
Ein Buch ist manchmal ein Treffpunkt zwischen zwei grossen Menschen. In vielen unserer Bücher finden wir Widmungen, die uns in eine frühe Zeit zurückwerfen, in der diese geschrieben wurden. Eines der seltenen Bücher im Bestand unserer Bibliothek ist eine Erstausgabe von Moses Mendelssohns “Phaedon – oder über die Unsterblichkeit der Seele” von 1767.
Das Buch, das unserer Bibliothek am 27. Dezember 1948 geschenkt wurde, enthält eine Widmung von David Farbstein (1868 – 1953), Rechtsanwalt und erster jüdischer Nationalrat der Schweiz.

David Farbstein, in orthodoxem Milieu in Warschau geboren, studierte nach einer Rabbinerausbildung in Osteuropa Jura in Deutschland und der Schweiz. Nach seiner Einbürgerung 1897 liess er sich als Anwalt in Zürich nieder. Farbstein war ein enger Vertrauter von Theodor Herzl und der Ort des ersten Zionistenkongresses geht auf ihn zurück: Nach vielen Querelen um München und Zürich hatte Herzl Farbstein in einem Brief vom 9. Juni 1897 gebeten, einen günstigen Kongressort in der Schweiz zu finden, nicht weit von der österreichisch-schweizerischen Grenze entfernt. Schliesslich wurde Basel der historische Ort, von dem das Basler Programm und Jahre später die Staatlichkeit Israels ihren Ausgang nahmen.

Farbstein war Mitglied der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz, Mitglied des Zürcher Kantonsrats und Mitglied des Nationalrats. Zu seinen zahlreichen Verdiensten gehörte die Förderung der Gleichberechtigung der Juden in der Schweiz und ein erbitterter Kampf gegen den Antisemitismus. Er war ein frühes Mitglied der ICZ und sein Grab war das erste auf dem damals neu eingerichteten jüdischen Friedhof Oberer Friesenberg.

Der Empfänger dieser Widmung ist der Schweizer Pfarrer, Politiker und Gründer des Schweizer Sozialarchivs Paul Pflüger (1865 – 1947). Bekannt als “roter Pfarrer” zählt er zu den Pionieren der Schweizer Sozialpolitik. Wie Farbstein war auch er Mitglied der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz.
Aus dem Inhalt geht hervor, dass die Widmung 1945 geschrieben wurde und Pflüger das Buch von Farbstein zu dessen 80. Geburtstag bekommen hat.

Aus verschiedenen Hinweisen können wir erkennen, dass zwischen Farbstein und Pflüger eine wahre Freundschaft bestand. Letzterer hat Farbstein in seiner “Lebenserinnerung” als “den intimsten Freund” bezeichnet. In einem Nachruf schrieb Farbstein 1947: “Der Unterzeichnete verliert in Paul Pflüger einen alten guten Freund. Die Menschheit verliert in ihm einen edlen Menschenfreund. Das Andenken dieses Gerechten, dieses Zaddik sei gesegnet”.

Unter der ersten Widmung finden wir eine weitere, die an unsere Bibliothek gerichtet ist. Sie ist auf 1948 datiert, ein Jahr nach Pflügers Tod, und wurde von Pflügers Sohn ( der ebenfalls Paul heisst) geschrieben. Er schrieb, dass er dieses Buch im Nachlass seines Vaters gefunden hat und es unserer Bibliothek schenken möchte.

Oded Fluss, Zürich, 29.6.2022
dass es schon damals auf eidgenössischer ebene einen jüdischen parlamentarier gegeben hat, war mir nicht bekannt. spannend, was widmungen und ex libriskarten an informationen befördern können!