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“Ein Ghetto im Osten” erscheint in der Schweiz

Wilna, meine grosse Ahne, Stadt und Mutter in Israel,
Jerusalem des Galuth, Trost des Ostvolkes im Norden,
וילנה סבתי הגדולה, עיר ואם בישראל,
ירושלים של גלות, נחמת עם הקדם בצפון

Sie waren in jedem Schweizer Haushalt zu finden: die Schaubücher des Zürcher Orell Füssli Verlags. Es handelte sich dabei um eine Reihe von Fotobüchern, die mit Text und Bild fast jedes erdenkliche Thema abdeckten. Vom russischen Revolutionsfilm bis Hollywood, von den heiligen Städten der Bibel bis nach China, von zeitgenössischen Tänzerinnen bis zum Fussball, von Wagner bis Goethe; diese Bücher erschienen in einer schönen Aufmachung und zu einem Preis, der für jedermann erschwinglich war.

Geschrieben von einigen der besten Autoren und fotografiert von einigen der besten Fotografen, gilt dieses bahnbrechende Projekt, das zwischen 1929 und 1932 verwirklicht wurde und 38 Bücher umfasste, noch heute als Meilenstein in der Entwicklung des Buches und der heute fast selbstverständlichen Verbindung von Text und Bild.

Ein Ghetto im Osten (Wilna). 65 Bilder von M. Vorobeichic. Eingeleitet von S. Chnéour. Orell Füssli Schaubücher Nr. 27. Zürich – Leipzig, 1931.

Und obwohl jedes dieser Büchlein einzigartig ist, sticht eines heraus. Es ist das einzige Buch, das zweisprachig erschienen ist. Es ist das einzige Buch, das dreimal in vier verschiedenen Sprachen (Deutsch-Hebräisch, Deutsch-English und Deutsch-Jiddisch) veröffentlicht wurde.

“Idishe gas in vilne”: die jiddische Ausgabe des Buches.

Es ist ein Buch, das bis heute als Meisterwerk der Kunst und des Textes gilt und dessen Preis von den Antiquariaten in die Höhe getrieben wird. Vor allem aber ist Ein Ghetto im Osten (Wilna) ein Liebesgedicht an einen Ort, den es nicht mehr gibt. Es ist ein letztes visuelles und textliches Zeugnis einer lebendigen und bunten jüdischen Gemeinde, die von den Nationalsozialisten fast vollständig ausgelöscht wurde.

Feins blaues Geäder blickt aus schmutziger Armut,
Königssprossen Jehudas, Gefangene blondgelber Völker,
Blass sind sie und mager und krank wie die Reiser der Palmen,
Die in den Sümpfen Russlands wachsen, so fern ihrer Heimat.

Hermann Struck – Porträt von Zalman Shneour

Eingeleitet wurde das Buch von S. Chnéour, besser bekannt als Zalman Shneour (1886-1959), einem berühmten hebräischen und jiddischen Dichter, der einen Grossteil seiner Jugend in Wilna verbracht hatte. Shneour war fasziniert von der Stadt Wilna, die damals als eines der wichtigsten jüdischen Zentren galt. Bereits 1923 veröffentlichte er im Berliner Verlag “Hasefer” ein hebräisches Liebesgedicht an die Stadt mit dem schlichten Namen וילנה [Wilna].

Z. Shneour und Hermann Struck – Wilna. Hasefer Verlag. Berlin, 1923.

Diese schöne bibliophile Publikation mit dem Untertitel פואימה מצוירת [Gezeichnete Poema] und Zeichnungen von Hermann Struck (1876-1944) war der Vorgänger unseres Buches, das acht Jahre später erschien und einige Gedichte aus dem Vorgänger enthält.

