
Es war ein Mann im Lande Schweiz, mit Namen Ajchenrand. So sollte ein Beitrag über einen modernen Hiob beginnen. Und Lajser Ajchenrand, der jiddische Dichter, der alles durch den Nazi-Terror verloren hatte, ist tatsächlich ein Hiob. Nicht nur, weil er alles verlor, sondern auch, weil seine Dichtung ein ständiger Streit mit Gott war. Ein oxymoronischer, “einseitiger Dialog”, bei dem einer spricht und der andere nicht hört.

Ajchenrands Biografie ist wie seine Poesie: sie fasst das Schicksal eines ganzen Volkes zusammen und bleibt doch einzigartig und individuell. Er wurde 1911 oder 19121 im damaligen russischen Demblin in eine arme Familie hineingeboren. Sein Vater war Melamed (Religionslehrer), die Mutter eine einfache Hausfrau. Er hatte keine formale Ausbildung und schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch, um die Familie zu unterstützen. Mit 15 Jahren versuchte er sein Glück in Warschau und begann dort während seiner Lehre als Schneider, jiddische Gedichte zu schreiben. Im Jahr 1934 gelang es ihm, sein erstes Gedicht in der Warschauer jiddischen Zeitung ליטערארישע וואכנשריפט [Literarische Wochenschrift] zu veröffentlichen:
Wenn letzter Gassnlamtern derbrennt,
Tog zehenkt sich iber Gassn un Hoifn,
nehm ich meine hugerike Hend
un trug sei zum Verkoifn
Dieses Gedicht “Hend zum verkoifn” (Hände zum Verkaufen) zeigt bereits Ajchenrands Genie, das Einfache und Alltägliche auf die höchste Stufe der Spiritualität zu heben. Es zeigt auch, wie Ajchenrand seine Poesie einsetzt, um Licht auf die Elenden und Ausgestossenen der Gesellschaft zu werfen; Poesie nicht zum Erheben, sondern zum Trösten und Erbarmen.

Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs beschloss er, seinem Bruder nach Paris zu folgen, wo er sich der Fremdenlegion anschloss. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, wurde er aus unbekannten Gründen entlassen und flüchtete in das “freie Gebiet” (Vichy). Dort wurde er verhaftet und in ein Konzentrationslager geschickt. Wie der Rest seiner Familie sollte er in die Gaskammern geschickt werden, aber im Gegensatz zu ihnen gelang ihm die Flucht in die Schweiz. Seine Erlebnisse in den Konzentrationslagern und das Schicksal seiner Familie und seines Volkes sollten seine Poesie beherrschen. Er wurde zum Propheten ohne Volk. Ein verspäteter Prophet, der die Menschen vor dem erschreckte, was bereits geschehen war.

Und so erschien 1942 in der Schweiz ein seltsamer Vogel: ein Dichter, der keine erbaulichen Gedichte schrieb, sondern nur traurige und düstere. Ein gläubiger Dichter, der seinen Gott verloren hatte und dessen Gedichte fast alle seine Leser/innen nur in der Übersetzung lesen konnten. Dieser Vogel weigerte sich jedoch, mit dem Singen aufzuhören. Seine erste Buchveröffentlichung erschien 1945 im Zürcher Carl Posen Verlag. Der Gedichtband mit dem Titel “Wir verstummen nicht” war ein Gemeinschaftswerk mit zwei anderen Exilanten: Jo Mihaly und Stephan Hermlin. Ajchenrand war der einzige, dessen Gedichte nicht auf Deutsch, sondern auf Jiddisch mit lateinischen Buchstaben gedruckt wurden.

Wie das Schweizerdeutsche ist der Grundton des Jiddischen der des Mitteldeutschen, was Ajchenrand wahrscheinlich half, das Schweizer Publikum zu erreichen. 1946 wurde sein Gedicht “Meine Mutter” im Feuilleton der NZZ in einer zweisprachigen Form mit jiddischer und deutscher Übersetzung veröffentlicht. Das Gedicht beginnt mit der Widmung: “Allen vergasten Müttern”. 1947 wurde sein erstes Buch “Hörst du nicht” im Zürcher Carl Posen Verlag ebenfalls in beiden Sprachen gedruckt.

