
“in den Jugendjahren eines jeden deutschen Juden gibt es einen schmerzlichen Augenblick, an den er sich zeitlebens erinnert: wenn ihm zum ersten Male voll bewusst wird, dass er als Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten ist, und dass keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn aus dieser Lage befreien kann.” Walther Rathenau – “Staat und Judentum” (1911).
Vor 100 Jahren, am 24. Juni 1922, wurde Walther Rathenau (geb. 1867) ermordet. Die Kugel, die sein Herz durchbohrte, zerschlug auch die Illusion von der Möglichkeit eines Weltfriedens, und vielleicht noch mehr: beendete die Illusion der Judenemanzipation im Deutschland der Weimarer Republik, denn Rathenau wurde nicht nur als deutscher Aussenminister sondern vor allem als Jude ermordet. Die Proto-Nazis, die ihn ermordeten, taten dies, weil sie die Vorstellung nicht ertragen konnten, dass Deutschland offiziell von einem Juden repräsentiert wurde.

Walther Rathenau war der erstgeborene Sohn von Emil Rathenau und Mathilde (Nachman) Rathenau. Sein Vater war einer der grössten Industriellen, die Deutschland je gesehen hat. Er war der erste, der die elektrische Glühlampe und das Telefon auf den Markt brachte und er war der Gründer der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft (A.E.G). Mathilde Rathenau stammte aus der alten jüdischen Kaufmanns- und Bankiersfamilie Nachman(n), die ihren Stammbaum bis zum Talmudgelehrten und Kabbalisten Mose Ben Nachman (1194–1270) zurückführen konnte.

Walther Rathenau studierte Physik, Chemie und Philosophie in Berlin und Strassburg und wurde 1889 in Physik promoviert. Darüber hinaus bildete er auch seine künstlerisches Talent aus und versuchte – wenn auch vergeblich – ein Drama zu inszenieren, das er noch während seines Studiums geschrieben hatte. Bei seinem Onkel, dem grossen Maler Max Liebermann, studierte er Malerei, von der einige Skizzenbücher erhalten geblieben sind. Er diente in der deutschen Armee, arbeitete in der Firma seines Vaters, verliess dann aber alles, um eine Karriere in der Politik zu machen. Er wurde der erste und einzige Jude, der den Titel des deutschen Aussenministers erlangte. Seine Beziehung zu seiner jüdischen Herkunft kannte viele Wendungen, und obwohl er sie nur als einen kleinen Teil seiner Identität betrachtete, hatte sie einen grossen Einfluss auf sein Leben und Denken.
“Von vorn herein will ich bekennen, dass ich Jude bin.” Walther Rathenau “Höre Israel” (1897).
Der obige Satz war der erste, den Walther Rathenau jemals in einem Buch veröffentlicht hat. Er wurde ursprünglich unter dem etwas Pseudo-Pseudonym “W. Hartenau” gedruckt und umfasste sein ganzes, kurzes Leben. Denn dieser Satz, der sowohl apologetisch als auch trotzig ist, fängt Rathenaus Ambivalenz gegenüber seiner jüdischen Herkunft ein. Eine Herkunft, die er einerseits widerwillig hinnahm, auf die er aber andererseits stolz war. Eine Herkunft, die er nie als seine primäre Identität betrachtet hatte, die er aber dennoch nicht hinter sich lassen wollte oder konnte.

In dem Artikel “Höre Israel”, der zuerst 1897 in der Zeitschrift “Die Zukunft” und fünf Jahre später unter seinem richtigen Namen in seiner ersten Publikation “Impressionen” (1902) erschien, wollte Rathenau, sich an deutsche jüdische Mitmenschen zu wenden und versuchte sie zu ermutigen, sich stärker für ihre soziale Assimilation einzusetzen. Er war der Meinung, dass der Grund für die gescheiterte Assimilation und den zunehmenden Antisemitismus vor allem bei den Juden selbst lag, die sich immer noch an ihre Geschichte und Tradition klammerten und sich als schwach und feige darstellten: “Meint ihr, der alte Stammesgott werde seinen König Messias senden, um euch zu helfen? Ach, es ist euch nicht aufgefallen , dass er seit ein paar tausend Jahren sich mit euch nichts mehr zu schaffen gemacht hat! Der Herr des Zornes und des Sieges hatte an einem Volke von Kriegern gefallen; für ein Volk von Krämern und Maklern interessiert er sich nicht.”
Der Artikel kam bei den Juden der damaligen Zeit nicht gut an, da sie ihn als Opferbeschuldigung ansahen. Es wird erzählt, dass Rathenaus Vater besonders verärgert war und alle Kopien aufkaufte, die er finden konnte, damit der Artikel nicht noch mehr Menschen erreichte.

