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Zählet die Tage

Ihr sollt euch aber zählen von dem Tag nach dem Sabbat, von dem Tag, da ihr die Garbe der Schwingung bringt: Sieben volle Wochen sollen es sein. Bis zum Tage nach dem siebenten Sabbat sollt ihr zählen: Fünfzig Tage, und dann sollt ihr Gott ein Opfer vom Neuen darbringen.

Heute ist der 27. April. 2023. Das jüdische Datum ist der 6. Ijar, 5783, aber in der Zeit zwischen Pessach und Schawuot sollten wir, wenn wir der jüdischen Religion folgen wollen, auch hinzufügen, dass heute 21 Tage, also 3 Wochen der Omer-Sefirah (Zählung) sind.
Omer-Zählen ist ein religiöses Gebot, das aus dem oben zitierten Vers aus ויקרא Levitikus 23 stammt. Der Omer (eine Masseinheit) war eine Opfergabe aus frisch geerntetem Getreide, die unmittelbar nach Pessach in den Tempel gebracht wurde. Vom Tag des Opfers an sollten 49 Tage gezählt werden, die am darauf folgenden Tag mit dem Fest Schawuot endeten. Wie die Tage zu zählen sind, erfahren wir aus dem Tur Orach Chaim im Schulchan Aruch (489, 1).

Am zweiten Pessach-Abend beginnt man nach dem Abendgebet Omer zu zählen. Man zählt die Tage und Wochen in folgender Weise: Am ersten Abend spricht man: Heute ist ein Tag des Omer-Abschnitts; am siebenten: Heute sind sieben Tage, das ist eine Woche des Omer-Abschnitts; tags darauf: Heute sind acht Tage, das ist eine Woche und ein Tag des Omer-Abschnitts; und so fort bis zum Ablauf der sieben Wochen.

Diese Tage sollten als Erntetage eine positive und freudige Bedeutung haben und vor allem im religiösen Sinne die Tage der Befreiung aus Ägypten, des Empfangs der Zehn Gebote und der Verheissung des Heiligen Landes symbolisieren. Durch bestimmte historische Umstände wurden sie jedoch zu Tagen der Trauer.

Zwölftausend Schülerpaare hatte Akiwa in dem Raum zwischen Gabbata und Antipatris, und alle starben sie um eine Zeit. Warum? Weil sie einander keine Ehre erwiesen. So wurde die Welt verödet, bis Akiwa zu den Meistern im Süden kam und die Lehre an sie weitergab. Die Schüler Akiwas starben einen bösen Tod; wie einer meint, erstickten sie an der Bräune. In den Wochen zwischen Pessach und Schawuot wurden sie hingerafft.

Nach einem Bericht im Babylonischen Talmud (Javamot 62b) wurden zu Beginn des 2. Jahrhunderts, in der Zeit zwischen Pessach und dem Wochenfest, 24.000 junge Toragelehrte in Palästina – Schüler des berühmten Rabbi Akiwa – von einer epidemischen Halskrankheit dahingerafft.
Der Brauch des Trauerns während der “Omer-Zeit”, d.h. der sieben Wochen vom zweiten Tag des Pessachfestes bis zum Wochenfest, geht auf dieses traurige Ereignis zurück. Was das Trauerritual beinhaltet, erfahren wir auch aus der Orach Chaim:

Es ist Brauch, zwischen Pessach und Lag ba-Omer [der 33. Tag der Omerzeit] keine Frau zu heiraten, weil in dieser Zeit die Schüler von Rabbi Akiwa gestorben sind. Wir bestrafen jedoch niemanden, der sich in dieser Zeit verlobt. Es ist Brauch, mit dem Haareschneiden bis Lag ba-Omer zu warten, da die Pest, die Rabbi Akiwas Schüler tötete, an Lag ba-Omer aufgehört haben soll, ihren Tribut zu fordern. Wenn Lag ba-Omer auf einen Samstag fällt, darf man sich die Haare nicht schneiden, um den Schabbat zu ehren und er wird sich am nächsten Tag die Haare schneiden. Diejenigen, die ihre Kinder beschneiden lassen, dürfen sich zu diesem Anlass zur Omer-Zeit die Haare schneiden.