Ajchenrand hatte immer darauf bestanden, neben der deutschen Übersetzung auch das jiddische Original zu bringen: “Im Deutschen wird alles härter; ein jiddisches Gedicht zu verdeutschen heisst dann immer gleich: es verhärten.”2 Für Ajchenrand bedeutet dies jedoch nicht, dass die beiden Sprachen nicht nebeneinander existieren können: “Jemand sagte, dass trotz der Verwandtschaft beider Sprachen die jiddische Poesie nicht zur Deutschen gehöre. Wir aber sangen: Die Sprache des Dichters erhebt sich über alle nationalen und sprachlichen Grenzen – wie der lebendig schwingende Rhythmus des ewigen Alls.” Die Übersetzung ins Deutsche würde ihm helfen, das deutsche Volk zu erreichen, an das seine Gedichte auch gerichtet waren:
און גיב גאט…
אז ווען אונדזערע מערדער
וועלן אין זיך אריינקוקן
זאל זיי אנכאפן א גרויל
.פון זיך אליין
…und gebe Gott:
wenn unsere Mörder
in sich hineinsehen,
soll es ihnen vor sich selber
grauen.
Welchen Eindruck Ajchenrand auf die Schweizer Bevölkerung und die Schweizer Kulturkreise machte, zeigt ein offener Brief an ihn, den der berühmte Schriftsteller Hermann Hesse am 8. November 1947 in der NZZ veröffentlicht hatte. Der Brief war ursprünglich an Ajchenrand selbst gerichtet, aber Hesse beschloss, ihn zu veröffentlichen, um Ajchenrand bei seinen Schwierigkeiten mit der Schweizer Fremdenpolizei zu helfen, aber auch um sich durch Ajchenrand an alle leidenden Juden zu wenden:
Sie wissen schon, daß ich von Ihren jiddischen Gedichten einen starken und schönen Eindruck habe. lch habe sie längst nicht alle gelesen, aber die, die ich lesen konnte, haben zu mir gesprochen. Wir Dichter haben, unter andrem, die Aufgabe, das von den Menschen unserer Zeit Erlittene auszusprechen, und das können wir nur, wenn wir es nicht vom Hörensagen, sondern aus eigenem Erleiden kennen. Ob das Aussprechen nun auf pathetische oder sentimentale, auf klagende oder auf witzige oder auf anklägerische Art geschient, es ist auf jeden Fall notwendig, und muß der Menschheit auf ihren unbeholfenen Kinderschritten der Entwicklung ein wenig helfen. Die heutige Größe des Leides gibt uns eine Solidarität, die alle Völker und alle Arten von Dasein und Leiden umfaßt. Das Unerträgliche muß zu Wort kommen, um vielleicht überstanden zu werden. Darin sind wir Brüder.

Ajchenrand war in seinem ganzen Wesen ein Dichter und so kamen auch beim Schreiben eines Briefes oder einer Widmung seine poetischen Fähigkeiten zum Tragen. In unserer Bibliothek und in einigen Antiquariaten in der Schweiz sind ein Paar dieser Gedichtwidmungen aufgetaucht. Diese sind manchmal so schön und poetisch, dass sie selbst in einen Gedichtband passen könnten. Aus diesen Widmungen haben wir zwei sehr schöne ausgewählt und stellen sie Ihnen hier vor:

Die erste Widmung findet sich in unserer Bibliothek in Ajchenrands erstem Gedichtband “Hörst du Nicht“, der 1947 in Zürich im Carl Posen Verlag erschien. Die Widmung ist an eine unbekannte Person gerichtet, die Ajchenrand als “die gute Mirjam” bezeichnet, und ist auf Dezember 1946 datiert:
טיף אויס דעם לייד געהויבן
ברענט יעדעס ווארט ווי איין פאקעל
איינגעקרעצט אין אונזער שטערן דער גלויבן
!און צו טויזענזער יאר אויף גאלעס שוועל
tif oys dem leyd gehoybn
brent yedes vart vi eyn fakel
eyngekretst in unzer shtern der gloybn
un tsu toyzenzer yar oyf gales shvel!
Und wenn wir es wortwörtlich ins Deutsche übersetzen wollen:
Tief aus dem Leid gehoben
brennt jedes Wort wie eine Fackel
eingeritzt in unsere Stirn der Glaube,
zu tausend Jahren auf Exils Schwelle!

