Theodor Herzl und der erste zionistische ‚Photoshop‘

„Es ist wie bei einer photographischen Aufnahme, bei der die Hand des Aufnehmers gezittert hätte. Das Bild wird ein wenig verschwommen sein.“ (Theodor Herzl. Tagebucheintrag vom 19. Oktober 1898)
Theodor Herzl – Zionistische Schriften. Jüdischer Verlag. Berlin-Charlottenburg, 1905.

Das obige Foto, das wir in Zeitungen, Postkarten und vielen Büchern in unserer Bibliothek finden, ist eines der bekanntesten und einflussreichsten Fotos der zionistischen Bewegung. Es wurde im Oktober 1898 während Theodor Herzls Besuch in Palästina aufgenommen, bei dem er schliesslich Kaiser Wilhelm II, den Kaiser von Deutschland und König von Preussen, treffen sollte. Nach dem ersten Zionistenkongress in Basel setzte sich Herzl für die Idee eines jüdischen Staates ein und tat alles, was in seiner Macht stand, um dieses „Märchen“ Wirklichkeit werden zu lassen.

Theodor Herzl und die Delegation auf ihrer Fahrt nach Palästina.

Eines seiner wichtigsten politischen Ziele war es, die Unterstützung der renommiertesten Staatsoberhäupter der damaligen Zeit zu erhalten, und Kaiser Wilhelm II. war offensichtlich einer von ihnen. Auch wenn die Chancen sehr gering waren, wussten Herzl und seine Mitstreiter, dass allein ein Bild von ihm zusammen mit dem Kaiser und vor allem in Palästina einen grossen Einfluss auf die Weltöffentlichkeit haben würde.
Trotz der sehr schwierigen Bedingungen, insbesondere der Hitze und des Unwohlseins von Herzl, war die Szene perfekt inszeniert. Mit Hilfe seines guten Freundes, des anglikanischen Geistlichen und Zionisten Wilhelm Hechler, erhielt Herzl die Nachricht von einem geplanten Besuch des Kaisers und seiner Delegation in der Landwirtschaftsschule Mikweh Israel in der Nähe von Jerusalem am 28. Oktober 1898. In einem Eintrag in seinem Tagebuch vom Tag danach schreibt Herzl:

Gestern früh fuhr ich zeitig hinaus nach Mikweh Israel. Ich war schon unwohl, hielt mich aber mit Anstrengung aufrecht. Das Bild der Zöglinge an den landwirtschaftlichen Geräten war sehr hübsch. […] Um neun kündigte eine Bewegung auf der mit einer mixed multitude von arabischen Bettlern, Weibern, Kindern und Reitern besetzten Landstraße das Herannahen des kaiserlichen Zuges an. Grimmige türkische Reiter sprengten mit verhängten Zügeln, drohenden Gewehren, noch drohenderen Rundblicken einher. Dann die Vorreiter des Kaisers. Und dort in einer grauen Gruppe mit einigen Damen er selbst.
Ich gab dem Schülerchor von Mikweh das Zeichen zum Absingen des „Heil Dir im Siegerkranz “ mit der Hand. Ich stellte mich an einen der Pflüge hin und zog den Korkhelm. Der Kaiser erkannte mich schon von fern. Es gab ihm einen kleinen Ruck, er lenkte sein Pferd zu mir herüber — und hielt vor mir an. Ich trat zwei Schritte vor; und als er sich auf den Hals des Pferdes niederbeugte und mir die Hand herunterstreckte, trat ich ganz dicht an sein Pferd heran, streckte meine Hand hinauf und stand entblößten Hauptes vor ihm.
Er lachte und blitzte mich mit seinen Herrenaugen an:
„Wie geht’s?“
„Danke, Majestät! Ich sehe mir das Land an. Wie ist die Reise Majestät bisher bekommen?“
Er blinzelte mächtig mit den Augen:
„Sehr heiß! Aber das Land hat eine Zukunft.“
„Vorläufig ist es noch krank“, sagte ich.
„Wasser braucht es, viel Wasser!“ sprach er herab.
„Ja, Majestät! Kanalisierungen in großem Maßstab!“
Er wiederholte:„Es ist ein Land der Zukunft!“
Vielleicht sprach er noch einiges, was mir entfallen ist, denn mein Aufenthalt dauerte einige Minuten. Dann reichte er mir wieder die Hand herunter und trabte davon.

