Rosinkes mit Mandlen – Jüdische Schlaflieder und Gedichte
Sie sind das Letzte, was wir vor dem Einschlafen hörten und der Hintergrundton unserer Kindheitsträume. Sie prägten unsere ersten Erinnerungen, manchmal sind ihre Worte und Melodien die ersten, die wir nachsprechen können. Wiegen- und Schlaflieder sind ein wichtiger Teil unserer Identität, der unserer Vorfahren und unserer Nachkommen, der persönlichen und der kollektiven Identität.
Das wohl bekannteste jüdische Wiegenlied ist Rosinkes mit Mandlen [Rosinen mit Mandeln].
Unter Yideles vigele, אונטער יידעלעס וויגעלע
Shteyt a klor-vays tsigele, שטייט א קלאר וייס ציגעלע
Dos tsigele iz geforn handlen – דאס ציגעלע איז געפארן האנדלען
Dos vet zayn dayn baruf: דאס וועט זיין דיין בארוף
Rozhinkes mit mandlen. ראזשינקעס מיט מאנדלען
Dieses jiddische Volkslied wurde erstmals 1880 von Abraham Goldfaden (1840-1908) in seinem berühmten Theaterstück Sulamith bearbeitet und auf die Bühne gebracht und seither in zahlreichen Fassungen und immer wieder neu komponiert. In ihrem Buch Memoiren einer Grossmutter erzählt Pauline Wengeroff (1833-1916), wie das Kindermädchen ihres Neffen dieses Lied sang:

Ein sehr schönes, naives Schlaflied schrieb die junge Mascha Kaléko (1907-1975) zur Geburt ihrer kleinen Schwester Rachel (Puttel genannt). Das Lied Einem Kinde im Dunkeln wurde 1933 in Kalékos ersten Gedichtband Das lyrische Stenogrammheft veröffentlicht. Es handelt von der Angst kleiner Kinder von der Dunkelheit und dem Alleinsein und einfachen, vertrauten Gegenständen wie Blumen, Bäumen und dem Mond.

Manchmal werden diese Lieder aber auch zu Gedichten und enthalten Botschaften und Moral, Humor und Kritik, während sie ihre “kindliche” Form und Sprache behalten. Wie in vielen anderen Fällen ist die Zielgruppe nicht das Kind, sondern die Eltern, die sie vorlesen. Statt Liedern, die die Kinder ins Bett bringen, sind es eigentlich Gedichte, die Themen behandeln, die den Eltern den Schlaf rauben. Jüdische Gedichte dieser Art haben oft traditionelle Themen, die sich auf die Bibel, aber auch auf aktuelle Ereignisse beziehen.

Schlaflied für Mirjam des Dichters und Schriftstellers Richard Beer-Hofmann (1866-1945) ist eines seiner bekanntesten und berühmtesten Gedichte. Er schrieb es 1897 zum Geburtstag seiner Tochter Mirjam und veröffentlichte es ein Jahr später, am 15. November 1898, erstmals in der Zeitschrift Pan. Es erlangte schnell Weltruhm wurde mehrfach komponiert und selbst Rainer Maria Rilke soll es auswendig gekannt haben.

Das Besondere an diesem Gedicht ist, dass es, obwohl es in Struktur und Sprache sehr einfach ist, sehr ernste Themen wie Tod und Gefahr vermittelt und voller Melancholie ist. Das Kind soll das Gedicht nur in seiner Melodie, in seinem “Schall” erleben: “Schlaf mein Kind – und horch nicht auf mich!/ Sinn hat’s für mich nur, und Schall ist’s für dich!”. Es soll die Worte, den Sinn des Gedichts noch nicht verstehen, und darin liegt auch der Trost.

Ein weiteres interessantes jüdisches Gedicht dieser Art ist Ruths Schlaflied von Fritz Rosenthal, bei uns besser bekannt unter dem Namen Schalom Ben-Chorin (1913-1999). Das Gedicht erschien erstmals 1935 in Ben-Chorins erstem Gedichtband Das Mal der Sendung, einem für die damalige Zeit bahnbrechenden Buch, das jüdische Geschichte, Sagen und aktuelle Ereignisse in poetischer Form miteinander verband. In einer für die deutschen Juden sehr sorgenvollen Zeit sollte es Hoffnung und Trost spenden und zum Handeln aufrufen.

