Menachem Ussischkin in der Schweiz

„Es ist die Reihe gekommen auch an die Schweizer Judenheit!“
Menachem Ussischkins Rede. Zürich, 28. November 1925.
Hermann Struck – Porträt von Menachem Ussischkin

Eine der herausragenden Persönlichkeiten der zionistischen Bewegung war Menachem Ussischkin (1863-1941), dessen 160. Geburtstag wir in dieser Woche begehen. Er wurde als Sohn einer chabad-chassidischen Rabbinerfamilie in der damals zum Russischen Reich gehörenden Kleinstadt Dubrouna geboren und beschäftigte sich schon früh mit Fragen der jüdischen Identität und Nationalität. Bald wurde er von der zionistischen Bewegung, insbesondere von Theodor Herzl und dessen Buch „Der Judenstaat“, mitgerissen und nahm am ersten jüdischen Kongress in Basel teil. Ussischkin, der die hebräische Sprache fliessend beherrschte, war einer ihrer grössten Förderer und betrachtete die Wiederbelebung und Integration des Hebräischen als eines der wichtigsten Ziele des Zionismus. Auf dem Ersten Zionistischen Kongress wurde er zum Sekretär für Hebräisch ernannt.

Menachem Ussischkin 1890

Von den Pogromen in Kischinew 1903 schwer betroffen, sah er in Palästina die einzige Hoffnung für das jüdische Volk, reiste häufig dorthin und war einer der Hauptakteure beim Kauf palästinensischen Landes für die Alija und die Ansiedlung. Eine sehr berühmte Debatte, an der er teilnahm, folgte auf das sogenannte „Uganda-Programm“, einen vom britischen Kolonialminister Joseph Chamberlain ausgearbeiteten und auch von Herzl unterstützten Plan, der das afrikanische Mau-Plateau (Kenia) als Zufluchtsort für die bedrängten russischen Juden vorsah. Der Plan, der auf dem Sechsten Zionistischen Kongress 1903 vorgestellt wurde, spaltete die Zionisten, und Ussishkin war einer der lautstärksten Gegner.

M. Ussischkin – Unser Program. „Zion“ Verlag. Wien, 1905. B 169

1905, als das Uganda-Programm bereits aufgegeben worden war, veröffentlichte Ussischkin eine seiner wichtigsten Schriften mit dem Titel Unser Programm, in der er neben politischen Aktivitäten auch die Ansiedlung in Palästina forderte, was später als „synthetischer Zionismus“ bezeichnet wurde. Ussischkin begründete seine Ablehnung und seinen Streit mit Herzl damit, dass das Uganda-Programm die zionistische Bewegung von ihrem eigentlichen Ziel, dem jüdischen Volk eine Heimstätte in Palästina zu geben, abgelenkt und stattdessen zu einem Kompromiss in Form einer Ansiedlung in Afrika geführt hätte.

In unserer Bibliothek befindet sich die sehr seltene Erstausgabe von Ussischkins Unser Programm, erschienen 1905 in Wien im Zion Verlag. Das kleine Büchlein enthält eine Widmung Ussischkins in deutscher Sprache an seinen Freund und „Gesinnungsgenossen“ Felix Pinkus (1881-1947). Pinkus, der unserer Bibliothek viele seiner Bücher geschenkt hat, war Bankier, Journalist und Schriftsteller, bekannt für seine Schriften über das Judentum und den Zionismus. Er war mit der Schauspielerin Else Flatau verheiratet und Vater des bekannten Schweizer Verlegers und Buchhändlers Theo Pinkus.

Felix Lazar Pinkus mit Else Flatau-Pinkus und den Kindern Theo und Miriam vor einem Bild von Theodor Herzl, ca. 1917

Ussischkin besuchte die Schweiz sehr häufig und reiste neben der Teilnahme an den zionistischen Kongressen im Rahmen seiner Funktionen in der WZO (Zionistische Weltorganisation) und im Jüdischen Nationalfonds, dessen Direktor er fast 20 Jahre lang war, regelmässig in die Schweiz, um für seine zionistischen Ideen zu werben und die Alija zu fördern.

Gregor Rabinovitch – Menachem Ussischkin. Jewish agency: 36 Köpfe, Original Lithographien. Verlag der Galerie Aktuaryus. Zürich, 1929. Q 53a

Die schweizerisch-jüdischen Medien berichteten immer wieder über seine Auftritte, insbesondere über einen sehr intensiven Besuch zwischen November und Dezember 1925, als Ussischkin nach Zürich reiste und vier Versammlungen abhielt: die erste am 28. November im Schulhaus Hirschengraben; die zweite einen Tag später in der Augustin-Keller-Loge; am 30. November im Volkhaus Zürich in der Misrachi-Versammlung und die letzte am 6. Dezember wiederum in der Augustin-Keller-Loge. Den Veranstaltungen ging ein Presseempfang am 26. November voraus, an dem alle wichtigen Schweizer Zeitungen und die jüdisch-zionistischen Medien teilnahmen. Die Worte und die Präsenz von Ussischkin beeindruckten die Anwesenden, die ihn „mit stürmischem Applaus “ aufnahmen.

Menachem Ussischkin in Zürich, 1925.


Der Besuch war so eindrucksvoll, dass Anfang 1926 in Zürich eine kleine Broschüre mit dem Titel „Ussischkins Reden an die Juden der Schweiz“ über die gesamte Reise veröffentlicht wurde. Diese Broschüre, die sich auch in unserer Bibliothek befindet, ist ein sehr interessantes Zeitdokument, das die zionistischen Bestrebungen und Einflüsse der Schweizer Juden in der Zwischenkriegszeit dokumentiert und alle Reden Ussischkins und die Reaktionen darauf mit Bildmaterial enthält.

Ussischkins Reden an die Juden der Schweiz. Sonderabdruck aus der „Jüdischen Presszentrale“. Zürich, 1926. B 222/1

Oded Fluss. Zürich, 17.8.2023

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6 Kommentare zu „Menachem Ussischkin in der Schweiz

  1. vielen dank für diesen schönen und interessanten text. „Sekretär für Hebräisch“ sei ussischkin gewesen. welch‘ wunderbarer titel! ich möchte such sekretär für eine sprache sein! die fotografien haben es mir diesmal besonders angetan: mann und frau und kind vor dem bild von theodor herzl im hintergrund, wo ussischkin ja auch gegenpositionen zu herzl vertreten hat. und dann das bild vor den urania-verwaltungsgebäudes in der stadt zürich: rechts beim aufstieg befindet sich seit jahrzehnten ein toller brillenladen, dessen werbepostkarte mit alten autos aus derselben zeit stammt. schön, dass es diesen blog gibt!

  2. Lieber Oded, möchte Dir wieder einmal mein Kompliment für Deine Darstellungen wie die heutige über Ussischkin machen. Diese Darstellungen sind nicht nur lehrreich, sondern sie zeigen auf welches interessante Material die ICZ Bibliothek aufzuweisen hat.

  3. Lieber Oded Fluss

    Einmal mehr: Ein toller, gehaltvoller Text mit anregenden Bildern. Herzlichen Dank für diese wertvolle Arbeit. Es fällt generell ins Auge, welche grosse humanistische Bildung die charismatischen Exponenten der zionistischen Bewegung hatten. Ich freue mich auf Ihren nächsten Beitrag.

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