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Der jüdische Mai

Efraim Moses Lilien – Der jüdische Mai. Lieder des Ghetto. S. Calvary Verlag, Berlin, 1902.

Selten passen ein Bild und ein Gedicht so gut zusammen.
Der jüdische Mai, ein jiddisches Gedicht von Morris Rosenfeld (1862-1923), und die gleichnamige Zeichnung des grossen jüdischen Künstlers Efraim Moses Lilien (1874-1925) sind so harmonisch, dass sie aus derselben Quelle zu stammen scheinen. Sowohl in der Zeichnung als auch im Gedicht wird der Mai als Monat des Frühlings, der Erneuerung, der Wiedergeburt beschrieben und dargestellt. Die gesamte Natur ist von der Ankunft des Mais betroffen, nur der Jude scheint ausserhalb der Natur zu stehen, gefangen in seiner Religion, seiner alten Tradition und seinem Leid. 

Efraim Moses Lilien

Der neue zionistische Jude hingegen wünscht sich seinen eigenen Mai, seinen eigenen Frühling. Er bleibt seiner Religion und seiner alten Tradition verbunden, aber er betrachtet das Heilige Land aus der Ferne, wie Moses auf dem Berg Sinai, und sehnt sich mit ganzem Herzen danach. Die Beschreibung dieses Bildes durch Heinrich Löwe (1869-1951) in der zionistischen Zeitung “Die Welt” im Jahre 1904 ist sehr treffend:

Von Dornengestrüpp umfangen sitzt der Jude auf dem Lilienschen Bilde, das der Künstler zu Morris Rosenfelds „Jüdischem Mai” geschaffen hat. Schlangen züngeln um ihn empor und zischen ihm ins Antlitz. Er aber sieht nichts davon und merkt nicht auf das Otterngezücht. Denn in der Ferne gewahrt er die hohe Burg Zion, umflossen vom goldenen Strahl der lebenspendenden Maiensonne. Über Palmen und gewundene Blumenpfade schweift sein Blick zu einem glücklichen Jerusalem inmitten grünender und blühender Gärten, in einem blühenden und reichen Judenlande.
Der jüdische Mai, der Tag, an dem die Frühlings sonne nicht bloß für die Menschheit, nein, erst einmal wieder für das zwei Jahrtausende lang geknechtete Volk aufgehen soll, muß kommen. Zwei Jahrtausende bitteren Leides haben wir um ihn gebangt, haben wir uns nach ihm gesehnt und haben wir ihm entgegengearbeitet.
Der jüdische Mai muß kommen. Die Winternacht hielt unsern Volkskörper schon viel zu lange in ihrer eisigen Umklammerung, als daß wir uns jetzt nicht noch viel mehr, noch viel glühender nach der Maiensonne sehnen sollten.

Der Mai ist hier nicht nur der Beginn einer neuen Jahreszeit, sondern auch ein Symbol für die Wiedergeburt des Juden als freier Mensch. Pessach, das mehr als alles andere für die Befreiung aus der Sklaverei und für die Sehnsucht nach dem Heiligen Land steht, wird hier zionistisch gedeutet und der darauffolgende Mai als Aufruf zum Handeln. Das Gedicht galt seinerzeit als Nationalhymne und wurde auf dem Ersten Zionistischen Kongress in der wunderbaren Übersetzung von Berthold Feiwel vorgetragen.

Morris Rosenfeld

Rosenfeld, der mehr als alles andere eine starke sozialistische Überzeugung hatte und als “Kronendichter” der jiddischen Arbeiterbewegung bekannt war, konzentriert sich in diesem Gedicht zwar auf den Juden, sieht in ihm aber ein universelles Beispiel für die Versklavten. Durch die Befreiung des Juden, des Schwächsten und Geknechteten, strebt er die Befreiung der gesamten Menschheit an. Es ist kein Zufall, dass Rosenfeld sich für den Monat Mai entschieden hat, der als der Monat der Rechte der Arbeitnehmer bekannt ist.

Morris Rosenfeld – Der jüdische Mai (Übersetzt von Berthold Feiwel)

Wieder ist der Mai gekommen,
Kam mit seiner Zauberpracht —
Alle Gräser, alle Blumen
Sind nun wieder aufgewacht.
Wieder blüht es auf den Feldern,
Wieder grünt es in den Wäldern,
Wieder glänzt es überall,
Wieder singt die Nachtigall.
 
