Die Andacht zweier Frauen

“בַּיִת וָהוֹן, נַחֲלַת אָבוֹת; וּמֵיְהוָה, אִשָּׁה מַשְׂכָּלֶת”
משלי יט, יד
“Haus und Vermögen sind ein Erbteil von den Vätern, aber vom Ewigen kommt ein verständiges Weib.”
Buch der Sprichwörter 19.14
Oberer Teil des Gemäldes von Maurycy Gottlieb “Juden in der Synagoge an Jom Kippur, 1878.

Unterschiedlicher hätten die beiden Frauen auf den ersten Blick nicht sein können. Die eine, 1819 in Böhmen geboren, stammte aus einer mährischen Rabbinerfamilie und war die Frau des berühmten Rabbiners Abraham Neuda. Ihre literarische Tätigkeit, die erst nach dem Tod ihres Mannes einsetzte, widmete sie ausschliesslich religiösen Themen. Als erste Frau, die jüdische Gebete für jüdische Frauen in deutscher Sprache verfasste, wurde sie weltberühmt und ihr Buch wird ins Jiddische, Hebräische und Englische übersetzt. Sie starb im Alter von 75 Jahren, umgeben von ihren Kindern und Enkelkindern.
Die andere Frau wurde 1890 in Frankfurt am Main in kleinbürgerlichen Verhältnissen geboren. Sie studierte Philosophie und Geschichte, promovierte mit einer Arbeit über den Einfluss Friedrichs des Grossen auf Voltaire und wurde Dichterin, Schriftstellerin, Pädagogin, Fechterin – die nicht zögerte, ihr Schwert zu nehmen und für die Rechte der Frauen zu kämpfen – und eine bekannte Sportjournalistin. Sie war nie verheiratet und hatte keine Kinder, war aber eine der Hauptorganisatorinnen der sogenannten Kindertransporte, mit denen während der Nazizeit tausende jüdische Kinder ins Ausland gebracht und gerettet wurden. Mit 52 Jahren wurde sie zusammen mit ihrer Schwester Lydia in Sobibor ermordet.

Martha Wertheimer in der Redaktion der Offenbacher Zeitung ca. 1930. © Jüdisches Museum Frankfurt


Und doch verbindet diese beiden Frauen, Fanny Neuda (1819-1894) und Martha Wertheimer (1890-1942), ein unzerbrechliches Band in Form eines kleinen Gebetbuches. Stunden der Andacht, das erste in deutscher Sprache von einer Frau für Frauen geschriebene jüdische Gebetbuch, wurde 1855 von Fanny Neuda (geb. Schmiedl) verfasst und zu einem Bestseller. Es wandte sich nicht nur an die Frauen in ihrer öffentlichen Rolle während der Feiertage und in der von Männern kontrollierten Synagoge, sondern auch an sie in ihren persönlichen Alltagserfahrungen, und zwar aus der Sicht einer Frau. Gebete über Schwangerschaft, über Witwenschaft, über eine Mutter, die ihr Kind zum Militärdienst schickt und eines für eine Mutter, die am Grab ihres Sohnes steht, aber auch für die damalige Zeit verschwiegene Themen wie Stiefmutterschaft, kinderlose Ehe, und sogar das Gebet für die “Unglückliche Ehegattin” sind darin enthalten. Das Buch erlebte zahlreiche Auflagen und wurde über Generationen von Mutter zu Tochter weitergegeben.

Fanny Neuda – Stunden der Andacht. Gebetbuch für Mädchen und junge Frauen israelitischen Glaubens. Verlag von Wilhelm Koebner. Breslau, 1890. D1805.

Es ist also kein Zufall, dass dieses Buch auch in die Hände von Martha Wertheimer gefallen ist. Diese beeindruckende und leider fast vergessene Frau hatte sich neben ihren vielen anderen “weltlichen” Tätigkeiten immer auch mit jüdischen Fragen beschäftigt und stand in engem Kontakt mit wichtigen Denkern wie Franz Rosenzweig und dem liberalen Rabbiner Max Dienemann. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 verlor sie ihre Anstellung bei der Offenbacher Zeitung und trat in die Redaktion des Israelitischen Familienblattes ein, wo sie sich zunehmend mit jüdischen Fragen, vor allem mit denen in Bezug auf Frauen, beschäftigte. Das Gebetbuch von Fanny Neuda war einer ihrer grössten Einflüsse in dieser Zeit:

In den Händen unserer Grossmütter und Mütter sind die “Stunden der Andacht” von Fanny Neuda immer dann gewesen, wenn sie sich neben dem hebräischen Gebete der Tefillah in ihrer eigenen Sprache zu Gott wand[t]en, wenn sie in Freunden oder Kümmernissen Dank aussprachen, Trost suchen wollten.