In seinen späteren Jahren distanzierte sich Rathenau von diesem frühen Artikel und entfernte ihn aus der Veröffentlichung seiner gesammelten Aufsätze. In einer Sache jedoch änderte er nie seine Meinung, und das war die Konversion. Rathenau hielt die Idee der Taufe von Anfang an für schlecht da sie zu mehr Antisemitismus führen würde. Er erkannte die Nachteile des Jüdischseins in Deutschland, hielt aber eine Konversion aus diesem Grund für völlig falsch. In seinem berühmten Artikel “Staat und Judentum”, der 1912 in dem Buch “Zur Kritik der Zeit” erschienen ist, schreibt er: “Mit der Zugehörigkeit zum Judentum sind nur bürgerliche Nachteile, mit dem Übertritt zum Christentum erhebliche Vorteile verknüpft […] Die Forderung der Taufe nötigt schließlich den Juden, durch den Akt löblicher Unterwerfung sich einverstanden zu erklären mit der preußischen Judenpolitik, die nicht weniger bedeutet, als die schwerste Kränkung, die ein Staat einer Bevölkerungsgruppe zuzufügen vermag.”

Nicht nur Juden, sondern auch christliche Deutsche hielten die Idee der Konversion für eine gute Lösung. 1917 veröffentlichte der Schriftsteller Curt Trützschler von Falkenstein sein Buch “Die Lösung der Judenfrage im Deutschen Reiche”, in dem er erklärt, dass die einzige Möglichkeit für eine echte Assimilation der Juden in Deutschland ihre Konversion zum Christentum sei. Die einzige realistische Lösung sei die folgende: “Es wäre im inneren und äusseren Interesse der Juden gelegen, wenn sie sämtlich einsehen würden, dass die christliche Nächstenliebe der jüdische Morallehre gegenüber einen religiösen, kulturellen, geistigen Fortschritt bedeutet. Aus diesem Grund sollten die deutschen Juden den Entschluss fassen, jüdische Christen zu werden.”
Der Autor schickte ein Exemplar an Rathenau und fragte ihn nach seiner Meinung, was zu einem Buch führte, das noch im selben Jahr erschien, in dem Rathenau seine Antwort in Form eines offenen Briefes veröffentlichte.

Rathenau selbst betrachtete die “jüdische Frage” nicht als eine religiöse Frage. Er stellte die christlichen Dogmen dem dogmenfreien Monotheismus des Judentums gegenüber und erkannte nicht nur dessen Existenzberechtigung an, sondern kommt auch zum Schluss, dass sich nur der jüdische Glaube mit der Religiosität des modernen Menschen vereinen lässt: “Im Gegensatz zum nachpaulinisichen Christentum bildet die mosaische Religion keine Kirche. Mögen ihre Bekenner durch Landesgesetzgebung zu Religionsgemeinschaften vereinigt sein: diese Bindung ist des Staates, nicht des Glaubens. Es gibt keinen Tempel: der eine, der auf Zion stand, zur Zeit als der Mosaismus noch die Form der Staatsreligion und der Kirche durchlief, ist zerstört; kein Gesetz fordert seinen Aufbau.”

Aus diesem letzten Zitat kann man schon erahnen, welches Verhältnis Rathenau zum Zionismus hatte. Er lehnte ihn komplett ab, da er nur ein nationalistisches Gefühl kannte – das deutsche.
In unzähligen seiner Briefe findet man Aussagen wie: “Ich fühle deutsch und werde mich nie von meinem deutschen Volke trennen.” Oder “Ich habe und kenne kein anderes Blut als deutsches”. Er würde immer wieder versuchen, einen Kompromiss zwischen den Deutschen und den Juden zu finden, denn Rathenaus Jüdischsein war für ihn eine Nuance seines Deutschseins: „Wir sind nichts anderes als Glieder einer Nation, wir sind Deutsche. Doch auf uns lasten zwei Jahrtausende des Schmerzes und wenige von uns können je von ganzem Herzen heiter sein. Willst Du damit die Sorge um mein deutsches Vaterland mildern, dass Du mir die Schmerzen meiner Väter vor Augen hältst?”

