Rabbi Amnon und das U-netane Tokef

…Hier aber, in der Synagoge, wird mit zerknirschtem Herzen unter Tränen der so bedeutungsvolle Unessane Taukef keduschas hajom gelesen. Die Engel zittern und rufen: „Das ist der Tag des Gerichts!” Die große Posaune wird geblasen. Und es wird bestimmt, wer im künftigen Jahr leben soll oder eines natürlichen Todes sterben oder meuchlings umkommen, wer verarmen oder reich, erhöht oder erniedrigt werden soll. Aber Reue, Gebet und Wohltaten befreien von bösen Geschicken.
(Aus Pauline Wengeroff – Memoiren einer Großmutter. Berlin, 1908)
U-netane Tokef aus Machzor le-Kol ha-Schana. Amsterdam, 1670. BH 1496.

Eines der bekanntesten und hoch beachteten Pijutim für Rosch ha-Schana und Jom Kippur ist U-netane Tokef. Dieses Pijut aus dem Genre des Siluk (aramäisch für Erhebung) wird von vielen als der Höhepunkt der Rosch ha-Schana Gebete in der Synagoge angesehen und hat einen wichtigen Platz in der jüdischen Tradition und Kultur eingenommen.

Israelitische Gebetordnung. Gottesdienst für Busstage, Neujahrsfest und Versöhnungstag. Stuttgart, 1878.

Auf sehr schöne, anschauliche und erschreckende Weise beschreibt dieses Pijut die Zeit der Jamim Noraim (die Zeit zwischen Rosch ha-Schana und Jom Kippur) als Zeit des Gerichts, und die Rolle Gottes als Richter in dieser Zeit. Es enthält viele bekannte Motive und Ideen, wie z.B. Gott auf seinem Thron sitzend, während er die Seelen seiner Geschöpfe prüft und ihnen ihr Urteil in sein Buch schreibt. Berühmt sind die erschreckenden Zeilen über die möglichen Arten des Todes: “Wer durch Feuer und wer durch Wasser, wer durch Krieg und wer durch Hungernot, wer durch Gewitter und wer durch Pest umkommen soll”. Ein etwas aktuelles Beispiel für den grossen Einfluss dieser Zeilen ist ihre Inspiration für das Lied “Who by fire” von Leonard Cohen.

Im Gegensatz zu anderen Pijutim der Jamim Noraim gibt es hier einen Schrei zu Gott, der sich nicht nur auf das israelitische Volk beschränkt, sondern universell ist und alles Leid beschreibt, das die Menschheit insgesamt kennt. Es handelt vom allmächtigen Gott im Gegensatz zur Ohnmacht und Nichtigkeit des Menschen. Der Weg zur Verbesserung des Schicksals ist nicht nur Busse und Gebet, sondern auch Hilfe für Bedürftige durch Zedaka (Almosen).

“Aber – Busse, Gebet und Almosen wenden das Böse Verhängnis ab”

Über den drei hebräischen Wörtern: Tschuba (Busse), Tefilla (Gebet) und Zedaka (Almosen) stehen in kleiner Schrift die drei parallelen Worte: Tzom (Fasten), Kol (Stimme) und Mamon (Geld). Damit sollen die wirklich wichtigen Dinge im Leben gestärkt werden und nicht die Mittel, um sie zu erhalten.

Jitzchak ben Moshe – Sefer Or Zarua. Schytomyr, 1862.

Über die Entstehung und vor allem über den Verfasser dieses Pijuts ist im Laufe der Jahre viel diskutiert worden. Als Verfasser wurde lange Zeit Rabbi Amnon von Mainz angesehen, der heute eher als fiktive Figur gilt. Die Geschichte oder Legende vom Märtyrer Rabbi Amnon erscheint in vielen Machzorim kurz vor oder als Anmerkung zum U-netane Tokef. Die älteste bekannte Quelle ist das Sefer Or Zarua von Rabbi Jitzchak ben Mosche aus Wien, das Mitte des 13. Jahrhunderts geschrieben und erstmals 1862 in Schytomyr gedruckt wurde.

Shai Agnon – Jamim Noraim. Schocken Verlag. Berlin, 1938. H 368

Diese Geschichte wurde später von dem Nobelpreisträger Shai Agnon in seinem berühmten Buch ימים נוראים Jamim Noraim aufgegriffen (wir haben darüber bereits berichtet, siehe Beitrag: https://breslauersammlung.com/2022/08/29/jamim-noraim/ ). Auf Deutsch erschien es in Michah Josef Bin Gorions (Berdyczewski) Der Born Judas. Diese Übersetzung bieten wir hier an:

In der Stadt Mainz lebte ein Lehrer namens R. Amnon, der war von edler Abkunft und ein sehr schöner Mann, auch begütert und angesehen unter seinen Zeitgenossen. Diesen R. Amnon suchte nun der Kurführst von Mainz zu überreden, den Glauben seiner Väter aufzugeben. R. Amnon neigte diesen Worten sein Ohr nicht; man fuhr jedoch fort, täglich dieses Ansinnen an ihn zu stellen. Als er eines Tages besonderes bedrängt wurde, antwortete R. Amnon, er wolle mit sich zu Rate gehen und werde seinen Entschluss nach drei Tagen mitteilen. Wie er aber das Haus des Statthalters verlassen hatte, reute es ihn, das er solche Worte hatte aussprechen können, und er war bekümmert.
Porträt des Hauses von Rabbi Amnon in Mainz, wie es 1891 in den Sabbat-Stunden abgebildet war.

