Die Sinai-Offenbarung in der jüdischen Kunst
Am dritten Tag, im Morgengrauen, begann es zu donnern und zu blitzen. Schwere Wolken lagen über dem Berg und gewaltiger Hörnerschall erklang. Das ganze Volk im Lager begann zu zittern.
Mose führte es aus dem Lager hinaus Gott entgegen. Unten am Berg blieben sie stehen. Der ganze Sinai war in Rauch gehüllt, denn Gott war im Feuer auf ihn herabgestiegen. Der Rauch stieg vom Berg auf wie Rauch aus einem Schmelzofen. Der ganze Berg bebte gewaltig und der Hörnerschall wurde immer lauter. Mose redete und Gott antwortete im Donner.

Die Offenbarung Gottes am Berg Sinai und die Übergabe der Zehn Gebote, die wir an Schawuot (Das Wochenfest) feiern, ist der entscheidende Moment, in dem das Volk Israel zur jüdischen Nation wurde. Diese dramatische Szene, begleitet von Feuer, starkem Rauch, Blitzen und Schofarblasen, ist bis heute eine der eindrucksvollsten Szenen im kollektiven Gedächtnis der Menschheit. Wie viele zentrale Momente in der biblischen Geschichte des jüdischen Volkes ist auch diese Szene nur spärlich beschrieben, was sie noch geheimnisvoller macht. Aus diesem Grund haben sich viele Künstler/innen dazu inspirieren lassen, dieses einzigartige Ereignis selbst zu interpretieren. Viele dieser Interpretationen, wie die von Rembrandt oben, sind sehr bekannt, aber wir haben aus einigen Büchern unserer Bibliothek einige weniger bekannte ausgewählt.

Wir beginnen mit dem Maler und Grafiker Joseph Budko (1888-1940), einem der bedeutendsten modernen jüdischen Künstler. Als Lieblingsschüler von Hermann Struck erlangte Budko Weltruhm und wurde der erste Direktor der Neuen Bezal’el-Schule für Handwerk und für Kunst in Jerusalem. Diese Miniaturradierung wurde 1920 in dem Buch Das Jahr des Juden: zwölf Gedichte zu zwölf Radierungen veröffentlicht, das eine einzigartige Zusammenarbeit zwischen Budko und dem grossen Dichter und Künstler Arno Nadel (1878-1943) darstellt.

Jede Radierung sollte einem besonderen Ereignis des jüdischen Jahres folgen und von einem Gedicht Nadels begleitet werden. Diese sehr expressionistische Radierung zeigt keine Menschen und konzentriert sich ausschliesslich auf das visuelle Spektakel auf dem Berg Sinai. Die Zehn Gebote sind oben in Form von zwei Tafeln mit den ersten zehn Buchstaben des hebräischen Alphabets von א [Alef] bis י [Jod] dargestellt.

Eine ganz andere Interpretation findet sich bei Marc Chagall (1887-1985). In diesem sehr farbenfrohen Bild konzentriert sich Chagall vor allem auf die Empfänger der Gebote. In der Mitte stellt er Moses fast engelsgleich dar, wobei Chagall, wie in vielen seiner Mosesdarstellungen, Lichtstrahlen aus seinem Kopf zu entspringen scheinen. Auch das Volk Israel ist unter dem Berg zu sehen, besonders auffällig ist die blaue Frau, aber auch Tiere wie der Vogel und das Pferd sind dargestellt. Gott erscheint in männlicher Gestalt in Form von zwei Händen, die Moses die Gebote geben.

Eine weitere farbenprächtige Darstellung findet sich in dem Buch “Moses” von Uriel Birnbaum (1894-1956). Der begnadete Autodidakt hat das ganze Buch dem Bild und der Person des Moses gewidmet. Wir finden hier die Szene auf dem Berg Sinai, in der Moses allein und winzig klein vor dem Allmächtigen erscheint, der wiederum in Form von zwei riesigen Tafeln dargestellt ist. Diese scheinen sich auf die kleinen Tafeln in Moses’ Händen zu projizieren. Unter dem Bild steht in hebräischer Sprache der Vers aus Exodus 31,18:
Nachdem der Herr zu Mose auf dem Berg Sinai alles gesagt hatte, übergab er ihm die beiden Tafeln der Bundesurkunde, steinerne Tafeln, auf die der Finger Gottes geschrieben hatte

Eine weitere einzigartige Moses-Darstellung stammt von Lesser Ury (1861-1931). Dieser etwas in Vergessenheit geratene Impressionist war vor allem für seine nächtlichen Strassen- und Caféhausbilder bekannt. Von ihm stammen aber auch einige sehr schöne Bibeldarstellungen. Der Künstler, den Buber den “Dichter unseres Zornes und unserer Liebe” nannte, hat uns hier das Bild des einsamen, in sich gekehrten Moses beschert, der den Berg besteigen soll. Der Winkel, in dem das Bild gemalt ist, lässt die Proportionen von Moses und dem Berg gleich gross erscheinen. Interessant ist auch, dass Moses, der in vielen Darstellungen dieser Szene sein Kopf hebt, hier in Selbstbetrachtung den Kopf senkt.

Wir schliessen mit dieser schönen Illustration aus der Haggada von Sarejevo. Diese schöne und historisch bedeutsame Haggada, von der man weiss, dass sie die älteste noch existierende Haggada ist (geschrieben um 1350), stellt auch die Übergabe der Zehn Gebote auf dem Berg Sinai dar. Die Pessach-Haggadot sind dafür bekannt, dass sie Moses überhaupt nicht erwähnen, aber hier wird Moses sehr wohl dargestellt, und nicht nur das, er wird so dargestellt, als wäre er der Berg selbst. Umgeben von Rauch und von seinem Volk, das zu ihm aufschaut, hält er stolz die Tafeln in seinen Händen. Auf Hebräisch lesen wir über dem Bild “und Moses stieg zu Gott hinauf” und “Matan Torah” (die Übergabe der Tora). Unter dem Bild finden wir in Hebräisch das Zitat aus Exodus 19,16 “Das ganze Volk im Lager begann zu zittern” und aus Exodus 24,7 “Was Gott gesagt hat, das wollen wir tun; wir wollen gehorchen”.
Mehr zum Thema Schauwot finden Sie in unserem Beitrag über das Buch Ruth: https://breslauersammlung.com/2022/06/02/das-buch-ruth-und-schawuot/
Oded Fluss 22.5.2023