Buchstaben steigen in die Luft

Als die Flammen seinen Körper schon umgaben, hatte er noch die Kraft, seinen Jüngern zuzurufen: „Das Pergament brennt nur, die Buchstaben steigen in die Luft.“ (Avoda Sara 18a)

Die talmudische Geschichte vom Märtyrertod des Rabbi Chanina ben Teradjon, der von den Römern in eine Torarolle gewickelt auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, mag radikal sein, aber sie kann uns viel lehren: Erstens zeigt sie den direkten Zusammenhang, den die Geschichte immer wieder zwischen der Verbrennung von Büchern und der von Menschen hergestellt hat. Zweitens veranschaulicht sie uns die Widerstandskraft eines Buches, das wie die Idee, die es trägt, nicht einfach ausgelöscht werden kann.

Lasar Segall – Rabbi ben Teradjon

Bücherverbrennungen sind so alt wie das Buch selbst. Die ‚Mächtigen‘ wollen immer an der Macht bleiben, und Bücher gelten seit jeher als gefährlich für konservative und reaktionäre Kräfte. Bücher wurden gefürchtet von denen, die sich vor der Wahrheit fürchteten, und sie waren eine Bedrohung für diejenigen, die auf Oberflächlichkeit bauen wollten, ohne den Abgrund darunter erkennen zu lassen. Deshalb wurden sie verbrannt.  Das berühmte Zitat von Heinrich Heine:

Dies war ein Vorspiel nur, dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen

ist jedoch keine Prophezeiung, wie viele meinen. Menschen sind auch schon immer verbrannt worden. Sowohl grosse und mächtige Reiche als auch kleine und arme Gemeinschaften wurden in Schutt und Asche gelegt. Diejenigen, an die wir uns heute noch erinnern, verdanken ihre Erinnerung unverbrannten Büchern.

Fotomontage von John Heartfield zur Bücherverbrennung am 10. Mai. AIZ. 10.5.1933

Neben neuen Methoden, Bücher und Menschen zu verbrennen, hat uns die moderne Technologie auch neue Werkzeuge der Erinnerung an die Hand gegeben. Wir sind nicht mehr nur auf Bücher angewiesen, um die Vergangenheit festzuhalten, sondern auch auf visuelle und auditive Mittel wie Fotos und Filme.  Eine zufällige Begegnung mit einem historischen Bild zeigt, wie ein Foto und ein Buch zusammen eine ‚poetische-Erinnerung‘ schaffen können.

Das Foto zeigt eine Bücherverbrennung. Die genaue Zeit und der Ort sind nicht bekannt, vermutet wird Salzburg 1942. Auffallend ist das jugendliche Alter der Beteiligten und das lächelnde Gesicht des Jungen links. Bei näherer Betrachtung fällt aber noch etwas anderes auf. Der Junge am rechten Bildrand hält ein Buch in der Hand. Obwohl es relativ viele Bilder von Bücherverbrennungen gibt, kann man auf diesen Bildern normalerweise nicht die Bücher erkennen, die verbrannt wurden. Aber hier ist der Einband des Buches ziemlich einzigartig, und wenn man ihn kennt, kann man ihn erkennen.

Zufälligerweise befindet sich dieses Buch (nicht genau dieses, aber ein identisches) im Altbestand unserer Bibliothek. Es wurde 1899 in Stuttgart gedruckt und trägt den gleichen auffälligen Jugendstil-Einband mit einem Harfe spielenden Engel. Es handelt sich um eine Sammlung von Werken des bereits erwähnten Heinrich Heine, von dem das berühmte Zitat über die Bücherverbrennung stammt. Heine wurde zu Lebzeiten von seinem Vaterland zensiert und verboten. Dasselbe Vaterland würde fast hundert Jahre später seine Bücher erneut zensieren und verbieten und sie schliesslich ins Feuer werfen.

Moritz Oppenheim – Bildnis Heinrich Heine

Und man stellt sich vor, wie dieses Buch ins Feuer geworfen wurde, die Blätter verbrannten und die Buchstaben in die Luft stiegen. Die Buchstaben von Heines Gedicht Edom:

Ein Jahrtausend schon und länger,
Dulden wir uns brüderlich,
Du, du duldest, daß ich atme,
Daß du rasest, dulde Ich.

Und in die Luft stiegen auch die wunderbaren Buchstaben, die seine Worte über das heiligste Buch der Juden bauten. Wie es den Brand des Tempels überlebte und zur Heimat der Juden wurde. Wie die Deutschen von dieser Rettung vor dem ersten Brand profitierten:

…denn die Juden, die dasselbe aus dem großen Brande des zweiten Tempels gerettet, und es im Exile gleichsam wie ein portatives Vaterland mit sich herumschleppten, das ganze Mittelalter hindurch, sie hielten diesen Schatz sorgsam verborgen in ihrem Ghetto, wo die deutschen Gelehrten, Vorgänger und Beginner der Reformation, hinschlichen um Hebräisch zu lernen, um den Schlüssel zu der Truhe zu gewinnen, welche den Schatz barg.

Holzschnitt von Heinz Kiwitz

Es ist falsch, Bücherverbrennungen als eine Angelegenheit der Vergangenheit zu betrachten. Auch heute noch werden Bücher verbrannt, auch wenn sie nicht physisch ins Feuer geworfen werden. Immer wieder hören wir, dass Bücher, die unbequeme historische Wahrheiten enthalten oder das Narrativ der Machthaber in Frage stellen, verboten und aus öffentlichen Bibliotheken und Schulen entfernt werden. Dies geschieht nicht nur in Diktaturen, sondern auch in Ländern, die wir für demokratisch halten. Diese Zensur ist meist vergeblich, und wie im Falle Heines, dessen Bücher zeitlebens und auch danach beschlagnahmt und verboten waren, werden sie weiterhin gelesen.
Die Buchstaben steigen in die Luft und erreichen schliesslich ihre Leserschaft.

Oded Fluss. Zürich. 10.5.2023.