Die zweite Widmung finden wir in Ajchenrands Buch ממעמקים [Mi’ma’amakim] (Aus der Tiefe). Es wurde 1953 im di goldene Pave Verlag in Paris gedruckt und war das erste Buch von Ajchenrand, das in jiddischer Schrift veröffentlicht wurde. Die ebenfalls auf Jiddisch verfasste Widmung ist für Ajchenrands gute Freundin und Dichterin Jo Mihaly (1902-1989). Mihaly war eine der beiden Dichter, die ihre Gedichte zusammen mit Ajchenrand in dem 1945 in Zürich erschienenen Buch “Wir verstummen nicht” veröffentlichten. In diesem Buch hatte Ajchenrand ihr bereits ein Gedicht gewidmet, aber für die Widmung in unserem Buch, die acht Jahre später entstand, hatte Ajchenrand ihr ein ganz anderes Gedicht geschrieben, das nie veröffentlicht wurde.

פאר יא מיהאלי
איך ווייס, מיר טרעפן זיך תמיד אין שווייגן
,ווו עס איז מער ני דא קיין אנהייב און קיין סוף
ווו דער פרולינג פון אונזערע בליקן וונשט זיך אויף שווייגן
און לעשט זיך מער ניט אויס אין וואך זיין אור אין שלאף
וווי מיר צינדן אן ס’גזאנג דאס פארלאשענער פון שטערן
;און זאמלען איין דער שטויב פון פארשוויגענעם דור
און זעען ווו גאט שפיגלט זיך זיין פארגעסענע טרענן
.און בעהעלט מיט זין שטיל זיין אייביק-ערשטן קאיאר
וווי מלאכים זוכן דורך אונדז דער וועג צום לעבן
?און פרעגן בלויזיך, וואס איז נעכטן, וואס איז היינט
און ווייסן ניט אז ער האט אין טונקעלער רגע געגעבן
.די שטילע אייביקייט וואס אטמעט צווישן פריינד
Far Jo Mihaly
Ikh veys, mir trefn zikh Tamid in shveygn
vu es iz mer nit da keyn Anheyb un keyn Sof
vu der Fruling fun unzere Blikn vunsht zikh oyf shveygn
un lesht zikh mer nit oys in Vakh zeyn ur in Shlaf.
vi mir tsindn an s’gzang das Farlashener fun Shtern
un zamlen eyn der Shtoyb fun farshvigenem Dor;
un zeen vu Gat shpiglt zikh zeyn fargesene trenn
un behelt mit zin Shtil zeyn eybik-ershtn Kaiar.
vi Malakhim zukhn durkh undz der Veg tsum Lebn
un fregn bloyzikh, vas iz Nekhtn, vas iz Heynt?
un veysn nit az er hat in tunkeler Rega gegebn
di shtile Eybikeyt vas atmet tsvishn Freynd.
Und auf Deutsch:
Für Jo Mihaly
Ich weiss, wir treffen uns immer schweigend,
wo es keinen Anfang und kein Ende gab
Wo der Frühling unserer Augen will schweigen
und verbringt seine Tage nicht mehr im Schlaf
Wo wir mit einem Gesang das Verblassen der Sterne erleuchten
und den Staub einer verschwiegenen Generation sammeln
Und sieh, wo Gott seine vergessenen Tränen spiegelt
und in seiner Stille sein ewiges erstes Abendrot behält
Wo Engel durch uns den Weg zum Leben suchen
Und frag nur, was war gestern, was ist heute?
Und weiss nicht, dass er in der dunklen Sekunde gab
die stille Ewigkeit, die zwischen Freunden atmet.

Haben Sie auch eine Widmung von Ajchenrand in einem Ihrer Bücher? Wir würden uns freuen, wenn Sie sie mit uns teilen.3
Oded Fluss. Zürich, 26.1.2023