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(Nicht so) einfache Geschichten

Edward Horowitz – Sippurim Kallim. Illustriert von Alter David Bernstein. Hebrew Publishing Company. New York, 1942. H 684

In unserer Bibliothek befinden sich zahlreiche Bücher, die dem Erlernen der hebräischen Sprache dienen. Einige dieser Bücher konzentrieren sich auf das hebräische Alphabet, andere auf die Grammatik, wieder andere auf den Wortschatz und eine vierte Gruppe richtet sich an Personen, die bereits auf einem elementaren Niveau lesen können. Diese letzte Gruppe von Büchern richtet sich normalerweise an Kinder und enthält in der Regel bekannte Geschichten in einfacher Sprache, anhand derer die Anfängerin ihre Sprachkenntnisse üben kann.

Edward Horowitz (1904-1986)


Eines dieser Bücher „Sippurim Kallim“ wurde 1942 in New York veröffentlicht und erweist sich als ein spannendes historisches Dokument. Das Buch, dessen Titel wörtlich übersetzt „einfache Geschichten“ bedeutet und für Lehrer/innen der hebräischen Sprache gedacht war, wird von seinem Autor Edward Horowitz beschrieben als:

Eine Sammlung hebräischer Geschichten, die innerhalb der Grenzen eines Wortschatzes von ein paar hundert Wörtern geschrieben wurden.

Das Besondere an diesen Geschichten ist jedoch, dass:

…sie grösstenteils auf wenig bekannten historischen Ereignissen beruhen. Einige wurden durch Artikel in amerikanischen und palästinensischen Zeitungen angeregt; andere wurden von Flüchtlingen erzählt.

Das Buch wurde zwischen 1940 und 1942, in der kritischen Zeit des Holocaust, geschrieben und bringt die ersten Zeugnisse dieser Jahre in einem Buch in einfacher Sprache zusammen. Geschichten von Kindern, die ihren Eltern entrissen wurden, von Familien, die ihr gesamtes Hab und Gut verloren haben, und natürlich von den ständigen Grausamkeiten und Misshandlungen, denen die Juden auf den Strassen Europas ausgesetzt waren. In fast jeder dieser Geschichten wird Hitler erwähnt, und viele beginnen mit „in den Jahren vor Hitler“ oder „viele Jahre vor Hitler“.

„Die Kinder versammelten sich im Zimmer der Brüder“ aus der Geschichte “ Sklaven waren wir des Pharaos in Ägypten“.

In der Geschichte „Sklaven waren wir des Pharaos in Ägypten“ sind drei Kinder gezwungen, das Pessachfest ohne ihre Eltern zu feiern, die in Konzentrationslagern inhaftiert sind. Die kleine Schwester stellt die vier Pessach-Kuschiot (Fragen) und fragt weiter, wo ihre Mutter und ihr Vater sind. Der ältere Bruder antwortet ihr, dass “die Juden vor vielen Jahren Sklaven des Pharao in Ägypten waren und jetzt Sklaven von Hitler in Deutschland sind, aber so wie die Juden sich von Pharao befreit haben, werden sie sich auch von Hitler befreien”.

„Sie verliessen das Haus und gingen in den grossen Wald“ aus der Geschichte „Das Visum“.


In „Das Visum“ erzählt eine Frau von ihrem Cousin Sigmund, der eines Tages an ihre Tür klopfte und ihr sagte, dass ein Nazi-Offizier nach ihm suchte. Sigmund war ein sehr erfolgreicher Kaufmann in Hamburg, und dieser Nazi hatte Waren von ihm bekommen und nie bezahlt, und nun jage er ihn, um ihn zu töten. Die Frau besorgte ihrem Cousin ein gefälschtes Visum für Belgien, und die Geschichte fährt fort, Sigmunds schreckliche Reise durch den Schwarzwald zu beschreiben, um sich in Sicherheit zu bringen. Die Geschichte endet damit, dass die Frau die Regierung der Vereinigten Staaten anfleht, ihm Schutz zu gewähren, bevor die Nazis ihn gefangen nehmen. Sigmund Klein wird nun in der schwarzen Liste der Nazis geführt.

Erste Seite der Geschichte „Die Bücherverbrennung“.

Eine sehr moralische Geschichte mit dem Titel „Die Bücherverbrennung“ beschreibt eine Gruppe jüdischer Kinder in Jerusalem, die von ihren Lehrern, die „immer noch die deutsche Sprache verehren“, gezwungen werden, in der Schule nur Deutsch zu lesen und zu sprechen. Die Kinder beschliessen, sich dagegen aufzulehnen, und verbrennen alle deutschen Bücher in einem grossen Feuer. Diese Geschichte, die uns zweifellos an die Bücherverbrennung von 1933 in Deutschland erinnert, bei der Millionen von jüdischen Büchern verbrannt wurden. Der Protagonist, Ehud ben Yehuda (der Sohn vom Erneuer der hebräischen Sprache Eliezer ben Yehuda ), sagt uns am Ende, es sei zwar richtig, für unsere Sprache zu kämpfen, es sei aber immer falsch, Bücher zu verbrennen.

„Die Kühe kamen nach Givat Brenner“ aus der Geschichte „Vierzig Kühe“.


Viele der Geschichten haben ein glückliches Ende, was in der Regel bedeutet, dass die Person Erez Israel, die Vereinigten Staaten oder England erreicht. In der Geschichte „Vierzig Kühe“ geht es um eine reiche, deutsche Jüdin, die den Chaluzim in Givat Brenner 40 Kühe spendete. 20 Jahre später wird sie aus Deutschland vertrieben und ihres gesamten Besitzes beraubt. Sie kommt nach Israel und erfährt, dass man sich wegen ihrer grosszügigen Spende noch an sie erinnert, und sie erhält ein Haus in Givat Brenner.

„Das habe ich nicht getan!“ aus der Geschichte „Kapitän Alfred Dreyfus“.

Das Buch berichtet über die ersten Erfahrungen der Flüchtlinge, gibt aber auch Einblicke in die seelische Verfassung der Menschen, die damals Hebräisch lernen wollten. Was waren ihre Ängste, ihre Hoffnungen, was begleitete sie in ihrem Alltag? Die Bilder – wunderbar illustriert vom „Jerusalemer Maler“ Alter David Bernstein – vermögen auch dies einzufangen.
Das Buch trägt den Titel „Sippurim Kallim„, „einfache Geschichten“, was natürlich die Einfachheit der Sprache des Buches beschreiben soll. Aber wenn man den Inhalt des Buches liest, bekommt der Name eine etwas ironische Bedeutung.

Oded Fluss, 16.3.2023

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