispiel für die Versklavten. Durch die Befreiung des Juden, des Schwächsten und Geknechteten, strebt er die Befreiung der gesamten Menschheit an. Es ist kein Zufall, dass Rosenfeld sich für den Monat Mai entschieden hat, der als der Monat der Rechte der Arbeitnehmer bekannt ist.

Morris Rosenfeld – Der jüdische Mai (Übersetzt von Berthold Feiwel)

Wieder ist der Mai gekommen,
Kam mit seiner Zauberpracht —
Alle Gräser, alle Blumen
Sind nun wieder aufgewacht.
Wieder blüht es auf den Feldern,
Wieder grünt es in den Wäldern,
Wieder glänzt es überall,
Wieder singt die Nachtigall.
 
Wieder malt der Maler Frühling.
Wie er seinen Pinsel führt,
Werden Berge, werden Thäler
Neu mit jungem Grün geziert.
Und die Sonne strahlt hernieder,
Küsst die Erde, küsst sie wieder,
Und mit süssen Schmeichelei’n
Lädt sie zum Geniessen ein.
***************************************** 
Wie ’s da gleich in allen Herzen
Frühling werden will!
Wunderschöne Phantasien
Ziehen durch die Seelen still.
Gold ’ne Träume schweben
Und sie weben
Neue Himmel,
Und sie wecken
Neues lieben,
Und mit gabenfrohen Händen
Tausendfache Lust zu spenden,
kommt das Glück…
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Aber seht, dort wandelt einer:
Mitten durch die Maienlust
Geht er still, gesenkten Hauptes,
Und er seufzt aus tiefster Brust.
Einsam geht er, schmerzverloren,
Leidensmatt und lebensmüd —
All sein Mai und all sein Frühling
Sind schon längst, schon längst verblüht…
 
Sagt mir, kennt Ihr jenen Kranken?
Frühling ist ’s, es blüht und sprüht,
Doch die traurigsten Gedanken
Stürmen wild durch sein Gemüt.
Wer das ist, Ihr wisst es gut:
Unser Alter, unser Jud’…
Ihn umschwebt
Kein holder Zauber,

Es erbebt
Sein Herz vor Qual,
Und es glänzt kein Hoffnungsstrahl
Aus dem Blick.
Schwere, nie vernarbte Wunden
Sind die Zeugen böser Stunden.
Wohin die Gedanken reichen,
Tod und Sterben, Leichen. Leichen — —,
Alte Jugend, totes Glück…
 
Zweig und Dorn und Blatt und Blühte
Treiben mit ihm bösen Spass,
Jede Blume blickt verächtlich,
Jeder Vogel ruft voll Hass:
Frühlingsluft und Frühlingsfreude —
Doch für ihn ist nichts dabei!
Fremde Vögel, fremde Götter,
Fremde Welt — ein fremder Mai…
******************************************
Lacht nicht, Blumen, nur nicht spotten!
Die ihr glüht vom Frühlingskuss,
Glaubt, viel schönere getreten
Hat einmal des Juden Fuss…
Felder goldner Pomeranzen
Glänzten einst in seinem Land
Seine wunderschönen Pflanzen
Pflanzte Gott mit eigner Hand.

Fragt von Libanon die Zedern,
Sarons Myrten fragt im Tal,
Ob sie ihn nicht noch erkennen,
Der ihr Herrscher war einmal.
Fragt den schönen heil’gen Ölberg
Fragt den Karmel jeden Baum,
Fragt all die tote Schönheit
Nach dem alten schönen Traum…

Würzige Paradieseslüfte
Wehten einst durchs heilige Land,
Und in seinem stolzen Tempel
Hat sein Gott sich ihm bekannt.
Tausend selige Engel spielten
In dem göttlichen Gezelt,
Und er fühlte tausend Freunden,
Freunden einer andern Welt.

Dort beim schönsten Saitenspiele
Sang der Jude wunderviele,
Sang er wunderreiche Lieder,
Wie sie nie erklingen wieder
In so reinem, hellem Sange,
Mit so zaubersüssem Klange — — —
Ach, an stumme Weidenbäume
Hängte Juda seine Träume

Längst vorbei! — Doch sieh, welch Wunder!
Neue Träume ziehn herbei:
Hörst du, Jude? „Glück und Frieden!“
Ruft dir zu ein neuer Mai.
Wein‘ nicht! Bist noch nicht verloren,
Wegmüder Wandrer du,
Neue Jahre, gute Jahre,
Winken dir, mein Jude, zu!
Hörst du, wie’s durch Wolken zieht?
Himmlisch-schöne Melodien,
Hörst du es, das neue Lied?

Wieder wird dein Esrog grünen,
Deine Myrten werden blühn,
Wieder wird dein Land erwachen,
Und dein Gott, er bringt dich hin.
Wieder klingen Hirtenlieder,
Und dein Weinberg dehnt sich weit,
Leben wirst du, leben wieder,
Fort in alle Ewigkeit.
Nach den bösen Wandertagen
Wird das Leben dir zur Luft,
Unterm stillen Berg Moria
Atmet frei die Heldenbrust…
Und beschlossen ist das Elend
Und beendet Leid und Qual,
Wirst in deinem Heim verbleiben,
Frei und friedlich wie einmal
Auf, betritt nur kühn die Pfade
In dein altes Heimatland!
Manch ein Feuerfunke glüht noch
In der eingefall’nen Wand.

Oded Fluss. Zürich, 1.5.2023

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Zählet die Tage

Ihr sollt euch aber zählen von dem Tag nach dem Sabbat, von dem Tag, da ihr die Garbe der Schwingung bringt: Sieben volle Wochen sollen es sein. Bis zum Tage nach dem siebenten Sabbat sollt ihr zählen: Fünfzig Tage, und dann sollt ihr Gott ein Opfer vom Neuen darbringen.