Wertheimer würde aber auch erkennen, dass das Gebetbuch, so wichtig es auch sein mochte – durch seine altmodische Sprache und seinen überholten Charme bei der Generation, die es vielleicht am meisten brauchte, etwas an Einfluss verloren hatte:

…nach siebzig langen Jahren hat das Buch doch manches von seiner ersten Frische eingebüsst […] im Stile der Zeit, in der das Buch geschrieben wurde, — stark von einer sprachlichen Form überdeckt, die es gerade der jungen Frauengeneration unmöglich macht, diese Gebete als die ihrer eigenen Sprache zu machen.
Das jüdische Sportbuch: Weg, Kampf und Sieg. Unter Mitarbeit von Dr. Martha Wertheimer, Siddy Goldschmidt, Paul Yogi Mayer. Atid Verlag. Berlin, 1936. B1849

1936, zu einer Zeit, als es für Juden äusserst schwierig war, Bücher in Deutschland zu veröffentlichen, brachte Wertheimer zwei Bücher heraus, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: Das eine, Das jüdische Sportbuch, war eine Reaktion auf die Olympischen Spiele in Berlin, die jüdische Sportlerinnen und Sportler von der Teilnahme ausgeschlossen hatten. Dieses eindrucksvolle Zeitdokument zeigt das grosse Engagement deutscher Juden und Jüdinnen im Sport und enthält zahlreiche Fotos von Teilnehmern jüdischer Sportveranstaltungen und Vereine.
Das andere, eine Neuauflage von Neudas Stunden der Andacht, wurde sprachlich an die neue Generation jüdischer Frauen angepasst.

Fanny Neuda – Stunden der Andacht. Ein Gebet und Erbauungsbuch für Israels Frauen und Mädchen zur Öffentlichen und Häuslichen Andacht. Durchgesehen und Bearbeitet von Martha Wertheimer. J. Kaufmann Verlag. Frankfurt a. M, 1936.

Und tatsächlich, wie eine Übersetzerin aus einer anderen Sprache hat Wertheimer dieses Buch genommen und es völlig modernisiert, ohne den ursprünglichen Ton zu verändern. Im “Vorwort zur durchgesehenen Neuausgabe” schreibt sie:

Selbstverständlich durfte nichts an den Worten geändert werden, in denen Fanny Neuda von sich aus und als Verfasserin dieses Gebetbuchs zu Israels Frauen spricht. Ihr Vorwort und ihr Nachwort sind daher ohne jede Änderung stehen geblieben und zeigen ihren Stil. Mehr als ihren Stil aber, ihr kluges gutes Unterfangen, für jüdische Frauen und Mädchen Gebetworte zu finden, ihnen eine Helferin zu “Stunden der Andacht” und in solchen Stunden zu sein, weist nach wie vor aus, was sie zu sagen hat, wenn auch das Wie dem Sprachgebrauch unserer Tage sich anpassen musste, um das Was lebendig zu halten.

In unserer Bibliothek befinden sich sowohl die dritte Auflage der Originalfassung des Buches Stunden der Andacht, die 1890 kurz vor dem Tod der Autorin Fanny Neuda und im selben Jahr, in dem ihre Nachfolgerin Martha Wertheimer geboren wurde, erschien, als auch die von Wertheimer selbst 1936 herausgegebene Neuauflage. Während die alte Fassung keine besonderen Merkmale aufweist, weist die neue einige auf:

Die erste Spur, die wir bereits auf der Innenseite des Buchdeckels finden, ist der Aufkleber der “Kedem Buchhandlung”. Diese berühmte Buchhandlung, die Ende 1920 von L. D. Bronstein und Leo Blumstein gegründet wurde, entwickelte sich zu einem Verlag, der einige der wichtigsten deutsch-hebräischen Wörterbücher, jüdische Jugendliteratur sowie zionistische Werke der Zeit veröffentlichte. Trotz des grossen Erfolgs musste der Laden bereits 1938 wegen des Verbots jüdischer Buchhandlungen schliessen. Auf dem Aufkleber findet sich die damalige Adresse des Ladens in der Dahlmannstrasse 8 in Berlin-Charlottenburg und sogar die Telefonnummer.

Die zweite Spur ist eine kleine Widmung, die wir auf der Seite neben dem Titelblatt finden und die von zwei Schwestern im April 1938 verfasst wurde. Leider wissen wir nicht, wem das Buch gewidmet ist, aber wir kennen die Namen der Schwestern: Jenny und Käthe Mielzynski. Die Widmung, die aus einem biblischen Zitat aus dem Buch der Sprichwörter besteht, fasst die Essenz des Buches auf wunderbare Art und Weise zusammen:

Haus und Vermögen sind ein Erbteil von den Vätern, aber vom Ewigen kommt ein verständiges Weib. Nimm’ dieses Buch zum Andenken an.
Deine,
Jenny Mielzynski und
Käthe Mielzynski
Im April 1938

Nach den Aufzeichnungen in Yad va-Shem ist davon auszugehen, dass beide Schwestern Opfer des Holocaust wurden und zwischen 1942 und 1943 ermordet wurden. Eine letzte Spur von Käthe Mielzynski findet sich in der Exilzeitung Aufbau in Form einer Suchanzeige, die eine andere Schwester der Familie, Herta Mendelson, am 24. Juni 1946 aufgab.

Aus der Anzeige geht hervor, dass der letzte bekannte Wohnort von Käthe Mielzynski Berlin Charlottenburg war, 10 Minuten von der Buchhandlung entfernt, in der das Buch gekauft wurde.

Oded Fluss. Zürich, 30.8.2023.

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2 Kommentare zu „Die Andacht zweier Frauen

  1. Was für ein Tresor ist nicht nur dieses Gebetbuch, sondern der erhellende Text darüber von Oded Fluss. – Makes my day!

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