Dieses eher beiläufige Gespräch war dennoch von enormer historischer Bedeutung. Obwohl sich Herzl und der Kaiser bereits einige Wochen zuvor getroffen hatten, war dies das erste Mal, dass das Treffen öffentlich stattfand und gab Herzl die öffentliche Anerkennung, die er so sehr brauchte. Das Einzige, was fehlte, war natürlich eine Aufzeichnung dieses Treffens, aber hier hatte sich ein peinlicher Zwischenfall ereignet.

Das Originalfoto von David Wolffsohn.

Die Aufgabe, das Foto zu machen, war David Wolffsohn anvertraut worden. Der talentierte Geschäftsmann und einer der engsten Weggefährten von Theodor Herzl war leider kein professioneller Fotograf. Die rauen Bedingungen und die Aufregung vor Ort haben dazu beigetragen, dass das Foto, das die historische Szene verewigen sollte, kläglich scheiterte:

Wolffsohn, der Brave, hatte zwei Momentaufnahmen der Szene gemacht. Wenigstens glaubte er es. Er klopfte sich stolz auf seinen Kodak. „Die Platte geb’ ich nicht um zehntausend Mark her.“
Aber als wir nach Jaffa zum Photographen kamen und die Platten entwickeln ließen, zeigte sich, daß auf der ersten Aufnahme nur ein Schatten des Kaisers und mein linker Fuß zu sehen war; die zweite Platte war ganz verdorben.

Nun werden Sie vielleicht fragen: „Wie haben wir denn nun ein richtiges Bild von diesem historischen Ereignis erhalten?“ Die Antwort ist, dass dieses Bild, auch wenn wir es nicht mit dem modernen Konzept der „Fake News“ gleichsetzen können, definitiv kein richtiges Bild ist. Es ist nicht völlig gefälscht, denn es beschreibt ein Ereignis, das wirklich stattgefunden hat. Es ist jedoch ein manipuliertes Bild.


Herzl und seine Begleiter waren von dem Vorfall so enttäuscht, dass sie beschlossen, das zu tun, was wir heute als Photoshop bezeichnen würden. Dem aufmerksamen Betrachter wird vielleicht auffallen, dass das Bild ein wenig seltsam ist. Herzl scheint ein anderes Farbschema zu tragen und auch die Schatten sind ein wenig unpassend. Kaiser Wilhelm II. wirkt fast so, als wäre er auf das Pferd gemalt worden, und wer sich ein wenig mit Geschichte auskennt, weiss, dass er auf seiner Reise in Palästina ein weisses Pferd ritt und nicht ein schwarzes wie auf dem Bild.

Kaiser Wilhelm II. auf seinem weissen Pferd in Jerusalem

In der Zeit vor Photoshop war es üblich, eine Art Fotomontage zu verwenden, um Bilder zu „verbessern“ oder ein „Ereignis“ zu fotografieren, das eigentlich nie stattgefunden hat. In diesem Fall wurde Herzl noch einmal fotografiert, dieses Mal auf dem Dach eines Hauses in Jaffa, wie er seinen Hut hält, und dieses Bild wurde in das Originalfoto eingefügt. Ausserdem wurde der Kaiser auf das schwarze Pferd hinter ihm übertragen, und das weisse Pferd wurde ganz ausradiert.

Herzls Foto auf einem Dach in Jaffa, das später in die Fotomontage eingefügt werden sollte

Und so lernen wir auch bei Herzl, dass wir zwar ein bisschen Willen brauchen, um ein Märchen in die Realität umzusetzen, aber auch ein paar Photoshop-Fähigkeiten.

Oded Fluss. Zürich, 17.11.2022

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2 Kommentare zu „Theodor Herzl und der erste zionistische ‚Photoshop‘

  1. Das ist eine wunderbare Geschichte um Fotogeschichte! Für einmal eine Bildfälschung oder Bildadaptation, über die man freundlich hinwegsieht und lächelt. Immerhin: Kaiser und Zionist sind sich begegnet, auch wenn die kaiserlische Realität nicht auf einem schwarzen Pferd stattgefiunden hat. Schöner Text, gute Bildbearbeitung schon 1898!

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