Heute ist der 27. April. 2023. Das jüdische Datum ist der 6. Ijar, 5783, aber in der Zeit zwischen Pessach und Schawuot sollten wir, wenn wir der jüdischen Religion folgen wollen, auch hinzufügen, dass heute 21 Tage, also 3 Wochen der Omer-Sefirah (Zählung) sind.
Omer-Zählen ist ein religiöses Gebot, das aus dem oben zitierten Vers aus ויקרא Levitikus 23 stammt. Der Omer (eine Masseinheit) war eine Opfergabe aus frisch geerntetem Getreide, die unmittelbar nach Pessach in den Tempel gebracht wurde. Vom Tag des Opfers an sollten 49 Tage gezählt werden, die am darauf folgenden Tag mit dem Fest Schawuot endeten. Wie die Tage zu zählen sind, erfahren wir aus dem Tur Orach Chaim im Schulchan Aruch (489, 1).

Am zweiten Pessach-Abend beginnt man nach dem Abendgebet Omer zu zählen. Man zählt die Tage und Wochen in folgender Weise: Am ersten Abend spricht man: Heute ist ein Tag des Omer-Abschnitts; am siebenten: Heute sind sieben Tage, das ist eine Woche des Omer-Abschnitts; tags darauf: Heute sind acht Tage, das ist eine Woche und ein Tag des Omer-Abschnitts; und so fort bis zum Ablauf der sieben Wochen.

Diese Tage sollten als Erntetage eine positive und freudige Bedeutung haben und vor allem im religiösen Sinne die Tage der Befreiung aus Ägypten, des Empfangs der Zehn Gebote und der Verheissung des Heiligen Landes symbolisieren. Durch bestimmte historische Umstände wurden sie jedoch zu Tagen der Trauer.

Zwölftausend Schülerpaare hatte Akiwa in dem Raum zwischen Gabbata und Antipatris, und alle starben sie um eine Zeit. Warum? Weil sie einander keine Ehre erwiesen. So wurde die Welt verödet, bis Akiwa zu den Meistern im Süden kam und die Lehre an sie weitergab. Die Schüler Akiwas starben einen bösen Tod; wie einer meint, erstickten sie an der Bräune. In den Wochen zwischen Pessach und Schawuot wurden sie hingerafft.

Nach einem Bericht im Babylonischen Talmud (Javamot 62b) wurden zu Beginn des 2. Jahrhunderts, in der Zeit zwischen Pessach und dem Wochenfest, 24.000 junge Toragelehrte in Palästina – Schüler des berühmten Rabbi Akiwa – von einer epidemischen Halskrankheit dahingerafft.
Der Brauch des Trauerns während der „Omer-Zeit“, d.h. der sieben Wochen vom zweiten Tag des Pessachfestes bis zum Wochenfest, geht auf dieses traurige Ereignis zurück. Was das Trauerritual beinhaltet, erfahren wir auch aus der Orach Chaim:

Es ist Brauch, zwischen Pessach und Lag ba-Omer [der 33. Tag der Omerzeit] keine Frau zu heiraten, weil in dieser Zeit die Schüler von Rabbi Akiwa gestorben sind. Wir bestrafen jedoch niemanden, der sich in dieser Zeit verlobt. Es ist Brauch, mit dem Haareschneiden bis Lag ba-Omer zu warten, da die Pest, die Rabbi Akiwas Schüler tötete, an Lag ba-Omer aufgehört haben soll, ihren Tribut zu fordern. Wenn Lag ba-Omer auf einen Samstag fällt, darf man sich die Haare nicht schneiden, um den Schabbat zu ehren und er wird sich am nächsten Tag die Haare schneiden. Diejenigen, die ihre Kinder beschneiden lassen, dürfen sich zu diesem Anlass zur Omer-Zeit die Haare schneiden.

Auch die Judenverfolgungen während des Ersten Kreuzzuges (1096), der ebenfalls in die Omerzeit fiel, könnten zur Verbreitung der Trauerbräuche beigetragen haben. Berichte über diese Verfolgungen wurden in dem 1919 im Jüdischen Verlag Berlin erschienenen Buch „Edom – Berichte jüdischer Zeugen und Zeitgenossen“ gesammelt und ins Deutsche übersetzt. Wir übernehmen daraus die Berichte über die jüdischen Gemeinden in Speyer und Worms:

Am Sabbath, dem 8. Ijar brach das Strafgericht über uns herein. Es erhoben sich die Kreuzfahrer und die Städter zuerst gegen die heilige und fromme Gemeinde von Speyer; sie gedachten, alle zusammen im Bethaus zu ergreifen. Doch die Juden erfuhren davon, standen am Sabbath morgens früh auf, beteten eilends und verliessen das Bethaus. Da sahen die Feinde, dass ihr Anschlag misslungen war, fielen über die Juden her und töteten elf Seelen. So nahm dort das Verhängnis seinen Anfang nach dem Worte: „Mit den Mir Geweihten sollt ihr beginnen“ […]
Als die schlimme Botschaft nach Worms kam, dass ein Teil der Gemeinde zu Speyer erschlagen sei, da schrien sie auf zum Herrn und erhoben ein grosses, bitteres Weinen, denn sie sahen, dass es kein Entrinnen gab, nicht vorwärts und nicht rückwärts. Die Gemeinde teilte sich in zwei Teile, die einen flohen zum Bischof in seine Burg, die andern blieben in ihren Häusern, denn die Städter versprachen ihnen Schutz. Doch es waren falsche, tückische Reden, gleich geknicktem Rohre; sie waren mit den Kreuzfahrern im Einverständnis, unseren Namen und Rest auszutilgen. „Fürchtet euch nicht vor ihnen“, sprachen sie zu uns, „denn wer einen von euch tötet, wird mit seinem Leben für eurer Leben büssen“. Dabei nahmen sie ihnen jede Möglichkeit der Flucht, denn die Gemeinde hatte all ihr Vermögen in ihre Hände gelegt, um deswillen verrieten sie nachher.
Am 10. Ijar erhoben sich die Wölfe der Wüste wider die, die so in ihren Häusern geblieben waren und tilgten sie aus, Männer, Weiber und Kinder, Jung und Alt; sie warfen die Treppen um, rissen die Häuser ein, plünderten und machten Beute; sie raubten die Thora, traten sie in den Kot, zerfetzten und verbrannten sie und frassen die Kinder Israel mit vollem Maul. Am 25. Ijar kam der Schrecken auch über jene, so im Hause des Bischof weilten. Die Feinde marterten sie gleich wie die ersten und überlieferte sie dem Schwerte…

