Das Lebensgebet – der letzte Rabbiner von Jurbarkas

Eine kleine Widmung in einem Buch, adressiert an den berühmten Zürcher Rabbiner Martin Littmann (1864-1945), hilft uns, die kleine jüdische Gemeinde von Jurbarkas (Georgenburg), einst Teil des Gouvernements Kaunas (Kowno), heute in Litauen gelegen, für einen kurzen Moment wieder aufleben zu lassen.

Chaim Reuven Rubinstein – Sefer Tefilat Chaim. Wilna, 1913.

Der stolze Autor des Buches und Verfasser der Widmung ist Rabbiner Chaim-Reuven Rubinstein (1888-1941). Als langjähriger Dayan (Richter) der kleinen Gemeinde war Rabbiner Rubinstein für sein freundliches und angenehmes Wesen bekannt. Sein liebster Besitz war seine reiche jüdische Bibliothek, der er sich Tag und Nacht widmete. Die Bücher, die er selbst geschrieben hatte, gab er auf eigene Kosten heraus, übersetzte sie zum Nutzen der deutschen Juden ins Deutsche und schickte sie oft als Geschenke an Freunde und Kollegen.

Sehr geehrter Herrn Rabbiner Dr. Littmann in Zürich
[Hiermit sende ich Ihnen mein kleines, aber feines Buch zu Ihrer grossen Ehre. Möge Gott Ihnen Leben und Frieden schenken, damit Sie in Wohlstand lernen und an Wissen zunehmen können.
Ich segne Sie, schätze Sie und wünsche Ihnen alles Gute. Rabbiner Chaim Reuven Rubinstein.]
Ich bin vom Ruhmvollen Herrn Lehrer J. Fröhlich empfohlen.

Als 1940 der berühmte Rabbiner von Jurbarkas, Avraham Diamant, starb, wurde Rabbiner Rubinstein berufen, in seine grossen Fussstapfen zu treten. Tragischerweise diente er nur ein Jahr als Rabbiner seiner geliebten Gemeinde und wurde als der letzte Rabbiner von Jurbarkas bekannt.

Rabbiner Avraham Diamant

Der Holocaust in Litauen begann 1940 mit dem Einmarsch der Nazis. Viele der kleinen jüdischen Gemeinden wurden sofort von den Nazis und ihren Helfern vor Ort zerstört. Als die Nazis in Jurbarkas einmarschierten, war das Schicksal des Rabbiners Rubinstein so bitter wie das seiner ganzen Gemeinde. Wie im Sefer HaZikaron LeKehilath Yurburg-Lita (Gedenkbuch der Jüdischen Gemeinde Jurbarkas) zu lesen ist, wurde er im Sommer 1941 mit einem Teil seiner Gemeinde von den deutschen Nazi-Bestien auf den örtlichen Friedhof gebracht, wo er heftig gegen die Untaten der Nazis und ihrer litauischen Helfershelfer protestierte. Sie gingen weiter, um ihn zu foltern und zwangen ihn, seine reiche und geliebte Bibliothek zu einem grossen Haufen heiliger Bücher zu bringen, die in Brand gesteckt wurden, während die Juden – Männer und Frauen – aufgefordert wurden, zu singen und zu tanzen. Die Nazis und ihre lokalen Komplizen demütigten und folterten den Rabbiner zu Tode.

Die alte hölzerne Synagoge von Jurbarkas (erbaut 1790), die ebenfalls von den Nazis niedergebrannt wurde.

Das Buch, das Rabbiner Rubinstein seinem Freund Rabbiner Littmann in Zürich schickte und das in unsere Bibliothek kam, heisst Sefer Tefilat Chaim. Es kann sowohl als “Buch des Gebets von Chaim” als auch als “Buch des Lebensgebets” (Chaim ist das hebräische Wort für Leben) übersetzt werden. Wir fühlen uns geehrt und privilegiert, eines der Bücher von Rabbiner Rubinstein in unserer Bibliothek zu haben, sowohl als Zeugnis seines Lebens als auch seiner Liebe zu Büchern, die die Nazis versuchten auszulöschen.

Die Privatadresse von Rabbi Chaim Rubinstein auf der Rückseite des Buches.

Oded Fluss. Zürich, 20.4.2023.

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Ein Kommentar zu „Das Lebensgebet – der letzte Rabbiner von Jurbarkas

  1. Danke für den interessanten aber auch traurigen Beitrag! Unglaublich, dass solche Geschichten die Shoah überlebt haben…

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