“Seit meiner Bar Mitzwa lebe ich in ständiger Frage an das Gesetz.”

Am 25. Februar 1936, kurz bevor er mit seiner Familie nach Zürich zog, wo sein Vater Rabbiner der Israelitischen Cultusgemeinde werden sollte, hatte Jacob Taubes seinen 13. Geburtstag gefeiert. Der Sohn des bekannten und angesehenen Rabbiners Zwi Taubes galt bereits als Wunderkind und seine Bar Mitzwa am Samstag, den 7. März war ein grosses Ereignis für die örtlichen jüdischen Gemeinden. Die lokalen jüdischen Zeitungen waren voll von Anzeigen, die das Ereignis ankündigten, und die glücklichen Eltern hatten eine offene Einladung an den Ort der Feier, den Pazmanitentempel, ausgesprochen, wo sie jeden willkommen hiessen, der ihren geliebten Sohn bewundern wollte.

Für Jakob selbst war die Bar Mitzwa sogar noch wichtiger. Der junge Mann, Spross einer bedeutenden rabbinisch-chassidischen Familie, hatte gerade sein erstes Buch fertiggestellt: einen wissenschaftlichen Vortrag über den Segen der Tefillin (Gebetsriemen). Das auf Hebräisch verfasste Buch war seinen berühmten Vorfahren auf beiden Seiten der Familie gewidmet und enthielt eine kleine Einleitung in Form eines Briefes von seinem Vater. Dieser Brief, der auch von seinem Vater anlässlich der Bar-Mitzwa vorgelesen wurde, sollte sowohl die Bindung zwischen Vater und Sohn als auch die Bindung zwischen dem jüdischen Volk und Gott, deren Symbol, die Tefillin, das Thema von Jakobs Buch war, betonen. Die Bar-Mitzwa-Zeremonie sollte gleichzeitig die Übergabe der Fackel vom Vater an den Sohn und von einem jüdischen Gemeindeleiter an seinen Nachfolger symbolisieren:

Mein geliebter Sohn,
Ich wusste, mein Sohn, dass auf mir die Pflicht lastete, den Weg zu ebnen, den du im Studium der Tora beschreiten würdest […] So gut ich konnte und solange ich nicht daran gehindert wurde, habe ich mich bemüht, diese heilige Pflicht zu erfüllen, denn nur durch die Erfüllung der Mitzwot [Pflichten] Talmud-Tora würde die Tora von Moses an Kehilat Jacob [das jüdische Volk] weitergegeben werden.
Und auf uns lastet diese Pflicht noch mehr, denn die Tora sucht die Orte auf, die sie zuvor besucht hat, und du, mein geliebter Sohn, bist der Sohn eines angesehenen Geschlechts, aus dem viele Genies und Heilige hervorgegangen sind, von denen einige die mündliche Tora errichteten […] Und ich bete, dass auch du dich zu den Erbauern gesellst und die Tradition deiner Väter fortsetzt, und dass gute und hohe Kräfte in dir offenbart werden und du einen Garten auf dem Feld der Tora anlegst.
Ich habe dich ein Kapitel im Studium der Halacha gelehrt, und ich habe gesehen, dass du hörst und zuhörst und eine Sache aus einer anderen verstehst, und es liegt in deiner Fähigkeit, die Worte der Alten sowohl zu interpretieren als auch zu erforschen. Und die Tefillin sind nicht nur ein Zeichen und ein Symbol unserer Kommunikation mit dem lebendigen Gott durch die lebendige Tora, sondern sie sind auch eine Krone der Tora, die jeder tragen kann, ganz zu schweigen von jemandem, der ein Glied in einer langen Kette von Genies und Rabbinern ist. Deshalb habe ich dich erweckt, damit du den ersten Samen in den Boden unserer Literatur pflanzt, wenn du kommst und zum ersten Mal die Last der göttlichen Pflicht auf dich nimmst.
Und deine Mutter Feiga – möge sie leben – die gelehrt ist und unsere Lehrer schätzt, bemüht sich mit all ihrer Kraft, in dir den Samen der Leidenschaft und des Willens für Talmud-Tora und für gute Taten zu säen, und was mein und was dein ist – das ist ihres.
Und ich bete, dass du zu denen gehörst, die die Tora aufbauen, und dass deine Taten dich ihr näher bringen, und dass du zu denen gehörst, die unser Heiliges Land erlösen werden, und dass wir es dank dir werden betreten können.
Dein Vater, dessen Seele mit deiner verbunden ist,
Chaim Zwi Taubes
Wien, Adar, 5696.
Die Bar Mitzwa war ein grosser Erfolg. Ein ziemlich langer Artikel, der am 13. März 1936 in der Wiener Zeitung Die Wahrheit erschien, gibt uns einen seltenen Einblick in die Ereignisse während und nach der Bar Mitzwa. Alle, die etwas auf sich hielten, waren an diesem Samstag in die Synagoge gekommen, von den Freunden der Familie über wichtige politische Persönlichkeiten bis hin zu bekannten Rabbinern. Jakob trug seine Lesung mit grosser Verständlichkeit und Schönheit vor und las anschliessend aus seinem gerade erschienenen Buch, das den Gästen als Geschenk überreicht wurde. Am darauffolgenden Sonntag empfingen Rabbiner Taubes und seine Frau die Gäste in ihrem Haus, wo Jacob erneut aus seinem Buch vorlas und von den Gästen mit grossem Beifall bedacht wurde.