Einen kleinen Pijut (religiöses Lied) mit der Unterschrift des Namens שלמה Schlomo (viele halten ihn für den grossen Dichter Schlomo Ibn Gabirol), den wir in einigen der Machzorim finden und der am zweiten Samstag nach Pessach gesungen werden sollte, drückt ebenfalls den Gedanken der Trauer und des Leidens während der Omerzeit aus.

Geulla le-schabat schnia achar Pessach
Schnotenu safu be-dalut u-ve-kalut
la-or nekawe, ve-hine buz ve-schiflut.
Maschlu banu avadim, ve-anachnu ba-Galuth.
Hoshia H‘, ki be-cha eyalut.
le-ma’an schimcha H‘, ase le-tova ot!
H‘, ad matai ketz ha-pla’ot?
Schlomo

Geulla (Erlösung) am zweiten Schabbat nach Pessach
Unsere Jahre endeten schnell und arm
Wir hofften auf Licht und fanden nur Verachtung und Niedertracht
Wir wurden von Sklaven regiert und sind in der Galuth (Diaspora).
Hilf uns, Gott, denn du hast die Macht
Um der Ehre deines Namens willen, gib uns ein Zeichen!
Gott, wann kommt die Zeit des Messias?

Oded Fluss. Zürich, 27.4.2023

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Das Lebensgebet – der letzte Rabbiner von Jurbarkas

Eine kleine Widmung in einem Buch, adressiert an den berühmten Zürcher Rabbiner Martin Littmann (1864-1945), hilft uns, die kleine jüdische Gemeinde von Jurbarkas (Georgenburg), einst Teil des Gouvernements Kaunas (Kowno), heute in Litauen gelegen, für einen kurzen Moment wieder aufleben zu lassen.

Chaim Reuven Rubinstein – Sefer Tefilat Chaim. Wilna, 1913.

Der stolze Autor des Buches und Verfasser der Widmung ist Rabbiner Chaim-Reuven Rubinstein (1888-1941). Als langjähriger Dayan (Richter) der kleinen Gemeinde war Rabbiner Rubinstein für sein freundliches und angenehmes Wesen bekannt. Sein liebster Besitz war seine reiche jüdische Bibliothek, der er sich Tag und Nacht widmete. Die Bücher, die er selbst geschrieben hatte, gab er auf eigene Kosten heraus, übersetzte sie zum Nutzen der deutschen Juden ins Deutsche und schickte sie oft als Geschenke an Freunde und Kollegen.

Sehr geehrter Herrn Rabbiner Dr. Littmann in Zürich
[Hiermit sende ich Ihnen mein kleines, aber feines Buch zu Ihrer grossen Ehre. Möge Gott Ihnen Leben und Frieden schenken, damit Sie in Wohlstand lernen und an Wissen zunehmen können.
Ich segne Sie, schätze Sie und wünsche Ihnen alles Gute. Rabbiner Chaim Reuven Rubinstein.]
Ich bin vom Ruhmvollen Herrn Lehrer J. Fröhlich empfohlen.

Als 1940 der berühmte Rabbiner von Jurbarkas, Avraham Diamant, starb, wurde Rabbiner Rubinstein berufen, in seine grossen Fussstapfen zu treten. Tragischerweise diente er nur ein Jahr als Rabbiner seiner geliebten Gemeinde und wurde als der letzte Rabbiner von Jurbarkas bekannt.

Rabbiner Avraham Diamant

Der Holocaust in Litauen begann 1940 mit dem Einmarsch der Nazis. Viele der kleinen jüdischen Gemeinden wurden sofort von den Nazis und ihren Helfern vor Ort zerstört. Als die Nazis in Jurbarkas einmarschierten, war das Schicksal des Rabbiners Rubinstein so bitter wie das seiner ganzen Gemeinde. Wie im Sefer HaZikaron LeKehilath Yurburg-Lita (Gedenkbuch der Jüdischen Gemeinde Jurbarkas) zu lesen ist, wurde er im Sommer 1941 mit einem Teil seiner Gemeinde von den deutschen Nazi-Bestien auf den örtlichen Friedhof gebracht, wo er heftig gegen die Untaten der Nazis und ihrer litauischen Helfershelfer protestierte. Sie gingen weiter, um ihn zu foltern und zwangen ihn, seine reiche und geliebte Bibliothek zu einem grossen Haufen heiliger Bücher zu bringen, die in Brand gesteckt wurden, während die Juden – Männer und Frauen – aufgefordert wurden, zu singen und zu tanzen. Die Nazis und ihre lokalen Komplizen demütigten und folterten den Rabbiner zu Tode.

