Juden in der Synagoge am Jom Kippur

Es gibt wohl kein anderes Bild, das mehr mit Jom Kippur verbunden ist. Maurycy (Moritz, Moses) Gottliebs Juden in der Synagoge am Jom Kippur aus dem Jahr 1878 ist eine der tiefgründigsten, philosophischsten, psychologischsten, aber auch autobiografischsten Darstellungen des Versöhnungstages. Es ist auch eines der farbenprächtigsten Porträts der polnischen Juden und Jüdinnen im 19. Jahrhundert – wie sie waren und wie sie sich selbst sahen – und ist daher von historischer und ethnologischer Bedeutung für das Studium der Kultur dieser Zeit.

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Maurycy Gottlieb (1856-1879)

Maurycy Gottlieb wurde 1856 im westgalizischen Drohobych als eines von elf Kindern einer bürgerlich-traditionellen jüdischen Familie geboren. Sein Geburtsort, in dem sich verschiedene Religionen, Kulturen und Sprachen vermischten, sollte sein Leben entscheidend prägen. Ein gutes Zeichen dafür sind die drei Vornamen, unter denen er bekannt ist: der jüdische Moses, der deutsche Moritz und vor allem der polnische Maurycy.

Gottlieb Selbstporträt in polnischer Adelstracht

In seiner Jugend besuchte er eine Jeschiwa und später eine deutschsprachige Schule (Drohobytsch gehörte damals noch zur österreichisch-ungarischen Monarchie). Sein künstlerisches Talent wurde sofort erkannt und er wurde an die Akademie der bildenden Künste in Wien geschickt. Dort entdeckte er paradoxerweise Polen wieder, als er eine Ausstellung des Malers und polnischen Patrioten Jan Matejko besuchte. Der damalige Direktor der Krakauer Kunstakademie wurde später Gottliebs Inspirationsquelle und Lehrer. An der Krakauer Kunstakademie war er aber auch dem Antisemitismus seiner Mitstudenten ausgesetzt. In dieser Zeit las er die Geschichte der Juden von Heinrich Graetz, die ihn tief beeindruckte.

Gottlieb (links) neben seinem Gemälde von Shylock und Jessica.

Diese gespaltene Seele eines deutschsprachigen polnischen Juden war ein entscheidender Faktor in Gottliebs kurzen Leben und hat seine Kunst stark beeinflusst. Er malte überlebensgrosse historische Porträts, in die er aber immer die verschiedenen Teile seiner Identität, manchmal auch seiner Biografie, mit einbezog, da die Figuren die Gestalt von Personen annahmen, die er kannte, oder in vielen Fällen von sich selbst. Die Themen, die er malte, waren fast immer Grenzfälle: ein Porträt von Shakespeares Shylock und seiner Tochter Jessica, von Uriel Acosta und seiner Frau, ein Selbstporträt von sich als Ahasver, der ewige Jude.

Maurycy Gottlieb – Ahasver. Muzeum Narodowe w Krakowie

Sein wohl bekanntestes Gemälde ist jedoch Juden in der Synagoge am Jom Kippur, das er kurz vor seinem frühen Tod im Alter von nur 23 Jahren fertigstellte. Gottlieb selbst hatte an Jom Kippur ein lebensveränderndes Erlebnis, das er später als seine erste Sünde bezeichnete. Als junger Gymnasiast malte er – um sich nicht von den anderen Schülern zu unterscheiden – auch an diesem heiligsten aller jüdischen Tage:

Später an diesem Tag kam ich mit einem schrecklichen Schuldgefühl nach Hause, das mein Gewissen überflutete. Als man mich fragte, wo ich gewesen sei, wurde ich zuerst rot, dann blass, und meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich wusste keine Antwort.
Gottliebs Gemälde auf einer israelischen Briefmarke (1975).

Dieses Gemälde, das viele Jahre lang verschollen war und sich heute im Kunstmuseum von Tel Aviv befindet, erlangte Weltruhm. Im Gegensatz zu anderen romantischen Historiengemälden jener Zeit sind wir hier nicht Zeugen eines bestimmten historischen Ereignisses oder einer biblischen Szene, sondern eines universellen menschlichen Moments: betende Juden in einer Synagoge. Die Menschen, junge und alte Frauen und Männer, alle in einer Komposition versammelt, ohne dass sie zu einer Menschenmenge werden. Sie sind alle, jeder auf seine Weise, durch das Gebet miteinander verbunden, doch jeder mit seiner eigenen Bitte an Gott. Wer andere Gemälde von Gottlieb kennt, wird auf dem Bild Personen aus seinem Leben wiedererkennen, wie seine Schwester, seine Verlobte (die ihn verliess und ihm das Herz brach) und seinen Vater.

