Lobagola: Die verzwickte Geschichte eines jüdischen afrikanischen “Wilden”.

Bata Kindai Amgoza Ibn Lobagola ca. 1911

Anfang der 1930er Jahre ging eine Sensation durch die jüdische Welt. Eine Autobiografie, die zunächst auf Englisch erschien und kurz darauf ins Deutsche übersetzt wurde, avancierte schnell zum Bestseller. Der Titel des Buches: Lobagola. Der Untertitel: Die Geschichte eines afrikanischen Wilden, seine Erlebnisse in den Urwäldern Afrikas, seine Kämpfe mit Leoparden, Affen, Schlangen und weißen Menschen.
Doch das Erstaunlichste sollte noch folgen:

Dies ist die Autobiographie von Bata Kindai Amgoza Ibn Lobagola, einem schwarzen Juden, einem Nachkommen der verlorenen Stämme Israels, einem Wilden, der aus dem afrikanischen Busch in die Länder moderner Zivilisation kam und sich seitdem als Fremdling erkannte, fremd unter seinem eigenem Volk und fremd in der Welt des Zwanzigsten Jahrhunderts
Lobagola : die Geschichte eines afrikanischen Wilden, seine Erlebnisse in den Urwäldern Afrikas, seine Kämpfe mit Leoparden, Affen, Schlangen und weissen Menschen : [von ihm selbst erzählt]. Hagenberg Verlag. Wien, [ca. 1934]. D 1733.

In seinen eigenen Worten und mit vielen Details erzählt Lobagola die erstaunliche Geschichte seiner Kindheit. Geboren wurde er im Dorf Nodaghusa im Ondo-Busch im französisch kolonisierten Sudan, drei Tagesmärsche von Timbukto entfernt. Die Häuser waren aus Bambus gebaut und mit Kokosfasern gedeckt. Das Wetter war extrem, manchmal bis zu 55 Grad im Schatten. Zwischen Juni und August konnte es sechs Tage lang ununterbrochen regnen. Die unmittelbaren Feinde der Dorfbewohner waren Elefanten, Reptilien, Löwen, vor allem aber die Affen:

Die großen Affen sind die geschworenen Feinde der Menschen. Oft überfallen sie die Gemeinden und richten großen Schaden an. Wenn es den Affen gelingt, in ein Dorf einzudringen, so zerstören sie es, und wir müssen ein neues aufrichten. Sie ziehen in Herden oder Stämmen von drei- bis vierhundert einher. Kommen sie in eine Einzäunung, so reißen sie die Pfähle heraus, auf denen das Haus steht und zerstören alles, was ihnen in die Hände kommt. Erwischen sie ein menschliches Wesen, so reißen sie es in Stücke, nicht weil sie es fressen wollen, sondern weil Zerstören und Töten ihnen Vergnügen macht.

Lobagola weiss auch viel über seine jüdische Herkunft zu erzählen. Er stammt aus einem Volk, das sich selbst “Bnei Ephraim” nennt, einer der zehn verlorenen Stämme Israels. Sie brachten die Tora nach Afrika, nachdem sie vor mehr als 1800 Jahren aus dem Heiligen Land vertrieben worden waren. Ihre Tora ist in aramäischer Sprache geschrieben und nicht mit Tinte, sondern mit glühendem Eisen auf Pergament gebrannt. Deshalb kann keine Buchseite verändert werden. Sie kennen nur die Tora, nicht den Talmud. Ihre Zahl beläuft sich auf etwa 2000 Personen, die von sieben Rabbinern angeführt werden, die ihren Titel innerhalb der Familie weitergeben; niemand kann zum Rabbiner gemacht werden, man muss als Rabbiner geboren werden. Über die Feiertage und Rituale schreibt er:

Unsere Feste sind: Pessach, Schewuoth, Rosch-Haschanah, Yom Kippur und Sukkoth. Wir brauchen keine Speisegesetze, da wir niemals Fleisch essen und nie Milch trinken. Es gibt für uns nicht das Problem des Mischens von Milch und Fleisch. Wir essen Fleisch nur während des Pessach-Opfers, und auch da essen es nur die sieben Rabbiner und ihre Familien, nicht das Volk. Unser Volk beschneidet seine Knaben im Alter von acht Tagen, wobei es den Ritus nach dem Buchstaben ausführt.

Die Geschichte geht weiter und Lobagola erzählt, wie er fast zufällig aus dem wilden Afrika herauskam und schliesslich die ganze Welt bereiste, sie mit den Augen eines Wilden erlebte, aber es auch schaffte, die westliche Kultur zu lernen und sich ihr anzupassen. Sein Buch ist voll von unglaublichen Geschichten und Abenteuern, aber eine ist besonders interessant: Während des Ersten Weltkriegs hörte er von weissen Juden, die in der jüdischen Legion am Krieg teilnahmen. Er beschloss, sich ihnen anzuschliessen, und kämpfte Seite an Seite mit ihnen bei den britischen Bemühungen, Palästina vom Osmanischen Reich zu erobern. Er sollte der einzige Schwarze in der jüdischen Legion sein, und obwohl er nach dem Krieg in Palästina bleiben wollte, wurde ihm dies verwehrt.