Marc Chagall malte seine Geburtsstadt Witebsk […] Diese Stadt mit ihren blauen und violetten Häusern, ihrem alten Friedhof, mit den sonderbaren Schwingungen in der Luft, die wie schwebende Seelen scheinen, mit ihren grünen, braunen und schwarzen Juden.
Die Stadt Wilna hat aber ihren Chagall noch nicht gefunden, wenn auch das eigenartige Leben, das jüdische Element in ihr, mehrere Witebsk zu schaffen vermag und die Paletten vieler Künstler füllen würde. Auch Städte haben ihren Glückstern in der Kunst.
Dieses reiche Material, das auf seinen Künstler wartete, hat nun seinen Deuter gefunden.

Den Höhepunkt des 1931 erschienenen Schaubuch bilden jedoch die Fotografien und Fotomontagen des grossen Fotografen Moshe Vorobeichic (1904-1995). Dieser talentierte Künstler, der in Wilna geboren wurde und später bei Paul Klee und Wassily Kandinsky studierte, ist uns besser bekannt unter dem Pseudonym Moï Ver. Die wunderschönen Schwarzweissfotos und ihre innovative Einbettung in das Buch verwandeln das nüchtern wirkende Ghetto in ein emotional aufgeladenes, nostalgisches Mosaik. Einige Bilder würden zu klassischen Zeugnissen einer nach dem Holocaust nicht mehr existierenden Welt.

Über den Herausgeber dieses Buches und der gesamten Schaubücher-Reihe soll noch etwas gesagt werden, nur ein paar Worte, denn über ihn ist nicht viel bekannt. Emil Schaeffer (1874-1944) war ein österreichischer Kunsthistoriker und Verleger jüdischer Abstammung. Er hatte, wie viele andere Juden dieser Zeit, ein schreckliches Schicksal erlitten. Als sich die Gestapo seinem Wohnort Oedenburg näherte und er wusste, dass er mit seinen jüdischen Mitbürgern nach Auschwitz geschickt werden würde, vergiftete sich Schaeffer und nahm sich das Leben.

Wir wissen leider nicht viel über diese interessante Persönlichkeit, aber ein Nachruf, den sein Schweizer Freund, der Übersetzer, Feuilletonist, Anekdotensammler und Regisseur N. O. Scarpi (Fritz Bondi) am 30. Oktober 1945 schrieb, erzählt uns von seiner Beziehung zur Schweiz und von einigen seiner vielen Tugenden. Dieser Artikel, der in der Schweizer Zeitung “Die Tat” veröffentlicht wurde, wird hier in voller Länge wiedergegeben:

Aus “Die Tat” 30.10.1945

Wir schliessen mit den Worten Emil Schaeffers selbst, wie sie im Orell Füssli Almanach von 1930 erschienen sind, der der Schaubuchreihe gewidmet war. Schaeffer beschreibt dieses aussergewöhnliche Projekt in einem kurzen Beitrag aus seiner Sicht:

Dem Reich der “Schaubücher” sind die Grenzen weit gezogen; es umfasst alles, was der Photograph auf seiner Platte festhalten kann: jegliches Tier und jegliche Pflanze, alle Länder, alle Meere, und sogar den Mond und die Sterne.
“Die Schaubücher” wandern mit dir von Rahels Grab “an dem Wege gen Ephrat” durch alle Kulturen und Zivilisationen bis zum jüngsten Wolkenkratzer New Yorks; sie machen dich vertraut mit allen Siegen und Triumphen der Technik; sie bringen Kunde über den Menschen und über die Menschen, über Völker und Rassen; “die Schaubücher” teilen deine Freude an Sport und Spiel, an feingliedrigen Wuchs tänzerischer Gestalten, sie begleiten dich ins Theater, ins Museum und fahren im Luftschiff mit dir nach Hollywood, um dir zu zeigen, wie Chaplin wohnt und wie ein Film entsteht. “Die Schaubücher” unterrichten, aber gleichzeitig geben ihre Bilder dem Auge ein Fest, und darum werden wir ein Schaubuch, das uns einmal entzückt hat, immer wieder gern zur Hand nehmen. “Die Schaubücher bringen wirklich alles, und darum kommen bei ihnen alle auf ihre Rechnung, jeder Mann und jede Frau, jedes Alter und jeder Stand, jede Tätigkeit und jegliche Neigung.

Oded Fluss. Zürich, 13.7.2023.