Die alte hölzerne Synagoge von Jurbarkas (erbaut 1790), die ebenfalls von den Nazis niedergebrannt wurde.

Das Buch, das Rabbiner Rubinstein seinem Freund Rabbiner Littmann in Zürich schickte und das in unsere Bibliothek kam, heisst Sefer Tefilat Chaim. Es kann sowohl als „Buch des Gebets von Chaim“ als auch als „Buch des Lebensgebets“ (Chaim ist das hebräische Wort für Leben) übersetzt werden. Wir fühlen uns geehrt und privilegiert, eines der Bücher von Rabbiner Rubinstein in unserer Bibliothek zu haben, sowohl als Zeugnis seines Lebens als auch seiner Liebe zu Büchern, die die Nazis versuchten auszulöschen.

Die Privatadresse von Rabbi Chaim Rubinstein auf der Rückseite des Buches.

Oded Fluss. Zürich, 20.4.2023.

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Der Prophet Elija und Pessach

Ein Blick zur Tür… Ein Windeswehn
Lässt einen Flügel leise gehn.
Wer tritt herein? O Gast, komm her,
Dein Kelch ist voll, dein Platz ist leer.
Verweile doch, Prophet Eliah!
Dein Weg war weit, müd musst du sein.
Verweile, trinkt von unserm Wein
Und segne uns, Prophet Eliah!

Marek Scherlag – „Sedernacht im Ghetto“
„Elijahu ha-Nawi“. Aus „Olami Hakatan“. Warschau, 1936.

Obwohl sie in der Hauptgeschichte des Pessachfestes – dem Auszug der Israeliten aus Ägypten – keine Rolle spielt, ist eine bestimmte Figur dafür bekannt, uns während des Sederabends zu begleiten. Wir alle kennen die beiden Traditionen des Pessach-Seders, die mit dem Propheten Elija zu tun haben: Das Öffnen der Tür für Elija und das Hinterlassen eines gefüllten Weinbechers für den Propheten (auch bekannt als כוס אליהו „Elijaskelch“).

„Ich send‘ euch Elija, den Propheten. Er wird das Herz der Väter zu den Kindern und das Herz der Kinder zu den Väter zurückwenden“. Aus der Offenbacher Haggada. Verlag des Herausgebers Siegfried Guggenheim. Offenbach am Main, 1927.

Diese Tradition ist so bekannt, dass zahlreiche chassidische und jüdische Volkserzählungen über den Propheten Elija vom Sederabend handeln. In diesen Erzählungen erscheint Elija meist unter einer geheimen Identität (normalerweise als armer Mann), der durch die offen gelassene Tür eintritt. Die Sedergäste wissen nicht, wer er ist, und erfahren es erst, nachdem er ein Wunder vollbracht hat und wieder verschwunden ist. Das Wunder, das er vollbringt, variiert in den Geschichten: Er schenkt einer unfruchtbaren Frau ein Kind, ermöglicht einer armen Familie, Pessach zu feiern, rettet eine jüdische Gemeinde vor einer Katastrophe usw.
Siehe zum Beispiel die schöne Geschichte „Der Zauberkünstler“ von J.L. Perez (Ost und West. April, 1905):

Es bleibt jedoch die Frage, warum der Prophet Elija in der Pessach-Tradition überhaupt vorkommt?

Aus der Offenbacher Haggada. Verlag des Herausgebers Siegfried Guggenheim. Offenbach am Main, 1927.


Um dieser Frage nachzugehen, sollten wir zunächst die beiden Überlieferungen, in denen der Prophet Elija vorkommt, voneinander trennen und mit der Überlieferung vom Elijaskelch כוס אליהו beginnen. Diese Tradition ist relativ spät entstanden und findet sich erst Ende des 18. Jahrhunderts, insbesondere in den jüdischen Gemeinden Osteuropas. Es ist Brauch, zu den vier Gläsern, die während des Seder getrunken werden, ein weiteres Glas Wein zu füllen und es dem Propheten Elias zum Trinken zu überlassen.

Elijaskelch – כוס אליהו


Wir kennen noch eine andere Tradition, die Elija mit einbezieht, nämlich während der Brit Mila (Beschneidung) einen besonderen, ehrenvollen Stuhl für den Propheten Elija vorzubereiten. Auf diesem Stuhl wird die Beschneidung vollzogen. Nach der Geschichte, die auch im Zohar erzählt wird, war Elija zornig darüber, dass das israelitische Volk unter König Ahab seinen Brit (Bund) mit Gott vergessen hatte. Gott versprach ihm daraufhin, dass er deshalb bei jeder folgenden Beschneidung anwesend sein solle.
Aufgrund der Ähnlichkeit der Worte „Stuhl“ und „Kelch“ im hebräischen כסא / כוס („Kise“, „Kos“) wird angenommen, dass die Überlieferung auf eine Verwechslung der beiden zurückgeht.

כסא אליהו Elija-Stuhl für die Beschneidung


Eine andere, wahrscheinlichere Erklärung ist ein halachischer Streit über die Anzahl der Gläser, die während des Pessach-Seders getrunken werden sollten. Während einige Quellen (z.B. die Mischna und Talmud Jeruschalmi) vorschlagen, vier Gläser zu trinken, schlagen andere vor, fünf zu trinken (z.B. Maimonides und Isaak Alfasi R“if). Da es keine gute Lösung gibt, wird das Problem mit dem zusätzlichen Kelch Elijas gelöst. Elija ist als Löser aller Zweifel und Streitigkeiten bekannt, und wenn er kommt, soll er neben allen anderen offenen Fragen auch die Frage nach der Anzahl der Weingläser an Pessach lösen.

