Die Reichspogromnacht in den Schweizer Medien.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 kam es in Deutschland zu einem der grausamsten und schrecklichsten Ausbrüche von Hass und Antisemitismus gegen die deutschen Juden. In einer scheinbar spontanen, aber von den Führern des NS-Regimes, allen voran Joseph Goebbels, wohl geplanten Aktion kam es zu einem flächendeckenden Angriff auf jüdische Menschen, Einrichtungen, Geschäfte, Friedhöfe und vor allem Synagogen. Die deutschen Juden mussten hilflos mit ansehen, wie ihre Mitmenschen ermordet und angegriffen und ihre Häuser und Geschäfte geplündert und niedergebrannt wurden, weil Polizei und Feuerwehr angewiesen waren, ihnen nicht zu helfen.

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Die brennende Synagoge in Siegen während der ‘Reichspogromnacht 10.11.1938

Der Hauptvorwand der Nazis für diese Angriffe war das Attentat auf den deutschen Nazi-Diplomaten Ernst vom Rath am 7. November 1938 in Paris durch den polnischen Juden Herschel Grynszpan als Vergeltung für die Deportation seiner ganzen Familie im Rahmen der Polenaktion. Joseph Goebbels nutzte die Propagandamaschinerie der Nazis, um es so aussehen zu lassen, als sei das Attentat im Namen aller Juden als Angriff auf Deutschland geplant gewesen. Raths Tod wenige Tage später war das Signal für die Nazimassen, den grausamen Angriff auf ganz Deutschland zu beginnen.

Die Pogrome gegen die Juden wurden von den Medien weltweit fast einhellig verurteilt. In diesem Artikel geben wir einen Überblick über die Reaktionen und die Berichterstattung der Schweizer Medien – sowohl der allgemeinen als auch der jüdischen – über diese Nacht und die folgenden Tage.

In der Morgenausgabe der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) vom 9. November findet sich ein erster Hinweis auf die Ereignisse in Deutschland, allerdings unter dem Thema des Attentats an Ernst vom Rath. Interessanterweise beziehen sich die Schweizer Medien auch auf ein anderes Attentat, das vor etwas mehr als drei Jahren in Davos von David Frankfurter verübt wurde, der den Landesgruppenleiter Wilhelm Gustloff ermordete (Mehr dazu in einem unserer früheren Beiträge: https://breslauersammlung.com/2022/09/01/david-frankfurter/). Unter dem Untertitel Vergeltungsmaßnahmen gegen die deutschen Juden erwähnt der Artikel die Sofortmassnahmen gegen die Juden, wie das Verbot jüdischer Zeitungen und den Ausschluss jüdischer Schüler von nicht-jüdischen deutschen Schulen.

Am gleichen Tag berichtet das Oberländer Tagblatt in Thun über “antisemitische Exzesse in Deutschland”. Neben der Warnung vor den Folgen des Pariser Attentats für die deutschen Juden wird auch von der Aufforderung des deutschen Polizeipräsidenten an die Juden berichtet, alle in ihrem Besitz befindlichen Waffen abzugeben.

Am nächsten Tag, dem 10. November, berichtet die NZZ über die Panik, die sich in deutschen jüdischen Gemeinden ausbreitet. Unter der Überschrift Die Lage der Juden in Berlin berichtet der Artikel von zahlreichen Juden, die nach dem Attentat auf Ernst vom Rath und den harten Massnahmen des deutschen Regimes zur Bestrafung der deutschen Juden aus Deutschland zu fliehen versuchen. Unter dem Untertitel Judenfeindliche Ausschreitungen berichtet die NZZ von ersten Ausschreitungen gegen Juden in Berlin, bei denen vor allem jüdische Geschäfte beschädigt werden. Aus München wird bereits vom Brand einer Synagoge und aus Dessau von “spontanen Demonstrationen” gegen Juden berichtet, die von der Polizei geschützt werden.

In einer späteren Ausgabe der NZZ wird unter der Überschrift Vergeltungsaktion gegen die deutschen Juden und dem Untertitel Eine Schreckensnacht in Berlin über die Zerstörung und Plünderung jüdischer Geschäfte und die Inbrandsetzung mehrerer Synagogen berichtet, wobei die Konstanzer Synagoge im Mittelpunkt steht.

Die Konstanzer Synagoge vor und nach dem Brand.

Am 11. November erreichten die ersten Nachrichten über das Ausmass der Schrecken der vergangenen Nacht die Schweiz. Unter dem Titel Die Aktion gegen die Juden in Deutschland berichtet die NZZ über die Gräueltaten dieser Nacht. Die meisten Einzelheiten betreffen die Zerstörung und Plünderung jüdischen Eigentums und jüdischer Geschäfte, aber auch die Evakuierung der Juden aus ihren Häusern durch die Nazis, die Untätigkeit von Polizei und Feuerwehr und die Gleichgültigkeit der deutschen Mitbürger gegenüber diesen Ereignissen. Wir hören auch, dass fast alle Synagogen in Deutschland niedergebrannt wurden.

Die NZZ bringt eine Falschmeldung über die jüdischen Besitzer des Bekleidungsunternehmens Bamberger & Hertz in Leipzig, die die Situation in Deutschland ausnutzen wollten, um die Versicherung zu betrügen und ihr eigenes Geschäft niederzubrennen. Dies wurde später als Propagandalüge der Nazis entlarvt. Die Firmeninhaber wurden im KZ Riga-Kaiserwald und im KZ Theresienstadt ermordet.

