Tischa beAw in der modernen Dichtung.

Jacob Steinhardt – Tischa be’Aw

Und es heißt, sie weinten wirklich
Einmal in dem Jahr, an jenem
Neunten Tag des Monats Ab–
Und mit thränend eignen Augen

Schaute ich die dicken Tropfen
Aus den großen Steinen sickern,
Und ich hörte weheklagen
Die gebrochnen Tempelsäulen. – –

Tischa be’Aw ist bekannt für seine zahlreichen Kinot – hebräische Klagelieder oder Elegien, die in den Synagogen gesungen werden und sich hauptsächlich mit der Zerstörung des ersten und zweiten Tempels in Jerusalem und anderen Tragödien der jüdischen Geschichte befassen. Einige von ihnen sind fast so alt wie die jüdische Geschichte selbst.

Bekhi Tamrurim – Seder Kinot ke-Minhag Ashkenaz. Metz, 1768. Breslauer Sammlung BH 131

Diese Kinot – die eine religiös-moralische Tendenz darstellen, die sich in der Regel im Sündenbekenntnis und in der Bitte um Gottes Vergebung äussert – sind bis heute von grossem Interesse für die jüdische Wissenschaft, und ihre Entstehung und Verwendung in den verschiedenen jüdischen Gemeinden war und ist Gegenstand zahlreicher Forschungen und Bücher.

Tischa Beab – Sefer Minhagim. Amsterdam, 1723.

Die besondere Präsenz von Tischa be’Aw im kollektiven jüdischen Gedächtnis hat aber auch zu einer anderen, moderneren Art des künstlerischen Ausdrucks geführt, die religiöse Grenzen überschreitet und eine eher säkulare Form annimmt. Diese konzentriert sich erstens hauptsächlich auf die Gegenwart statt auf die Vergangenheit und zweitens auf die persönliche Erfahrung des Einzelnen statt auf die kollektiven Erfahrung der Vielen. Politische Bestrebungen, wie der Zionismus, werden ebenfalls miteinbezogen. All dies geschieht unter Verwendung traditioneller Motive der Kinot, wie die Trauer über die Zerstörung der Tempel und die Sehnsucht nach Jerusalem.

Leopold Horowitz – Tischa-Beab

In diesem Beitrag werden wir uns auf einige deutsche Gedichte konzentrieren, die zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert geschrieben wurden und Tischa be’Aw verwenden, um einen neuen, modernen Blick auf die jüdische Erfahrung zu werfen.

Ludwig August Frankl – Porträt von Leopold Pollak

Beginnen wir mit einem ganz besonderen, heute leider vergessenen Dichter: Ludwig August Frankl von Hochwart (1810-1894). Der Neffe Zecharia Frankels, dem Gründer des Breslauer Rabbinerseminars, bei dem er auch seine jüdische Ausbildung erhalten hatte, studierte Medizin, widmete sich aber vor allem der Dichtung und dem journalistischen Schreiben. Er war bekannt dafür, dass er in seinen Schriften die eher seltene Kombination von Patriotismus für das österreichische Kaiserreich und Verbundenheit mit seinen jüdischen Wurzeln verband.
Bereits in seinem 1860 erschienenen Buch “Nach Jerusalem!” schreibt Frankl über Tischa be-Aw, wie er diesen Tag der Trauer auf einer Reise nach Ägypten erlebt hat. Schon hier wird die tiefe Bedeutung deutlich, die er diesem Feiertag beimisst, nicht unbedingt als religiösem, sondern als nationalem Feiertag:

Wie lebendig und gewaltig sind die historischen Erinnerungen in diesem Volke, das ohne politische Einigung und über alle Erde gestreut ein nationales Trauerfest noch heutzutage nach zwei Jahrtausenden so allgemein feiert, wie in der ersten Zeit nach der Vernichtung des Tempels und nach der Verluste von Zion

Das Gedicht, das vier Jahre später in seinem Gedichtband “Ahnenbilder” veröffentlicht wurde, trägt den Titel “Der neunte Ab”. Noch vor der ersten Strophe wird man Zeuge einer Merkwürdigkeit: Der Untertitel des Gedichts ist die Jahreszahl 1492 mit einem Sternchen, das den Leser auf den Kommentar darunter hinweist:

“Entspricht dem 2. August 1492, an welchem Colombo eine neue Welt zu entdecken auszog”.

Frankl war fasziniert von Christoph Kolumbus, über den er auch ein berühmtes Gedicht schrieb, das ihm die Ehrenbürgerschaft von Kolumbus’ Geburtsstadt Genua einbrachte. Die sogenannte Entdeckung einer “neuen Welt” durch Kolumbus inspirierte ihn, sie als Vorbild für ein neues Land, “ein neues Kanaan”, wie er es nannte, für die in der ganzen Welt verstreuten Juden zu sehen.