Aus der Offenbacher Haggada. Verlag des Herausgebers Siegfried Guggenheim. Flushing N.Y, 1960. Q 155.


Die Tradition, die Tür für Elija zu öffnen, basiert auf dem alten Brauch, die Türen während Pessach überhaupt nicht abzuschliessen, was als ליל שימורים „Lel Shimurim“ (Nacht der Bewahrung) bekannt ist. Einer der Gründe für diesen Namen ist, dass das israelitische Volk in dieser Nacht vor allem Unheil bewahrt wird, genau wie in der Nacht der zehnten Plage.

„Jeder der hungrig ist, komme und esse; jeder der bedürftig ist, komme und feiere Pessach“ Aus der Sarajevo Haggadah. D 7498.

Eine weitere alte Tradition, die Tür offen zu lassen, ist der Brauch der Gastfreundschaft am Pessach-Abend, wenn alle Armen am Seder-Abend aufgenommen und bewirtet werden sollen „כָּל דִכְפִין – יֵיתֵי וְיֵיכֹל, כָּל דִצְרִיךְ – יֵיתֵי וְיִפְסַח“ („Jeder der hungrig ist, komme und esse; jeder der bedürftig ist, komme und feiere Pessach“) . Manche führen auch das fünfte Glas auf diesen Grund zurück. Ein fünftes Glas wird für den Fall bereitgestellt, dass noch jemand kommt, und die Person sich willkommen fühlt, weil schon ein Glas auf sie wartet.

Moritz Oppenheim – Seder (der Oster-Abend). Bilder aus dem altjüdischen Familienleben. Q 220A.


Schon in der Zeit der Geonim wurde die Tradition des Türöffnens mit der Ankunft des Propheten Elija in Verbindung gebracht, nach dem Spruch von Chaza“l: „בְּנִיסָן נִגְאֲלוּ וּבְנִיסָן עֲתִידִין לִיגָּאֵל“ (Im Monat Nisan sind sie erlöst worden, und im Monat Nisan sollen sie erlöst werden.). Der Prophet Elija spielt hier die Rolle des Verkünders der Erlösung (In vielen Traditionen wird der Prophet Elija als Vorläufer des Messias angesehen). Es ist anzunehmen, dass die volkstümliche Vorstellungskraft in der Türöffnung für Elija einen Weg sah, die Erlösung des jüdischen Volkes zu empfangen.

Nina Brodsky – Nissan. Aus „Jüdischer Kinderkalender 5689“. Jüdischer Verlag. Berlin, 1928/29. Z 16.

Oded Fluss. Zürich, 30.3.2023

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Der Giftpilz – Antisemitisiche Nazipropaganda in Kinderbüchern.

„Das Jugendbuch vom Stürmer-Verlag ‚Der Giftpilz‘ gehört in die Hand eines jeden deutschen Jungen und Mädels. Aber auch die Erwachsenen sollen daraus lernen, weil sie um der deutschen Zukunft willen nicht müde werden dürfen, ihre Kinder immer wieder zu lehren: Der Jude ist der Satan in Menschengestalt, er ist die fleischgewordene Lüge. Wer in seine Krallen kommt, ist für sein Volk und für sich selbst verloren.“
SS-Obergruppenführer Max Amann.

Die nationalsozialistische Propaganda war eines der Hauptinstrumente der NSDAP, um die Massen innerhalb und ausserhalb Deutschlands zu gewinnen und die Kontrolle über sie zu erlangen und aufrechtzuerhalten. Als solches war sie in den Jahren vor und während der Herrschaft Adolf Hitlers über Deutschland in fast jedem Aspekt des täglichen Lebens präsent, sei es durch traditionelle Methoden wie Massenversammlungen, Reden und Zeitungen oder sei es durch moderne, für ihre Zeit fortschrittliche Methoden wie Radio, Film und Fernsehen. Ziel der Propaganda war es, alle Menschen anzusprechen und dabei den kleinsten gemeinsamen Nenner der Angst zu nutzen.

Die Propaganda machte auch vor den Kindern nicht halt und begann bereits in den Kindergärten und Schulen mit speziell entwickelten nationalsozialistischen Erziehungsprogrammen die nationalsozialistische Ideologie und das nationalsozialistische Gedankengut des Nationalsozialismus so früh wie möglich umzusetzen. Begleitet wurden diese Programme von Lesestoff, der die Hauptideen der NSDAP, vor allem die Verherrlichung des Führers sowie antisemitische Überzeugungen, vermittelte. Das Lesematerial wurde sorgfältig auf Kinder zugeschnitten, indem bunte Bilder und bekannte Kindermärchen verwendet wurden, um die Botschaft zu verbreiten.

Der „Giftschrank“ in der ICZ-Bibliothek

Im „Giftschrank“ unserer Bibliothek befinden sich zwei dieser antisemitischen Kinderbücher, die beide im berüchtigten Verlag Der Stürmer erschienen sind, der von einem der obersten Propagandisten der NSDAP, Julius Streicher, geleitet wurde. Streicher, der auch Gründer, Eigentümer und Herausgeber des antisemitischen, politpornografischen Hetzblattes Der Stürmer war, hatte grossen Einfluss auf die beiden Bücher – wie man unschwer an der grafischen Gestaltung erkennen kann, die seiner Zeitung sehr ähnelt – sowie an seiner Figur in diesen Büchern.