Neben dem Buch, das Jacob Taubes zu seiner Bar Mitzwa schrieb, befindet sich in unserer Bibliothek noch ein weiteres seltenes Erinnerungsstück: Ein wunderschönes Buch, von dem wir durch einen Aufkleber wissen, dass es in der Josef Belf Verlags- u. Sortimentsbuchhandlung in Wien gekauft wurde, trägt im Inneren eine besondere hebräische Widmung:
מתנה להבחור היקר נטע יעקב טויבעס שליט”א
ליום חגיגת הבר מצוה בפורים תרצ”ו
מאוהבך ודוש”ט דר’ מ. ג. מעהרער
Ein Geschenk für den lieben Jüngling Netta Jacob Taubes, möge er lange und gut leben, zu seiner Bar Mitzwa am Purimfeste 1936.
Von dem, der dich liebt und dir das Beste wünscht, Dr. M. G. Mehrer

Dr. M. G. Mehrer ist kein anderer als Rabbiner Dr. Meier Gabriel Mehrer (1876-1948). Geboren in Lemberg war er ab 1912 Rabbiner in Krems, Horn (bis 1919) und Waidhofen an der Thaya, und ab 1922 Rabbiner in Wien Margareten. Nachdem Mehrer im Zuge des Novemberpogroms 1938 verhaftet worden war, gelang ihm Anfang 1940 gemeinsam mit seiner Frau Retta die Flucht in die USA. Er war ein sehr bekannter und wichtiger Rabbiner in Wien und dank dieses Dokuments wissen wir, dass er an Taubes’ Bar Mitzwa teilgenommen hat.

Noch im Jahr der Bar Mitzwa zog die gesamte Familie Taubes nach Zürich. Sein Vater, Rabbi Zwi Taubes, ist hier nicht nur für sein originelles Denken, sondern auch für seinen Mut und seinen Widerstand gegen die Nazis und seine Hilfe für jüdische Flüchtlinge bekannt. Er war die erste offizielle jüdische Persönlichkeit, die David Frankfurter im Gefängnis besuchte, und ihm wurde sogar die zweifelhafte Ehre zuteil, mit Foto in der Nazizeitung Der Stürmer in einem Artikel mit dem “schönen” Titel “Zürich erhält einen neuen Zauber-Rabbi” zu erscheinen .

Im Zürich der 1940er Jahre trafen sich einige der bedeutendsten Denker des 20. Jahrhunderts, und hier wurde Jacob Taubes einzigartiges und originelles Denken geformt. Er war Schüler und enger Gefährte sowohl des zionistischen Rabbiners Eliyahu Botschko als auch der antizionistischen Rabbiner Moshe Soloveitchik und Joel Teitelbaum (dem Satmar-Rabbiner), er besuchte Vorlesungen und führte Gespräche mit dem jüdischen Mystiker Oscar Goldberg und lernte durch seinen Vater die Leitfigur des liberalen Judentums Rabbiner Leo Baeck kennen. Taubes beschränkte sich jedoch nicht nur auf jüdisches Denken, sondern studierte zusammen mit einigen der bedeutendsten christlichen Denker seiner Zeit: Hans Urs von Balthasar, Karl Barth und Emil Brunner, um nur einige zu nennen. Er wusste, wie mit all diesen Extremen umzugehen und entwickelte sich zu einem der originellsten und umstrittensten Denker der jüdischen Philosophie und Religionssoziologie im 20. Jahrhundert, der die Gedanken von Marx und Paulus mit denen von Carl Schmitt zu einem Konzept einer theologischen Politik verband.