Ludwig August Frankl – Ahnenbilder. Oskar Leiner Verlag. Leipzig, 1864. D 1308

Über den Autor des nächsten Gedichts wissen wir fast nichts. Er heisst Martin Friedlaender und sein Gedicht “Tischah-B’Ab” wurde erstmals in der Zeitung “Jüdische Volkstimme” vom 15.7.1901 veröffentlicht und später in zwei Anthologien für junge jüdische Dichter: “Junge Harfen” hrsg. von Berthold Feiwel 1903 und drei Jahre später in “Jungjüdische Gedichte” hrsg. vom Verein Jüdischer Studenten (Hochschule Berlin-Charlottenburg als Festgabe zu seinem Winterfest 15. Febr. 1906.)

Junge Harfen – Eine Sammlung jungjüdischer Gedichte. Jüdischer Verlag. Berlin, 1903.

Abgesehen vom Titel, der sich zweifellos auf Tischa be’Av bezieht, ist es sehr schwierig, in diesem seltsamen Gedicht irgendeinen Bezug zu dem jüdischen Feiertag zu finden. Es scheint eine intime Szene zwischen einem Mann und einer Frau zu beschreiben, bzw. es handelt sich um ein Liebeslied, das wie jedes Liebeslied auch morbide Motive enthält. Es könnte sich aber auch um ein Vater-Tochter-Gespräch handeln, in dem der Vater versucht, seiner Tochter auf freundliche Weise düstere historische Ereignisse zu erklären.
Auf jeden Fall ist das Gedicht sehr schön und wir würden es für Interpretationen offen lassen.

Joseph Budko – Tischa B’Ab

Das nächste Gedicht stammt von dem begabten Dichter, Musiker, Übersetzer und Künstler Arno Nadel (1878-1943) aus dem Buch “Das Jahr des Juden“, das er 1920 zusammen mit dem Künstler Joseph Budko (1888-1940) verfasste. Jedes Gedicht von Nadel in diesem Buch ist einem Feiertag des jüdischen Kalenders gewidmet und wird von einer Radierung Budkos begleitet. Dieses Buch, das bereits in einigen unserer früheren Beiträge erwähnt wurde, ist ein Meisterwerk der modernen expressionistischen Adaption religiöser Motive.

In diesem Gedicht führt Nadel zwei Dialoge, zunächst zwischen dem Dichter und der zerstörten Stadt Jerusalem, dann zwischen dieser Stadt und Gott. Nadels Vermenschlichung der Stadt ermöglicht es ihm, sie zum Träger von Sünden gegen Gott zu machen und schliesslich von ihm vergeben zu bekommen. Er verwandelt die Sehnsucht nach Jerusalem von einem historischen Moment in ein gegenwärtiges zionistisches Moment, in dem das erlöste Jerusalem das jüdische Volk wieder umarmen kann.

Käthe Kaufmann – Von Nissan zu Nissan. Gedichte einer jüdin in Deutschland. Joachim Goldstein Verlag. Berlin, 1937.

Wenig bekannt ist die Dichterin, mit der wir schliessen wollen. Käthe Kaufmann veröffentlichte Ende der 1930er Jahre einige Gedichte in der Zeitschrift Israelit. Sie starb aus ungeklärten Gründen im Alter von nur 39 Jahren, kurz nachdem 1937 ihr einziger Gedichtband “Von Nissan zu Nissan. Gedichte einer Jüdin in Deutschland” im Joachim Goldstein Verlag in Berlin erschienen war.

Der Zeitpunkt der Veröffentlichung ihres Werkes ist entscheidend für das Verständnis der Stimmung ihres Gedichts “Zum 9. Aw”, das in dem jüdischen Monat Aw gewidmeten Kapitel vorkommt. Dieses Gedicht, das ein Jahr zuvor im Israelit zu Tischa Be’aw 1936 erschienen war, trägt die dunkle Ahnung des Schicksals in sich, das hinter der nächsten Ecke lauert. Es spricht von einer Zerstörung in der Gegenwart und endet nicht mit einem hoffnungsvollen Blick nach vorn, sondern mit einem Blick zurück.

Oded Fluss. Zürich, 26.7.2023
עודד פלוס. ציריך. ערב תשעה באב התשפ”ג

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2 Kommentare zu „Tischa beAw in der modernen Dichtung.

  1. “Habe das weise Gebot der Menschengleichheit vergessen” – so wichtig! gerade auch heute, auch in Israel.
    Vielen Dank für den Beitrag.

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