„Das ist der Streicher!“ Aus Trau keinem Fuchs auf grüner Heid, und keinem Jud bei seinem Eid

Das erste Buch, das wir uns anschauen werden, ist das Buch mit dem langen Titel Trau keinem Fuchs auf grüner Heid, und keinem Jud bei seinem Eid. Es ist das erste von drei Kinderbüchern, die im Stürmer Verlag erschienen sind. Es wurde 1936 in Nürnberg gedruckt und von der damals 18-jährigen Elvira Bauer geschrieben und illustriert. Die etwas merkwürdige Schrift, in der es gedruckt wurde, ist die Sütterlinschrift, die damals als Schreibschrift für Anfänger galt und in Schulen verwendet wurde, um jungen Schülern das Schreiben beizubringen.

Trau keinem Fuchs auf grüner Heid, und keinem Jud bei seinem Eid – Ein Bilderbuch für Gross und Klein von Elvira Bauer. Der Stürmer Verlag, Nürnberg, 1936.

Schon am Einband und am Titel erkennt man die schwerwiegenden antisemitischen Motive, die in der Verkleidung eines bunten Kinderbuches zum Ausdruck kommen. Die Figur des Fuchses, der in Kindermärchen häufig als Symbol für das Gerissene und Verschlagene verwendet wird, wird hier mit dem Juden in Verbindung gebracht, der in ähnlicher Weise betrachtet werden sollte. Der Jude auf dem Einband hat die gleichen ’stürmerischen‘ Motive, die Streicher oft in seiner Zeitung verwendete (hässlich, kahlköpfig mit einer langen, krummen Nase). Er hebt seine Finger wie zum Eid.

Elvira Bauer – aus Der Stürmer, Heft 51, 1936.

Die unschuldig wirkende Autorin, die zu allem Überfluss auch noch als Kindergärtnerin gearbeitet hat, verliert keine Zeit und schon auf der ersten Seite des Buches begegnen wir einem schrecklichen „Kindergedicht“ mit dem Titel „Der Vater des Juden ist der Teufel“. Wir werden nur einen kleinen Teil dieses sogenannten Gedichtes abschreiben, um einen kleinen bitteren Vorgeschmack zu geben:

Als Gott, der Herr, Die Welt gemacht,
Hat er die Rassen sich erdacht:
Indianer, Neger und Chinesen,
Und Juden auch, die bösen Wesen.

Obwohl sich das Buch an Kinder wendet, bedient es die schlimmsten antisemitischen Klischees auf abscheulichste grafische, manchmal sogar pornographische Weise. Der Jude wird immer als hässlich, schmutzig, manipulativ, böse, faul und geizig dargestellt, im Gegensatz zum „Arier“, der immer schön, moralisch, sauber, fleissig und oft naiv ist. Der wahre Gott des Juden ist das Geld, und der Sabbat ist für ihn nur ein Vorwand, um die „Gojim“ seine Arbeit machen zu lassen. Der Jude wird auch als derjenige dargestellt, der „reindeutsche“ Frauen stehlen will.

Was ist der Jud ein armer Wicht!
Mag seine eigenen Frauen nicht!
Er meint, er sei entsetzlich schlau
Wenn er sich stiehlt ’ne deutsche Frau

Das vielleicht Schrecklichste an diesem Buch ist, dass es den Kindern Angst vor ihren Mitmenschen einimpft. Die jungen Leser lernen aus diesem Buch, dass ihre jüdischen Freunde, Nachbarn und Klassenkameraden böse Wesen sind, die sich als ihre Mitmenschen tarnen. Sie können sich als Deutsche ausgeben, indem sie ihren Namen ändern; ihre Eltern können in die deutsche Kultur und in deutsche Berufe einsteigen; sie können sich sogar taufen lassen, aber sie werden immer Juden bleiben. Ihr einziges Ziel ist es, die „reinen“ arischen Deutschen auszunutzen, ihnen zu schaden und von ihnen zu profitieren.

Damit den Jud man soll nicht kennen,
Tat bald er anders sich benennen.
Ein Nathan heisst bald Jonathan.
Herr Levin hängt ein „son“ sich dran.

Das Buch steigert sich zu einem sogenannten Happy End: Mit Hilfe von Stürmer und Streicher begreifen die Deutschen endlich die Gefahr, die von den Juden ausgeht. Sie verkehren nicht mehr mit Juden, stellen sie nicht mehr ein und kaufen nicht mehr in ihren Geschäften. Das Buch endet mit einer alptraumhaften Utopie, in der alle Juden – Männer, Frauen und Kinder – aus Deutschland vertrieben werden.

Im fernen Süden liegt das Land
Wo einst der Juden Wiege stand.
Dorthin soll‘ n sie mit Frau und Kind
So schnell wie sie gekommen sind!-
Seht an das jammervolle Bild!
Die Juden garstig frech und wild:
Den Abraham, den Levinson
Rebekkchen mit Sohn Jonathan,
Dann Simon und auch Aaron Kahn-
Wie sie die Augen rollen
Und sich von dannen trollen.

Ein weiteres schreckliches Beispiel dieser Kinderbüchern, welches sich in unserem Giftschrank befindet, ist das zwei Jahre später ebenfalls im Stürmer Verlag erschienene Buch Der Giftpilz.

Ernst Hiemer – Der Giftpilz. Stürmer Verlag. Nürnberg, 1938. Bilder von Fips (Philipp Rupprecht).

Im Gegensatz zum letzten Buch, das wir besprochen haben und dessen Texte bewusst kindlich und in Form von eingängigen Liedern gestaltet waren, präsentiert sich dieses Buch pädagogischer und seriöser. Das erste Kapitel, das die Moral des ganzen Buches erklärt, wird in Form einer Fabel erzählt: Eine Mutter und ihr Sohn sind im Wald auf der Suche nach Pilzen, der Sohn stolpert über einen unschuldig aussehenden Pilz und pflückt ihn. Die Mutter ist jedoch entsetzt und erkennt sofort, dass es sich um einen giftigen Pilz handelt. Die Moral der Fabel lautet „Wie die Giftpilze oft schwer von den guten Pilzen zu unterscheiden sind, so ist es oft sehr schwer, die Juden als Gauner und Verbrecher zu erkennen…“.