Wieder malt der Maler Frühling.
Wie er seinen Pinsel führt,
Werden Berge, werden Thäler
Neu mit jungem Grün geziert.
Und die Sonne strahlt hernieder,
Küsst die Erde, küsst sie wieder,
Und mit süssen Schmeichelei’n
Lädt sie zum Geniessen ein.
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Wie ‘s da gleich in allen Herzen
Frühling werden will!
Wunderschöne Phantasien
Ziehen durch die Seelen still.
Gold ‘ne Träume schweben
Und sie weben
Neue Himmel,
Und sie wecken
Neues lieben,
Und mit gabenfrohen Händen
Tausendfache Lust zu spenden,
kommt das Glück…
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Aber seht, dort wandelt einer:
Mitten durch die Maienlust
Geht er still, gesenkten Hauptes,
Und er seufzt aus tiefster Brust.
Einsam geht er, schmerzverloren,
Leidensmatt und lebensmüd —
All sein Mai und all sein Frühling
Sind schon längst, schon längst verblüht…
 
Sagt mir, kennt Ihr jenen Kranken?
Frühling ist ‘s, es blüht und sprüht,
Doch die traurigsten Gedanken
Stürmen wild durch sein Gemüt.
Wer das ist, Ihr wisst es gut:
Unser Alter, unser Jud’…
Ihn umschwebt
Kein holder Zauber,

Es erbebt
Sein Herz vor Qual,
Und es glänzt kein Hoffnungsstrahl
Aus dem Blick.
Schwere, nie vernarbte Wunden
Sind die Zeugen böser Stunden.
Wohin die Gedanken reichen,
Tod und Sterben, Leichen. Leichen — —,
Alte Jugend, totes Glück…
 
Zweig und Dorn und Blatt und Blühte
Treiben mit ihm bösen Spass,
Jede Blume blickt verächtlich,
Jeder Vogel ruft voll Hass:
Frühlingsluft und Frühlingsfreude —
Doch für ihn ist nichts dabei!
Fremde Vögel, fremde Götter,
Fremde Welt — ein fremder Mai…
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Lacht nicht, Blumen, nur nicht spotten!
Die ihr glüht vom Frühlingskuss,
Glaubt, viel schönere getreten
Hat einmal des Juden Fuss…
Felder goldner Pomeranzen
Glänzten einst in seinem Land
Seine wunderschönen Pflanzen
Pflanzte Gott mit eigner Hand.

Fragt von Libanon die Zedern,
Sarons Myrten fragt im Tal,
Ob sie ihn nicht noch erkennen,
Der ihr Herrscher war einmal.
Fragt den schönen heil’gen Ölberg
Fragt den Karmel jeden Baum,
Fragt all die tote Schönheit
Nach dem alten schönen Traum…

Würzige Paradieseslüfte
Wehten einst durchs heilige Land,
Und in seinem stolzen Tempel
Hat sein Gott sich ihm bekannt.
Tausend selige Engel spielten
In dem göttlichen Gezelt,
Und er fühlte tausend Freunden,
Freunden einer andern Welt.

Dort beim schönsten Saitenspiele
Sang der Jude wunderviele,
Sang er wunderreiche Lieder,
Wie sie nie erklingen wieder
In so reinem, hellem Sange,
Mit so zaubersüssem Klange — — —
Ach, an stumme Weidenbäume
Hängte Juda seine Träume

Längst vorbei! — Doch sieh, welch Wunder!
Neue Träume ziehn herbei:
Hörst du, Jude? “Glück und Frieden!”
Ruft dir zu ein neuer Mai.
Wein’ nicht! Bist noch nicht verloren,
Wegmüder Wandrer du,
Neue Jahre, gute Jahre,
Winken dir, mein Jude, zu!
Hörst du, wie’s durch Wolken zieht?
Himmlisch-schöne Melodien,
Hörst du es, das neue Lied?

Wieder wird dein Esrog grünen,
Deine Myrten werden blühn,
Wieder wird dein Land erwachen,
Und dein Gott, er bringt dich hin.
Wieder klingen Hirtenlieder,
Und dein Weinberg dehnt sich weit,
Leben wirst du, leben wieder,
Fort in alle Ewigkeit.
Nach den bösen Wandertagen
Wird das Leben dir zur Luft,
Unterm stillen Berg Moria
Atmet frei die Heldenbrust…
Und beschlossen ist das Elend
Und beendet Leid und Qual,
Wirst in deinem Heim verbleiben,
Frei und friedlich wie einmal
Auf, betritt nur kühn die Pfade
In dein altes Heimatland!
Manch ein Feuerfunke glüht noch
In der eingefall’nen Wand.

Oded Fluss. Zürich, 1.5.2023