Zürich war auch der Ort, an dem Jacob Taubes seine einzigartige und erfolgreiche akademische Karriere begann. Hier schrieb er 1947 sein erfolgreichstes (und fast einziges) Buch Abendländische Eschatologie, das ihn über Nacht weltberühmt machte und seine ungewöhnliche, bisweilen esoterische Denkweise demonstrierte.

Dennoch war es seine Bar Mitzwa und die Parascha, die er lesen sollte, die Jacob Taubes als Auslöser für sein radikales Denken und den Wendepunkt in seinem Leben ansah. Der Samstag vor Purim ist bekannt als שבת זכור Schabbat Zekhor (Samstag des Gedenkens). Es ist eine von vier besonderen Paraschot, die zusätzlich zu den normalen wöchentlichen Abschnitten der Bibel gelesen werden. Es handelt sich um die Verpflichtung, der Taten Amalek gegen das Volk Israel zu gedenken (“Gedenke, was dir Amalek getan”), und um das Versprechen, das Gedächtnis Amalek von der Erde zu tilgen (“sollst du auslöschen das Gedächtnis Amaleks unter dem Himmel”). Die Parascha wird absichtlich vor Purim gelesen, um eine Verbindung zwischen Amalek und Haman herzustellen, der als Spross von Amalek angesehen wird.

Für Jakob Taubes war es mehr als nur ein Zufall, dass er an seiner Bar Mitzwa genau diese Parascha lesen sollte. Er hatte eine grosse Bedeutung hinter dieser Parascha gesehen und war davon erschüttert. Was ihn am meisten beunruhigte, war die direkte Verbindung zwischen den biblischen Feinden des israelischen Volkes (Amalek) und den späteren Feinden Israels aus der Esther-Megilla (Haman). Das Gebot, alle Feinde Israels zu vernichten, weil sie als Samen der Amalekiter anzusehen seien, hat Taubes’ theologisch-politisches Denken geprägt, und er weigerte sich, es zu akzeptieren. In seinen eigenen Worten begann hier sein “Zweifel am Gesetz”. In einem Brief, den er Anfang der 1950er Jahre an seinen Freund Hugo Bergmann schrieb und der in der israelischen Nationalbibliothek zu finden ist, schreibt Taubes:
Ich weiss nicht, ob ich Ihnen je erzählt habe, dass meine “Parsche” gerade פרשת זכור [Paraschat Zekhor] ist – ich bin darüber nicht hinweg-gekommen. Es hat tief meinen Zweifel am Gesetz bestimmt. Seit meiner Bar Mitzwa lebe ich in ständiger Frage an das Gesetz. Sie können sagen, es ist ein Zufall; gut: Dies Los ist mir zugefallen, ich will ihm nicht ausweichen.

Jacob Taubes’ Bar Mitzwa ist auch der Ausgangspunkt der neuen und faszinierenden Biographie “Professor der Apokalypse : die vielen Leben des Jacob Taubes” (Suhrkamp/Jüdischer Verlag) von Professor Jerry Z. Muller, die Ende letzten Jahres erschienen ist. Die Biographie beschreibt zum ersten Mal Taubes’ fesselndes und rätselhaftes Leben vom Vorkriegs-Wien über Zürich, Israel, New York bis ins Berlin des Kalten Krieges. Sein Weg vom Wunderkind, Sohn eines Rabbiners, über seinen Kampf mit seiner bipolaren Störung, sein fragwürdiges Verhältnis zu Frauen, sein Wandern zwischen Judentum und Christentum, Links und Rechts, Frömmigkeit und Übertretung, bis hin zu seinen Interaktionen und seinem Einfluss auf viele der grossen Geister seiner Zeit, von Leo Strauss und Gershom Scholem bis zu Herbert Marcuse, Susan Sontag und Carl Schmitt.

Wir freuen uns, Professor Muller in unserem Gemeindehaus begrüssen zu dürfen. Zusammen mit einigen Verwandten von Jacob Taubes (Madeleine Dreyfus, Liliane Isaak-Dreyfus und Susanne Scheiner), die Mitglieder unserer Gemeinde sind, werden wir am Sonntag, den 26.2.2023 um 16.00 Uhr in einer von Omanut organisierten Veranstaltung über die Geschichte der Familie Taubes sprechen und viele andere interessante Gegenstände und Aspekte aus dem Leben von Jacob Taubes zeigen:

http://omanut.ch/veranstaltungen/jacob-taubes-professor-der-apokalypse/
Oded Fluss. Zürich, 15.2.2023