Das Buch stützt seine antisemitischen Angriffe auf das äussere Erscheinungsbild sowie auf religiöse, ethische und moralische Werte. Es gibt Kapitel, die zeigen, wie Kinder im Unterricht über „die Juden“ lernen, dass Juden krumme Nasen haben („Sie sieht aus wie ein Sechser…“), dass sie schmutzig sind, dass ihre Körper von Lügen verseucht sind und dass sie abstehende Ohren haben. Die Vorstellung, dass das äussere Erscheinungsbild eines Menschen seine inneren Qualitäten widerspiegelt, wird oft in Märchen unterstrichen, in denen Prinzessinnen als schön, gut und freundlich dargestellt werden, während böse Stiefmütter und Hexen meist als hässlich, böse und grausam beschrieben werden.

In den folgenden Kapiteln werden die Juden angegriffen, indem ein verzerrtes Bild des Talmuds gezeichnet und der moralische Kern der jüdischen Gesellschaft angegriffen wird. Es gibt zum Beispiel ein Kapitel, in dem ein jüdischer Junge, Sally, den Talmud für seine Bar Mitzwa lernt. Sein Rabbi fragt ihn nach Sprichwörtern, die er von „Nichtjuden“ gehört hat, und Sally nennt ihm zum Beispiel das Sprichwort „Arbeit schändet nicht“. Und was bedeutet dieses Sprichwort? fragt der Rabbi, „dass es keine Schande ist, wenn man arbeiten muss“. Glauben wir Juden das auch? fragt der Rabbi weiter, „Nein, das glauben wir nicht! In unserem Gesetzbuch Talmud steht geschrieben: ‚Die Arbeit ist viel schändlich und wenig zuträglich […] Die Nichtjuden sind erschaffen den Juden zu dienen. Sie müssen pflügen, säen, jäten, graben mähen, binden, sieben, mahlen. Die Juden sind erschaffen, das alles vorbereitet zu finden“. Es soll also damit gezeigt werden, dass der Talmud die Versklavung der Deutschen befürworte.

Gemäss Der Giftpilz befürwortet der jüdische Moralkodex auch eine Liste von Vergehen: von Schmuggel, Diebstahl, Betrug bis hin zum Meineid wird alles als erlaubt dargestellt, solange das Ziel des Vergehens nicht selbst Jude ist. Immer wieder wird der moralisch aufrechte Deutsche dem dekadenten Juden gegenübergestellt. Dem Juden gehe es nur darum, auf Kosten der Deutschen immer mehr Geld zu machen. Er würde alles tun, nur nicht arbeiten, um mehr Geld zu verdienen, und er würde seine deutschen Nachbarn betrügen und ihr hart verdientes Geld stehlen.

Das letzte Kapitel verherrlicht die Hitlerjugend und ermuntert die Jugendlichen, dieser Organisation beizutreten. Es endet mit einer kurzen Erinnerung an die Worte Julius Streichers: „Ohne Lösung der Judenfrage keine Erlösung der Menschheit!“ Worte, die in Streichers „Der Stürmer“ häufig verwendet wurden und mehr als nur eine Anspielung auf die bald darauf folgende sogenannte „Endlösung der Judenfrage“ sind.

Eine Anzeige für das Buch „Der Giftpilz“ in „Der Stürmer“ 1938

Diese beiden Bücher, so schwer sie auch zu lesen und zu verdauen sind, sind wichtige Zeitdokumente, die die grausame Propaganda der Nationalsozialisten zeigen, die selbst vor kleinen Kindern nicht zurückschreckte. Beide Bücher waren sehr beliebt und wurden von Tausenden von Schülern in Deutschland vor und während der schrecklichen Zeit des Holocaust gelesen. Die Entmenschlichung des jüdischen Volkes, seine Darstellung als böses Wesen, das sich Deutschland unter den Nagel reissen wollte, war eine organisierte, durchdachte und perfide Einschüchterungstaktik, die auf die empfänglichen und beeinflussbaren Gemüter der Jugendlichen am besten wirkte.
Diese Kinderbücher zeigen auch, dass Rassenvorurteile weder angeboren noch instinktiv sind. Sie werden vielmehr sorgfältig eingeflösst, gelehrt und durch diese ausgearbeiteten pädagogischen Mittel aufgebaut.

Oded Fluss. Zürich, 23.3.2023

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(Nicht so) einfache Geschichten

Edward Horowitz – Sippurim Kallim. Illustriert von Alter David Bernstein. Hebrew Publishing Company. New York, 1942. H 684

In unserer Bibliothek befinden sich zahlreiche Bücher, die dem Erlernen der hebräischen Sprache dienen. Einige dieser Bücher konzentrieren sich auf das hebräische Alphabet, andere auf die Grammatik, wieder andere auf den Wortschatz und eine vierte Gruppe richtet sich an Personen, die bereits auf einem elementaren Niveau lesen können. Diese letzte Gruppe von Büchern richtet sich normalerweise an Kinder und enthält in der Regel bekannte Geschichten in einfacher Sprache, anhand derer die Anfängerin ihre Sprachkenntnisse üben kann.

