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Der Prophet Elija und Pessach

Ein Blick zur Tür… Ein Windeswehn
Lässt einen Flügel leise gehn.
Wer tritt herein? O Gast, komm her,
Dein Kelch ist voll, dein Platz ist leer.
Verweile doch, Prophet Eliah!
Dein Weg war weit, müd musst du sein.
Verweile, trinkt von unserm Wein
Und segne uns, Prophet Eliah!

Marek Scherlag – „Sedernacht im Ghetto“
„Elijahu ha-Nawi“. Aus „Olami Hakatan“. Warschau, 1936.

Obwohl sie in der Hauptgeschichte des Pessachfestes – dem Auszug der Israeliten aus Ägypten – keine Rolle spielt, ist eine bestimmte Figur dafür bekannt, uns während des Sederabends zu begleiten. Wir alle kennen die beiden Traditionen des Pessach-Seders, die mit dem Propheten Elija zu tun haben: Das Öffnen der Tür für Elija und das Hinterlassen eines gefüllten Weinbechers für den Propheten (auch bekannt als כוס אליהו „Elijaskelch“).

„Ich send‘ euch Elija, den Propheten. Er wird das Herz der Väter zu den Kindern und das Herz der Kinder zu den Väter zurückwenden“. Aus der Offenbacher Haggada. Verlag des Herausgebers Siegfried Guggenheim. Offenbach am Main, 1927.

Diese Tradition ist so bekannt, dass zahlreiche chassidische und jüdische Volkserzählungen über den Propheten Elija vom Sederabend handeln. In diesen Erzählungen erscheint Elija meist unter einer geheimen Identität (normalerweise als armer Mann), der durch die offen gelassene Tür eintritt. Die Sedergäste wissen nicht, wer er ist, und erfahren es erst, nachdem er ein Wunder vollbracht hat und wieder verschwunden ist. Das Wunder, das er vollbringt, variiert in den Geschichten: Er schenkt einer unfruchtbaren Frau ein Kind, ermöglicht einer armen Familie, Pessach zu feiern, rettet eine jüdische Gemeinde vor einer Katastrophe usw.
Siehe zum Beispiel die schöne Geschichte „Der Zauberkünstler“ von J.L. Perez (Ost und West. April, 1905):

Es bleibt jedoch die Frage, warum der Prophet Elija in der Pessach-Tradition überhaupt vorkommt?

Aus der Offenbacher Haggada. Verlag des Herausgebers Siegfried Guggenheim. Offenbach am Main, 1927.


Um dieser Frage nachzugehen, sollten wir zunächst die beiden Überlieferungen, in denen der Prophet Elija vorkommt, voneinander trennen und mit der Überlieferung vom Elijaskelch כוס אליהו beginnen. Diese Tradition ist relativ spät entstanden und findet sich erst Ende des 18. Jahrhunderts, insbesondere in den jüdischen Gemeinden Osteuropas. Es ist Brauch, zu den vier Gläsern, die während des Seder getrunken werden, ein weiteres Glas Wein zu füllen und es dem Propheten Elias zum Trinken zu überlassen.

Elijaskelch – כוס אליהו


Wir kennen noch eine andere Tradition, die Elija mit einbezieht, nämlich während der Brit Mila (Beschneidung) einen besonderen, ehrenvollen Stuhl für den Propheten Elija vorzubereiten. Auf diesem Stuhl wird die Beschneidung vollzogen. Nach der Geschichte, die auch im Zohar erzählt wird, war Elija zornig darüber, dass das israelitische Volk unter König Ahab seinen Brit (Bund) mit Gott vergessen hatte. Gott versprach ihm daraufhin, dass er deshalb bei jeder folgenden Beschneidung anwesend sein solle.
Aufgrund der Ähnlichkeit der Worte „Stuhl“ und „Kelch“ im hebräischen כסא / כוס („Kise“, „Kos“) wird angenommen, dass die Überlieferung auf eine Verwechslung der beiden zurückgeht.

כסא אליהו Elija-Stuhl für die Beschneidung


Eine andere, wahrscheinlichere Erklärung ist ein halachischer Streit über die Anzahl der Gläser, die während des Pessach-Seders getrunken werden sollten. Während einige Quellen (z.B. die Mischna und Talmud Jeruschalmi) vorschlagen, vier Gläser zu trinken, schlagen andere vor, fünf zu trinken (z.B. Maimonides und Isaak Alfasi R“if). Da es keine gute Lösung gibt, wird das Problem mit dem zusätzlichen Kelch Elijas gelöst. Elija ist als Löser aller Zweifel und Streitigkeiten bekannt, und wenn er kommt, soll er neben allen anderen offenen Fragen auch die Frage nach der Anzahl der Weingläser an Pessach lösen.

Aus der Offenbacher Haggada. Verlag des Herausgebers Siegfried Guggenheim. Flushing N.Y, 1960. Q 155.


Die Tradition, die Tür für Elija zu öffnen, basiert auf dem alten Brauch, die Türen während Pessach überhaupt nicht abzuschliessen, was als ליל שימורים „Lel Shimurim“ (Nacht der Bewahrung) bekannt ist. Einer der Gründe für diesen Namen ist, dass das israelitische Volk in dieser Nacht vor allem Unheil bewahrt wird, genau wie in der Nacht der zehnten Plage.

„Jeder der hungrig ist, komme und esse; jeder der bedürftig ist, komme und feiere Pessach“ Aus der Sarajevo Haggadah. D 7498.

Eine weitere alte Tradition, die Tür offen zu lassen, ist der Brauch der Gastfreundschaft am Pessach-Abend, wenn alle Armen am Seder-Abend aufgenommen und bewirtet werden sollen „כָּל דִכְפִין – יֵיתֵי וְיֵיכֹל, כָּל דִצְרִיךְ – יֵיתֵי וְיִפְסַח“ („Jeder der hungrig ist, komme und esse; jeder der bedürftig ist, komme und feiere Pessach“) . Manche führen auch das fünfte Glas auf diesen Grund zurück. Ein fünftes Glas wird für den Fall bereitgestellt, dass noch jemand kommt, und die Person sich willkommen fühlt, weil schon ein Glas auf sie wartet.

Moritz Oppenheim – Seder (der Oster-Abend). Bilder aus dem altjüdischen Familienleben. Q 220A.


Schon in der Zeit der Geonim wurde die Tradition des Türöffnens mit der Ankunft des Propheten Elija in Verbindung gebracht, nach dem Spruch von Chaza“l: „בְּנִיסָן נִגְאֲלוּ וּבְנִיסָן עֲתִידִין לִיגָּאֵל“ (Im Monat Nisan sind sie erlöst worden, und im Monat Nisan sollen sie erlöst werden.). Der Prophet Elija spielt hier die Rolle des Verkünders der Erlösung (In vielen Traditionen wird der Prophet Elija als Vorläufer des Messias angesehen). Es ist anzunehmen, dass die volkstümliche Vorstellungskraft in der Türöffnung für Elija einen Weg sah, die Erlösung des jüdischen Volkes zu empfangen.

Nina Brodsky – Nissan. Aus „Jüdischer Kinderkalender 5689“. Jüdischer Verlag. Berlin, 1928/29. Z 16.

Oded Fluss. Zürich, 30.3.2023

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