Rathenau war der jüdische Glaube jedoch nicht fremd. In einem Brief seiner Mutter an Ernst Jakob aus dem Jahr 1926 schrieb sie: “Mein Sohn hatte keinen jüdischen Religionsunterricht, wohl aber nahm er im Wilhelmsgymnasium an dem Unterricht im Hebräischen teil und sein Lehrer Weinbaum betrachtete ihn als seinen vorzüglichsten Schüler, auf den er sehr stolz war. Auch später beschäftigte er sich noch mit dem Studium des Hebräischen, besonders mit der Grammatik. Er hielt nichts von Dogmen und Vorschriften, um so mehr aber von dem Geist des Judentums und hatte nicht nur jüdischen Verstand, sondern ein wahres jüdisches Herz. Dies bewies er besonders, indem er unzähligen Menschen im Stillen half, sondern indem er auch sie aufsuchte und der Notzuvorkam. Er sorgte unentwegt für geistige und werktätige Arbeiter. Bibel, Talmud und andere jüdische Schriften kannte er wie ein Rabbiner und das Neue Testament wie ein Prediger.”

Obwohl Rathenaus Mutter übertrieben haben könnte, wissen wir mit Sicherheit, dass Walther Rathenau seine Hebräischstudien sehr ernst genommen hat. Man kann sogar hebräische Passagen in seinen Briefen finden. Wir wissen auch, dass er sehr stark von jüdischen Denkern beeinflusst wurde. Die beiden Denker, die ihn am meisten beeinflussten, waren Martin Buber und Baruch Spinoza. Buber, der Rathenau persönlich kannte, wusste zu berichten, wie seine chassidischen Schriften für Rathenau von grossem Einfluss und Bedeutung waren: “Ich war mit Rathenau gut bekannt […] Meinen beiden ersten chassidischen Büchern (“Die Geschichten des Rabbi Nachmans”, 1906, und “Die Legende des Baalschem”, 1907) und den sechs ersten meiner “Reden über das Judentum” war er ein aufmerksamer Leser, wie ich aus allerlei Bemerkungen und Hinweisen erkannt habe. […] Er hatte den Wunsch, in eigener Arbeit zu den Quellen vorzudringen, und hat eine Zeitlang […] eifrig Hebräisch gelernt: sein Lehrer von damals, den ich nach vielen Jahren in Palästina wiedergesehen habe, erzählte mir bei dieser Gelegenheit, wie ernst und gründlich Rathenau dieses Studium betrieben hat.”

Auch wenn sie es in ihrem Brief nicht erwähnt, war einer von Rathenaus ersten Briefen an seine Mutter, als er sieben Jahre alt war, in jiddischer Sprache. Seine Mutter kannte Jiddisch aus ihrem Elternhaus und es scheint, dass sie es mit ihrem Sohn sprach. Dies ist ein seltener Einblick in Walther Rathenaus Kindheit, der eine unbekannte Seite von ihm offenbart. Oben ist der Brief sowohl in deutscher als auch in jiddischer Schrift.

Die Ermordung von Walther Rathenau im Juni 1922 hat Deutschland zutiefst erschüttert. Ein nationaler Gedenktag wurde ausgerufen, Strassen und Wege wurden nach dem beliebten Mann benannt, Denkmäler mit seiner Figur errichtet. Dies änderte sich jedoch alles sehr schnell. Die Stimmung in Deutschland veränderte sich im nächsten Jahrzehnt drastisch und zehn Jahre später war keine Spur mehr von seinem Andenken zu finden. Die verbleibenden Mörder und Verschwörer des Mordes wurden freigestellt und gefeiert. Für die Mörder, die gestorben waren, wurden nun Denkmäler errichtet.
Walther Rathenau wurde ermordet, weil er Jude war, aber mehr als das: er wurde ermordet, weil er ein deutscher Jude war, vielleicht der deutsche Jude. Der Mensch, der “deutscher als deutsch” gewesen war, hatte sein ganzes Leben lang darum gekämpft, Jude zu bleiben.

Oded Fluss. Zürich, 22.6.2022