Ich wünschte, in Palästina zu bleiben, aber der jüdische Oberst widersetzte sich dem und erklärte, ich sei ein Mensch von schlechtem Charakter. Da mein Leumundszeugnis seine Behauptung widerlegte, bestritt ich das in einem an das Generalhauptquartier gerichteten Protest. […] Aber letzten Endes erreichte dieser Oberst sein Ziel — wenigstens vorübergehend. (Ich erlebte es, ihn viel später in Palästina wieder zu treffen, wo er mir den Aufenthalt mit solcher Erbitterung streitig gemacht hatte.) Demzufolge wurde ich zur Demobilisierung nach England geschickt.
Wladimir Zeev Jabotinsky

Wie man sich vorstellen kann, wurden viele Augenbrauen hochgezogen, als die sensationelle Autobiographie von Lobagola veröffentlicht wurde. Sie war das Gesprächsthema des Tages, aber viele zweifelten an ihrer Authentizität. Der Kritiker der New York Times Robert L. Duffus war berühmt für seine Aussage: “Die einzige Möglichkeit, dass diese Geschichte wahr ist, ist, dass es unmöglich ist, eine so verrückte Geschichte zu erfinden”. Ein Teil der Geschichte wurde jedoch von einer überraschenden Quelle als wahr bestätigt. Der berühmte Zionist und Schriftsteller Wladimir Zeev Jabotinsky (1880-1940) war auch der Gründer der jüdischen Legion im Ersten Weltkrieg. In einem Artikel, der am 19.12.1930 in der jiddischen Zeitung Haynt unter dem Titel “Legionär Lobagola” erschien, berichtet er von seiner Begegnung mit dem afrikanischen Wilden während seiner Dienstzeit.

Lobanola ist eine wirkliche Gestalt von Fleisch und Blut; eine Menge seiner merkwürdigen Schilderungen wird man gewiss bezweifeln ein Abschnitt darin aber ist unantastbare Wahrheit und ich bin sein Zeuge: er ist der afrikanische Wilde Soldat in der jüdischen Legion gewesen und hat bei uns in Erez Israel gedient!
W. Jabotinsky – Legionär Lobagola. Haynt. Warschau, 19.12.1930

Obwohl Jabotinsky Lobagolas Geschichte als sehr einfühlsam empfand und sein Buch als “eines der stärkesten, wirkungsvollen, die ich in den letzten Jahren zu lesen Gelegenheit hatte” bezeichnete, zweifelte er auch an den meisten Aussagen, vor allem an Lobagolas jüdischer Herkunft. Er erzählt von einem Freund, der Lobagola ebenfalls kannte und zu ihm zu sagen wusste:

Er ist ein Jude, wie ich ein Toter bin. Und Westafrika hat er in seinem Leben nicht gesehen. Er hat euch alle zum Narren gehalten. Lobagola ist ein gewöhnlicher amerikanischer “Nigger”. einer jener unzähligen schwarzen Badchonim [Komiker], die in den unzähligen “Music-Halls” von America auftreten. Ich selbst sah ihn in einer Music-Hall irgendwo in Saint Louis und half ihm daraus einer Missverständnisaffäre mit der Polizei, ohne dass er davon Erwähnung tat , er halte sich für einen Juden.


Und tatsächlich: 1934, als er kurz vor der Deportation in seine “Heimat” stand, gestand Lobagola schliesslich die Wahrheit: in Wirklichkeit war er in Baltimore, USA, geboren. Sein richtiger Name war Joseph Howard Lee. Seine Herkunftsgeschichte und seine Religion waren erfunden. Sein Charisma und sein schauspielerisches Talent ermöglichten es ihm, fast jeden, den er traf, zum Narren zu halten. In den vier Jahren nach der Veröffentlichung seines Buches, das in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde, erschien er in unzähligen Zeitschriften und wurde sogar zu Vorträgen an Universitäten in der ganzen Welt eingeladen.

Norwegische Ausgabe des Buches

Über das Schicksal des Mannes, der sich Lobagola nannte, ist wenig bekannt. Nach seiner Enttarnung schien er von der Bildfläche verschwunden zu sein. Sein Buch, das aus dem Nichts auftauchte und die Welt im Sturm eroberte, verschwand noch schneller in der Versenkung. Seine sterblichen Überreste befinden sich heute in Parzelle 29 des Attica-Gefängnisses in New York, was darauf hindeutet, dass er dort als Gefangener starb.

Logabola signiert sein Buch in einer Schule in New York. ca. 1930.

Oded Fluss. Zürich. 25.10.2023

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4 Kommentare zu „Lobagola: Die verzwickte Geschichte eines jüdischen afrikanischen “Wilden”.

  1. Was für eine Geschichte! Sie erinnert an jene Geschichten, in denen Autorinnen und Autoren sich eine neue Biografie erschrieben haben. Eine Geschichte einer solchen – am Ende misslungenen – Erfindung stammt ja aus Zürich: Herr Bruno Doesegger erfindet sich neu als Benjamin Wilkomirski.

    1. In der Tat eine sehr verrückte Geschichte, vor allem wenn man bedenkt, wann sie veröffentlicht wurde. Heutzutage gibt es viele Fälle von Menschen, die vorgeben, Juden zu sein, aber in den 1930er Jahren war das aus gutem Grund nicht so üblich. Danke für deinen Kommentar, Michael!

      1. Die Geschichte hat eine Paralle in der Biographie von David Reubeni. Gibt es dazu Material in der Breslauer Bibliothek?

      2. Vielen Dank für Ihren Kommentar und Ihre Lektüre.
        In der Bibliothek haben wir einige Artikel in Büchern über David Reubeni und natürlich Max Brods Roman “Reubeni, Führer der Juden” sowie den biographischen Roman “Der Massias” von Marek Halter.

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