Ebenfalls am 11. November findet sich in der Berner Tagwacht ein Bericht mit dem Titel Judenpogrome in Deutschland. Neben dem, was wir schon in der NZZ gelesen haben ( hier allerdings ausführlicher), lesen wir auch über die Nazi-Gesänge “Jude verrecke” und “Tod den Juden”, die die Pogrome begleiteten. Wir lesen auch über den jüdischen Bankier Emil Krämer, der nach der Zerstörung seiner Bank und seines Hauses zusammen mit seiner Frau Selbstmord beging.

Die Tagwacht bringt auch die Rede von Joseph Goebbels, in der er alle Gewalt und Misshandlung der Juden rechtfertigt und weitere gesetzliche Massnahmen gegen sie verspricht. Wir hören auch vom Protest des Jüdischen Weltkongresses in Genf, der die Ermordung vom Raths verurteilt, aber die Nazis als die Schuldigen für das, was dazu geführt hat und für das, was noch folgen wird, sieht.

Nun zu den jüdischen Medien in der Schweiz: Die beiden grössten und meistgelesenen jüdischen Zeitungen in der Schweiz waren damals die Jüdische Pressezentrale Zürich und das Israelitische Wochenblatt, die keine Tages-, sondern Wochenzeitungen waren. Der 11. November, als die meisten Schweizer Zeitungen bereits auf dem neuesten Stand waren, war für beide die erste Gelegenheit, ihre Lesenden über die Situation der deutschen Juden zu informieren. Überraschenderweise beginnen beide Zeitungen nicht auf der ersten Seite mit den Nachrichten aus Deutschland. Die Jüdische Pressezentrale bringt sie auf der zweiten Seite, das Israelitische Wochenblatt auf der fünften. Beide Zeitungen konzentrieren sich mehr auf das Attentat in Paris, das nun fast schon eine Woche zurückliegt, als auf die Situation der deutschen Juden.

Unter dem Titel Das Attentat in Paris bringt das Israelitische Wochenblatt vom 11. November 1938 zunächst die Geschichte des Attentäters Herschel Grynszpan. Obwohl die Zeitung den Mord verurteilt, berichtet sie im Gegensatz zu anderen überlieferten Zeitungen voller Empathie die ganze Geschichte Grynszpans und seiner Familie. Sie geht sogar so weit, den Brief der Familie Grynszpan zu zitieren, in dem sie die tragische Geschichte ihrer Vertreibung aus Deutschland erzählt.

Über die Situation der deutschen Juden nach dem Attentat macht die Zeitung keine Angaben, aber sie weiss, dass die Nazis das Attentat sicher zu ihrem Vorteil ausnutzen werden und dass alles, was danach mit den deutschen Juden geschieht, bereits gut geplant ist.

Auch die Pressezentrale vom 11. November geht nicht näher auf die Ereignisse in Deutschland ein. Sie verurteilt das Attentat von Grynszpan und betont dessen Sinnlosigkeit. Vor allem aber versucht sie, den Schweizer Juden Worte des Trostes und der Ermutigung zu vermitteln und dem jüdischen Schicksal durch die Hilfe der Mitjuden einen Sinn zu geben.

Eine Woche später ist alles anders. Beide Zeitungen veröffentlichen auf ihren Titelseiten einen Aufruf zu einem allgemeinen Fasttag nach den Gräueltaten an den deutschen Juden. Der Aufruf ist von allen Rabbinern der Schweiz unterzeichnet.

Unter der Überschrift Unsagbares ist geschehen berichtet das Israelitische Wochenblatt am 18. November auf der Titelseite von den tragischen und schrecklichen Ereignissen der Nacht des 9. November. Der Schock über das Grauen zieht sich durch den ganzen Artikel. Es scheint, als hätten selbst die grössten Pessimisten nicht geglaubt, dass ein Pogrom diesesn Ausmasses und dieser Grausamkeit stattfinden könnte. Die Geschichten werden sehr persönlich und einfühlsam erzählt, und ein Aufruf zum Handeln, zum Helfen – auch wenn man nicht weiss wie – beherrscht die Zeilen.

Die Ereignisse der Nacht werden nun in ihrer Gesamtheit dargestellt, jede Stunde des Geschehens wird gezählt. Die Geschichte der Opfer, derer, die körperlich verletzt oder ermordet wurden, und derer, die alles verloren und in Konzentrationslager deportiert wurden, wird sehr detailliert erzählt. Auch die Verantwortung der NS-Führung wird nicht ausgespart. Die beispiellosen Proteste aus aller Welt werden ebenfalls dargestellt.

Eine andere Haltung nimmt die Pressezentrale vom 18. November ein. Im Hauptartikel Das deutsche Judentum rechtlos und wehrlos geht sie auf die innen- und weltpolitischen Folgen der Ereignisse in Deutschland ein. Der Autor, der Jurist Dr. O. Z., befasst sich mit den historischen und finanziellen Auswirkungen des Ereignisses ein und stellt die Neutralität der Schweiz in Frage.

Breiten Raum nimmt auch die Berichterstattung über die Reaktionen auf das Pogrom in der Welt ein, sowohl von Prominenten als auch von offiziellen Stellen der Länder. Zwei Seiten mit dem Titel Zeugen einer vergangenen Epoche zeigen zahlreiche Bilder von Synagogen, die während des Pogroms zerstört wurden.

In einem Beitrag, den wir vor einigen Jahren geschrieben haben, konnten Sie die Auswirkungen des Novemberpogroms von 1938 auf das Rabbinerseminar in Breslau sehen, aus dessen Bibliothek eine Sammlung von Büchern erhalten geblieben ist, die wir in unserer Bibliothek aufbewahren: https://breslauersammlung.com/2021/11/03/zum-gedenken-an-das-novemberpogrom-1938/

Oded Fluss. Zürich , 9.11.2023