Das Gedicht basiert auf dem biblischen Buch Ruth, wie man an den Namen der Personen leicht erkennen kann. Die Mutter Ruth singt dieses Lied für ihren Sohn Owed, der der Überlieferung nach der Grossvater des Königs David sein soll. Das Landschaftsbild sind die Jehuda-Berge und die Motive sind, wie im Buch Ruth, die Natur, die Ernte und die offenen Felder. Der “Meschiach”, der im letzten Vers erscheint, ist sowohl König David als auch das Ideal der zionistischen Bewegung, die ihr Erlösung im verheissenen Land finden will.

In ihrem kurzen Leben von 18 Jahren schrieb Selma Me(e)rbaum-Eisinger (1924-1942) 52 Gedichte in ein Album, das nach ihrem tragischen Tod entdeckt wurde. Von diesen 52 Gedichten tragen fünf den Titel Schlaf- oder Wiegenlieder. Meerbaum-Eisinger wurde in Czernowitz als Tochter einer deutschsprachigen Familie geboren. Schon in jungen Jahren begann sie Gedichte zu schreiben, die sie meist ihrem Geliebten Leiser Fichman widmete. Sie sind von unvergleichlicher Authentizität und poetischer Kraft und beschreiben ihre Träume und ihren Schmerz. Selma überlebte das Czernowitzer Ghetto, aber nicht den Holocaust. Sie starb 1942 im Alter von 18 Jahren im Konzentrationslager Michailowka an Typhus.

Glücklicherweise hat ihr Gedichtalbum Blütenlese überlebt, aus dem wir das Gedicht Schlaflied zitieren, das sie im Januar 1941 schrieb, kurz vor ihrer Deportation und ihrem frühen Tod. Das Gedicht zeigt die grosse Originalität ihres Werkes, die Schönheit und die verborgene Düsternis wenn der Schlaf dem Erwachen vorgezogen wird. In all ihren Schlafliedern versuchte Meerbaum-Eisinger nicht nur den kleinen Kindern, sondern auch den grossen Kinder (wie ihr selbst) Trost und Einfühlungsvermögen zu vermitteln. So heisst es in einem von ihr aus dem Jiddischen übersetzten Gedicht von H. Lejwik: “Kleine Kinder schlafen schon,/ große muss man wiegen”.

Das nächste Gedicht, Schlaflied für ein Emigrantenkind, erschien am 4. Januar 1940 in der deutschsprachigen Exilzeitung Aufbau in New York. Der Autor ist Günther (Stern) Anders (1902-1992), Philosoph, Dichter und erster Ehemann von Hannah Arendt. In diesem Gedicht ist bereits eine direkte kritische Auseinandersetzung mit dem damals aktuellen Thema Exil und Emigration zu erkennen. Die sich wiederholende erste Zeile jeder Strophe: “Schlaf, mein gutes Kind”, die an ein gewöhnliches Schlaflied erinnert, löst beim Lesen des restlichen Verses Befremden aus, denn es geht um Entwurzelung, um den Verlust des Vaters und vor allem um die Endlosigkeit dieser Situation, da das Kind selbst zum Vater wird.

Einen ähnlich kritischen Ton, nun aber wie an das Kind selbst gerichtet, finden wir in dem Gedicht Schlaflied des Exildichters Hans (Salomon) Sahl (1902-1993), das erstmals 1942 in seinem Gedichtband Die hellen Nächte in New York erschien. Dieses sehr kurze Gedicht wirkt fast grausam, da es das weinende Kind als jemanden anspricht, der lernen sollte, schnell erwachsen zu werden. Es ist natürlich mehr eine Kritik an der Zeit, die dies von dem Kind verlangt, als an dem Kind selbst.

Um den Kreis zu schliessen, bringen wir das Gedicht Schlaflied für eine deutsche Mutter des Schriftstellers, Journalisten und Publizisten Friedrich Torberg (1908-1979), das 1. Juni 1945 kurz nach Kriegsende in der Exilzeitung Aufbau erschien. Torberg zitiert eine deutsche Mutter (aus dem Time Magazine, April 1945), die erleichtert ist, als ihr Sohn in amerikanische Gefangenschaft gerät und sagt, dass sie nun “wieder ruhig schlafen” kann. Indem er die deutsche Mutter als Objekt benutzt, kritisiert er in diesem Gedicht das ganze deutsche Volk, das selbst während der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten nachts ruhig schlafen konnte.
Oded Fluss. Zürich, 12.10.2023