Auch die Judenverfolgungen während des Ersten Kreuzzuges (1096), der ebenfalls in die Omerzeit fiel, könnten zur Verbreitung der Trauerbräuche beigetragen haben. Berichte über diese Verfolgungen wurden in dem 1919 im Jüdischen Verlag Berlin erschienenen Buch “Edom – Berichte jüdischer Zeugen und Zeitgenossen” gesammelt und ins Deutsche übersetzt. Wir übernehmen daraus die Berichte über die jüdischen Gemeinden in Speyer und Worms:

Am Sabbath, dem 8. Ijar brach das Strafgericht über uns herein. Es erhoben sich die Kreuzfahrer und die Städter zuerst gegen die heilige und fromme Gemeinde von Speyer; sie gedachten, alle zusammen im Bethaus zu ergreifen. Doch die Juden erfuhren davon, standen am Sabbath morgens früh auf, beteten eilends und verliessen das Bethaus. Da sahen die Feinde, dass ihr Anschlag misslungen war, fielen über die Juden her und töteten elf Seelen. So nahm dort das Verhängnis seinen Anfang nach dem Worte: “Mit den Mir Geweihten sollt ihr beginnen” […]
Als die schlimme Botschaft nach Worms kam, dass ein Teil der Gemeinde zu Speyer erschlagen sei, da schrien sie auf zum Herrn und erhoben ein grosses, bitteres Weinen, denn sie sahen, dass es kein Entrinnen gab, nicht vorwärts und nicht rückwärts. Die Gemeinde teilte sich in zwei Teile, die einen flohen zum Bischof in seine Burg, die andern blieben in ihren Häusern, denn die Städter versprachen ihnen Schutz. Doch es waren falsche, tückische Reden, gleich geknicktem Rohre; sie waren mit den Kreuzfahrern im Einverständnis, unseren Namen und Rest auszutilgen. “Fürchtet euch nicht vor ihnen”, sprachen sie zu uns, “denn wer einen von euch tötet, wird mit seinem Leben für eurer Leben büssen”. Dabei nahmen sie ihnen jede Möglichkeit der Flucht, denn die Gemeinde hatte all ihr Vermögen in ihre Hände gelegt, um deswillen verrieten sie nachher.
Am 10. Ijar erhoben sich die Wölfe der Wüste wider die, die so in ihren Häusern geblieben waren und tilgten sie aus, Männer, Weiber und Kinder, Jung und Alt; sie warfen die Treppen um, rissen die Häuser ein, plünderten und machten Beute; sie raubten die Thora, traten sie in den Kot, zerfetzten und verbrannten sie und frassen die Kinder Israel mit vollem Maul. Am 25. Ijar kam der Schrecken auch über jene, so im Hause des Bischof weilten. Die Feinde marterten sie gleich wie die ersten und überlieferte sie dem Schwerte…

Einen kleinen Pijut (religiöses Lied) mit der Unterschrift des Namens שלמה Schlomo (viele halten ihn für den grossen Dichter Schlomo Ibn Gabirol), den wir in einigen der Machzorim finden und der am zweiten Samstag nach Pessach gesungen werden sollte, drückt ebenfalls den Gedanken der Trauer und des Leidens während der Omerzeit aus.

Geulla le-schabat schnia achar Pessach
Schnotenu safu be-dalut u-ve-kalut
la-or nekawe, ve-hine buz ve-schiflut.
Maschlu banu avadim, ve-anachnu ba-Galuth.
Hoshia H’, ki be-cha eyalut.
le-ma’an schimcha H’, ase le-tova ot!
H’, ad matai ketz ha-pla’ot?
Schlomo

Geulla (Erlösung) am zweiten Schabbat nach Pessach
Unsere Jahre endeten schnell und arm
Wir hofften auf Licht und fanden nur Verachtung und Niedertracht
Wir wurden von Sklaven regiert und sind in der Galuth (Diaspora).
Hilf uns, Gott, denn du hast die Macht
Um der Ehre deines Namens willen, gib uns ein Zeichen!
Gott, wann kommt die Zeit des Messias?

Oded Fluss. Zürich, 27.4.2023