Edward Horowitz (1904-1986)


Eines dieser Bücher „Sippurim Kallim“ wurde 1942 in New York veröffentlicht und erweist sich als ein spannendes historisches Dokument. Das Buch, dessen Titel wörtlich übersetzt „einfache Geschichten“ bedeutet und für Lehrer/innen der hebräischen Sprache gedacht war, wird von seinem Autor Edward Horowitz beschrieben als:

Eine Sammlung hebräischer Geschichten, die innerhalb der Grenzen eines Wortschatzes von ein paar hundert Wörtern geschrieben wurden.

Das Besondere an diesen Geschichten ist jedoch, dass:

…sie grösstenteils auf wenig bekannten historischen Ereignissen beruhen. Einige wurden durch Artikel in amerikanischen und palästinensischen Zeitungen angeregt; andere wurden von Flüchtlingen erzählt.

Das Buch wurde zwischen 1940 und 1942, in der kritischen Zeit des Holocaust, geschrieben und bringt die ersten Zeugnisse dieser Jahre in einem Buch in einfacher Sprache zusammen. Geschichten von Kindern, die ihren Eltern entrissen wurden, von Familien, die ihr gesamtes Hab und Gut verloren haben, und natürlich von den ständigen Grausamkeiten und Misshandlungen, denen die Juden auf den Strassen Europas ausgesetzt waren. In fast jeder dieser Geschichten wird Hitler erwähnt, und viele beginnen mit „in den Jahren vor Hitler“ oder „viele Jahre vor Hitler“.

„Die Kinder versammelten sich im Zimmer der Brüder“ aus der Geschichte “ Sklaven waren wir des Pharaos in Ägypten“.

In der Geschichte „Sklaven waren wir des Pharaos in Ägypten“ sind drei Kinder gezwungen, das Pessachfest ohne ihre Eltern zu feiern, die in Konzentrationslagern inhaftiert sind. Die kleine Schwester stellt die vier Pessach-Kuschiot (Fragen) und fragt weiter, wo ihre Mutter und ihr Vater sind. Der ältere Bruder antwortet ihr, dass “die Juden vor vielen Jahren Sklaven des Pharao in Ägypten waren und jetzt Sklaven von Hitler in Deutschland sind, aber so wie die Juden sich von Pharao befreit haben, werden sie sich auch von Hitler befreien”.

„Sie verliessen das Haus und gingen in den grossen Wald“ aus der Geschichte „Das Visum“.


In „Das Visum“ erzählt eine Frau von ihrem Cousin Sigmund, der eines Tages an ihre Tür klopfte und ihr sagte, dass ein Nazi-Offizier nach ihm suchte. Sigmund war ein sehr erfolgreicher Kaufmann in Hamburg, und dieser Nazi hatte Waren von ihm bekommen und nie bezahlt, und nun jage er ihn, um ihn zu töten. Die Frau besorgte ihrem Cousin ein gefälschtes Visum für Belgien, und die Geschichte fährt fort, Sigmunds schreckliche Reise durch den Schwarzwald zu beschreiben, um sich in Sicherheit zu bringen. Die Geschichte endet damit, dass die Frau die Regierung der Vereinigten Staaten anfleht, ihm Schutz zu gewähren, bevor die Nazis ihn gefangen nehmen. Sigmund Klein wird nun in der schwarzen Liste der Nazis geführt.

Erste Seite der Geschichte „Die Bücherverbrennung“.

Eine sehr moralische Geschichte mit dem Titel „Die Bücherverbrennung“ beschreibt eine Gruppe jüdischer Kinder in Jerusalem, die von ihren Lehrern, die „immer noch die deutsche Sprache verehren“, gezwungen werden, in der Schule nur Deutsch zu lesen und zu sprechen. Die Kinder beschliessen, sich dagegen aufzulehnen, und verbrennen alle deutschen Bücher in einem grossen Feuer. Diese Geschichte, die uns zweifellos an die Bücherverbrennung von 1933 in Deutschland erinnert, bei der Millionen von jüdischen Büchern verbrannt wurden. Der Protagonist, Ehud ben Yehuda (der Sohn vom Erneuer der hebräischen Sprache Eliezer ben Yehuda ), sagt uns am Ende, es sei zwar richtig, für unsere Sprache zu kämpfen, es sei aber immer falsch, Bücher zu verbrennen.

„Die Kühe kamen nach Givat Brenner“ aus der Geschichte „Vierzig Kühe“.


Viele der Geschichten haben ein glückliches Ende, was in der Regel bedeutet, dass die Person Erez Israel, die Vereinigten Staaten oder England erreicht. In der Geschichte „Vierzig Kühe“ geht es um eine reiche, deutsche Jüdin, die den Chaluzim in Givat Brenner 40 Kühe spendete. 20 Jahre später wird sie aus Deutschland vertrieben und ihres gesamten Besitzes beraubt. Sie kommt nach Israel und erfährt, dass man sich wegen ihrer grosszügigen Spende noch an sie erinnert, und sie erhält ein Haus in Givat Brenner.

„Das habe ich nicht getan!“ aus der Geschichte „Kapitän Alfred Dreyfus“.

Das Buch berichtet über die ersten Erfahrungen der Flüchtlinge, gibt aber auch Einblicke in die seelische Verfassung der Menschen, die damals Hebräisch lernen wollten. Was waren ihre Ängste, ihre Hoffnungen, was begleitete sie in ihrem Alltag? Die Bilder – wunderbar illustriert vom „Jerusalemer Maler“ Alter David Bernstein – vermögen auch dies einzufangen.
Das Buch trägt den Titel „Sippurim Kallim„, „einfache Geschichten“, was natürlich die Einfachheit der Sprache des Buches beschreiben soll. Aber wenn man den Inhalt des Buches liest, bekommt der Name eine etwas ironische Bedeutung.

Oded Fluss, 16.3.2023

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