Nach drei Tagen liess der Kurführst R. Amnon rufen, er aber weigerte sich, zu ihm zu gehen. Da wurde er wider seinen Willen abgeführt, und der Kursführst redete mit ihm hart. R. Amnon sagte: Ich will mein Urteil selbst sprechen: mir möge meine Zunge herausgeschnitten werden, die eine Lüge gesprochen hat. Das sagte er, weil er den Namen des Herrn heiligen wollte. Der Kurführst aber sprach: Nicht die Zunge ist schuld, denn sie hat die Wahrheit gesprochen, sondern die Füsse, die hierher nicht gehen wollten. Ich will sie abhacken und den Leib züchtigen. Und er gab Befehl, die Finger der Hände und die Zehen der Füsse einzeln abzuhauen. Bei jeden Gliede aber, das abgeschnitten werden sollte, fragte man R. Amnon, ob er seinen Sinn nicht ändern wolle, und er antwortete: Das will ich nicht tun. Als das Werk verrichtet worden war, befahl der Kurführst, R. Amnon auf eine Bahre zu legen und ihn nach Hause zu tragen. Die abgeschnittenen Glieder legte man zu dem Körper. Nicht umsonst hiess der Märtyrer Amnon, denn er bekundete den Glauben an den lebendigen Gott


Kurz darauf wurde das Neujahrsfest gefeiert, und R. Amnon liess sich ins Bethaus tragen. Als das Gebet der Gottesheiligung gesprochen werden sollte, sagte der Dulder zu dem Vorbeter: Lass mich den Namen des Herrn heiligen. Und er rief mir lauter Stimme und sprach: Unsere Heiligung möge zu dir aufsteigen, denn du bist unser Gott, o König. Danach sang er die von ihm verfasste Hymne: Lasset uns reden von des Tages Macht, welcher furchtbar ist und voller Schauer! Wie er aber den Gesang vollendet hatte, verschied er und entschwand den Blicken, denn Gott hatte ihn hinweggenommen. Nach drei Tagen erschien der Heilige dem Sohne Mesulems, Kalonymos, im Traum der Nacht, lehrte ihn die Hymne und befahl ihm, diese überall, wo die Kinder Israel gestreut wohnten, bekanntzugeben.
Seit der Zeit ist es Brauch, diese Hymne am Neujahresfest in den Synagogen vorzutragen.

Die Geschichte von Rabbi Amnon gilt als Legende, hat aber die jüdische Kultur enorm inspiriert. Sie wird nicht nur in zahlreichen Machzorim erwähnt, sondern hat auch Schriftsteller und Dichter angeregt, und die Märtyrerfigur des Amnon taucht in vielen Erzählungen und Gedichten auf. Der bereits erwähnte Shai Agnon verwendete die Figur des Rabbi Amnon beispielsweise in seiner Erzählung Jatom ve-Almana (Waise und Witwe) und in seinem Roman Nur wie ein Gast zur Nacht.

Abraham M. Tendlau – Das Buch der Sagen und Legenden jüdischer Vorzeit. Stuttgart, 1842.

Bereits 20 Jahre vor dem Druck in hebräischer Sprache im oben erwähnten Sefer Or Zarua erschien eine deutsche Bearbeitung dieser Erzählung in Abraham M. Tendlaus (1802-1878) Das Buch der Sagen und Legenden jüdischer Vorzeit, das erstmals 1842 erschien. Das in unzähligen Auflagen gedruckte Buch sammelte vor allem Geschichten und Legenden aus dem Talmud und dem Midrasch, enthielt aber auch mittelalterliche und frühneuzeitliche Sagenstoffe.

Die Geschichte mit dem schlichten Titel “Amnon” wird hier in einer persönlicheren Weise erzählt, die sich auf die subjektiven Gedanken des Rabbi Amnon und seine Interaktion mit seiner Frau konzentriert.

Leopold Stein – Amnon – eine jüdische Legende. Ostrows, 1854. BH 3659.

In der Breslauer Sammlung befindet sich das Buch Amnon, der Marthyrer und Verfasser des Unsanne Tokef des Rabbiners und Dichters Leopold Stein (1810-1882). Dieses lange Epos, zweisprachig in Deutsch und Hebräisch verfasst, ist ein gutes Beispiel für die populäre Verarbeitung jüdischer Legenden in Gedichten in dieser Zeit. Wie die oben erwähnte Bearbeitung von Tendlau handelt es sich auch hier um eine frühe Darstellung der Geschichte in poetischem Stil, noch bevor sie Eingang in den religiösen Kanon fand.

Ein weiteres schönes Beispiel, das in vielen Anthologien und Zeitschriften des frühen 20. Jahrhunderts zu finden ist, ist Rabbi Amnon von Adolph Donath (1876-1937), ein Gedicht aus seinen frühen sogenannten “Judenliedern”, die zwischen 1896 und 1897 entstanden. Donath, ein berühmter Kunstkritiker, Dichter und Zionist seiner Zeit, fasst die Geschichte Amnons in einem Gedicht wunderbar zusammen. Darin enthalten sind auch die wichtigsten Motive des U-netane Tokef.

Allgemeinde Zeitung des Judenthums . Berlin. 6.9.1907. Z 302.

Wir schliessen mit einer schönen Kuriosität aus dem Archiv des Hebrew Union College, wo sich der Nachlass von Isaak (Itzik) Offenbach (1779-1850) befindet. Der Vater des grossen Komponisten Jacques Offenbach war ebenfalls Komponist und Kantor der jüdischen Gemeinde in Köln. In seinem Nachlass findet sich eine musikalische Komposition des U-netane Tokef Pijut, die in hebräischer Sprache, aber von links nach rechts geschrieben ist, um der Richtung der Noten zu entsprechen.

Oded Fluss, Zürich. 14.9.2023

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Ein Kommentar zu „Rabbi Amnon und das U-netane Tokef

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