Die Figur Gottliebs erscheint dreimal auf dem Gemälde und repräsentiert seine persönliche Geschichte in drei verschiedenen Lebensaltern: Unten links ist ein junger Gottlieb zu sehen, sein Blick ist etwas abwesend und er trägt ein etwas unpassendes, aus der Zeit gefallenes orientalisches Gewand. Auch wenn es schwer zu erkennen ist, trägt der kleine Junge eine Halskette mit einem Davidstern und den Initialen מ. ג [M.G]. Unten rechts sehen wir einen Jungen im Bar Mitzwa-Alter, der mit einem älteren Mann liest. Die Ähnlichkeit mit dem Jungen links lässt vermuten, dass es sich auch hier um Gottlieb handelt, der zusammen mit seinem Vater dargestellt ist.

Die dritte und auffälligste Figur ist der junge Mann in der Mitte, der den derzeitigen Gottlieb darstellt. Sein hypnotisierender Blick ist sowohl nach aussen gerichtet, als ob er uns anschauen würde, als auch nach innen, als ob er sein Innerstes erforschen würde. Er trägt die gleiche Halskette wie der kleine Junge und traditionelle jüdische Kleidung, aber nicht wie die anderen: Die Farben sind nicht schwarz-weiss, sondern bunt und haben etwas Orientalisches. Man könnte sich vorstellen, dass das gestreifte, bunte Gewand des biblischen Josefs so aussah.

Durch diese drei Figuren setzt sich Gottlieb mit seiner Identität auseinander. Er ist sich seiner jüdischen Herkunft bewusst (die Figur von ihm und seinem Vater), aber er ist sich auch bewusst, dass er ein Aussenseiter ist.

Aber das ist nicht die einzige Art, wie Gottlieb auf dem Bild erscheint. Wenn man genau liest, was auf dem Toramantel in der Mitte steht, findet man Maurycy Gottlieb ein letztes Mal. In hebräischer Schrift steht da, als wäre er der Stifter der Torarolle:

“נדבה לזיכרון נשמת המנוח כבוד מורנו הרב רבי משה גאטליעב זצ”ל, שנת תרל”ח לפ”ק
Spende zum Gedächtnis an die Seele unsere Lehrer des Rabbiner Moshe Gottlieb sZ”l im Jahre 5638 (1878)

Diese Schrift, die zu ihrer Zeit viel Aufsehen erregte und sich als prophetisch erwies (es sollte das letzte Jahr in Gottliebs Leben werden), wurde dem jungen Maurycy Gottlieb selbst zweimal vorgelegt. Das erste Mal durch den Chirurgen und Zionisten Ruben Bierer (1835-1931), der Gottlieb danach fragte und die Antwort erhielt:

Genau an dieser Stelle meines Bildes angelangt, empfand ich ein Gefühl, dass ich dieser Welt entrückt bin und nicht weiter leben kann; da wollte ich wenigstens mein Andenken an dieser Stelle verewigen. (Selbst-Emancipation 19.9.1892)

Die zweite Person, die Gottlieb nach der Schrift fragte, war der hebräische Schriftsteller und Publizist Natan (Neta) Samueli (1843-1921), knapp acht Monate vor Gottliebs frühem Tod. In seiner Erzählung שתי אבני זכרון (Zwei Erinnerungssteine) berichtet er darüber:

Als ich ihn nach dem Grabstein fragte, den er zu Lebzeiten selbst gemacht hatte, antwortete er mir: “Ich habe nicht genug Worte, um diese Frage zu beantworten, und ich kann es mir auch nicht erklären. Während meiner Arbeit war ich in einer Stimmung, die ich nicht beschreiben kann. Manchmal schien es mir, als stünden hier vor mir die Schatten von Menschen, die von uns gegangen sind, und hier kehren sie zurück und schauen mich mit ihren toten Augen an, als wollten sie mich anflehen: ‘Mach uns wieder lebendig!’ Und ich zeichnete einige von ihnen aus der Erinnerung und einige von alten Familienfotos […] und wie diese Toten wurde mir plötzlich klar, dass auch ich nicht ewig leben werde, dass das Leben des Menschen auf dieser Erde kurz ist und dass ich bald zu dem Boden zurückkehren werde, von dem ich gekommen bin. Und dann stand plötzlich der Grabstein vor mir, und ich war verwirrt wie ein Mensch, der zu Lebzeiten seinen Grabstein sieht.”
(ha-Magid 18.11.1892)

Oded Fluss. Zürich 21.9.2023

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