Website-Icon Schätze aus der Breslauersammlung und der ICZ-Bibliothek

Die Purim-Haggada

„Trink und iss, iss und trink, und alle Herzschmerzen werden verschwinden
Iss und trink, trink und iss, dann kannst du rechts und links nicht mehr unterscheiden“

Nein, der obige Titel ist kein Irrtum. Obwohl wir es gewohnt sind, zu Pessach von einer Haggada und zu Purim von einer Megilla zu sprechen, zeigen uns einige seltene Bücher der Breslauer Sammlung, dass man auch von einer Purim-Haggada sprechen kann, wenn auch nicht von einer offiziellen.
Purim ist ein Fest, das für seinen Humor bekannt ist, der in verschiedenen Texten zum Ausdruck kommt, von denen die bekanntesten die sogenannten Purimspiele sind. Es gibt jedoch noch eine andere Art von Purimtexten, die – obwohl sie zu ihrer Zeit sehr umstritten – sehr beliebt waren und von vielen am Purimabend nach der Lesung der Meggila gelesen wurden.

„Sklaven waren wir einst dem Achashwerosch in Susa“


Aufgrund der Ähnlichkeit zwischen der Purim- und der Pessachgeschichte – beide handeln von der unmittelbaren Ausrottungsbedrohung des jüdischen Volkes durch einen mächtigen König und dessen Rettung – wurden viele Parodien geschrieben, die auf Pessachtexten basieren, aber auf humorvolle Weise an die Purimgeschichte und die Purimbräuche angepasst wurden.

Masecheth Purim min Talmud Schikorim. Krakau, 1878. Breslauer Sammlung H 7140

Die Texte, auf die sich diese Parodien beziehen, sind hauptsächlich die Pessach-Haggada, aber auch das Masecheth-Pessachim (Pessachim-Traktat) aus dem Talmud. Die Hauptfigur ist der Wein, und die Hauptforderung ist, ihn zu trinken. So befindet sich in der Breslauer Sammlung ein stark abgenutztes und fleckiges Exemplar von Masecheth-Purim min Talmud Schikorim (aus dem Talmud der Betrunkenen), gedruckt 1878 in Krakau. Die Flecken stammen offenbar vom Wein, der während der Lektüre getrunken wurde. Obwohl der Autor als „der grosse betrunkene Rabbi Barza me-chavioyot“ (der Name ist ein Wortspiel mit Barza, dem aramäischen Wort für Wasserhahn, und Chaviyot, dem hebräischen Wort für Weinfässer) bezeichnet wird, wissen wir, dass der Originaltext von Kalonymus ben Kalonymus ben Meïr (1286-1328) stammt, einem jüdischen Philosophen und Übersetzer aus Provence in Frankreich.

Der humorvolle Text ist in Form einer Talmudseite geschrieben und imitiert die Sprache des Talmuds durch die Verwendung pseudoaramäischer Wörter. Einer der lustigsten Teile des Textes ist die Erklärung, wie man vor Purim das Haus nach Wasser durchsucht, damit es an Purim kein Wasser mehr im Haus gibt, sondern nur noch Wein. Dies ist natürlich eine Parodie auf den Pessachbrauch des Biur Chametz, bei dem der gesamte Sauerteig vor Pessach weggeworfen wird.

Haggadah le-Lel Schikorim. Hamburg, 1842. Breslauer Sammlung H 7143

Die Purim-Haggada, oder genauer „Haggada le-Lel Schikorim“ [Haggada für eine Nacht der Betrunkenen] (Lel Schikorim ist auch ein Wortspiel mit ‚Lel Schimurim‘, einem anderen Namen für Pessach) wurde 1842 in Brüssel von Zwi Hirsch Somerhausen (1781-1853) geschrieben, einem in Deutschland geborenen niederländisch-jüdischen Schriftsteller, Dichter und Übersetzer, der eine zentrale Figur der Haskalah (jüdische Aufklärung) in Holland war. Diese kurze Haggada, die die Zeiten mit wunderbarem, intelligentem und scharfem Humor überdauert hat, verwendet die gängigsten Pessachmotive, parodiert sie jedoch, um sie an das Purimfest anzupassen.

Und so finden wir die erste Pessachfrage „Ma Nishtano?“ auch hier, aber mit einer purimischen Antwort: „Was ist an diesem Tag anders als an jedem anderen Tag? Dass wir an jedem anderen Tag manchmal arbeiten und manchmal essen und trinken. An diesem Tag essen und trinken wir nur. Dass wir an jedem anderen Tag Wasser oder Wein trinken, an diesem Tag trinken wir nur Wein.“

Wir finden auch die vier Söhne von Pessach, aber hier mit zwei kleinen Änderungen. Wie bei Pessach haben wir den Chakham (den Klugen) und den Tam (den Unschuldigen), aber hier finden wir auch den Schote (den Dummen) und anstelle desjenigen, der nicht weiss, wie man fragt שאינו יודע לשאול , finden wir den שאינו יודע לשתות, der nicht weiss, wie man trinkt.

Die bekannten Pessach-Lieder, die jedes Kind auswendig kennt, gibt es natürlich auch hier und so zum Beispiel das bekannte „Echad mi Yodea“ (Eins – wer weiss es?) Lied auch hier passend zu Purim parodiert:


Eins – wer weiss es? Eins, das weiss ich. Eins ist der Wein, der erfreut Gott und Menschen. Im Himmel und auf der Erde:
Zwei – wer weiss es? Zwei, das weiss ich. Zwei Tage Purim.
Drei – wer weiss es? Drei, das weiss ich. Drei Schabbatmahlzeiten.
Vier – wer weiss es? Vier, das weiss ich. Vier Gläser an Pessach.
Fünf – wer weiss es? Fünf, das weiss ich. Fünf Sinne.
Sechs, wer weiss es? Sechs, das weiss ich. Sechs Arme der Menora.
Sieben – wer weiss es? Sieben, das weiss ich. Sieben Tage des Festes.
Acht – wer weiss es? Acht, das weiss ich. Acht Tage Chanukka.
Neun – wer weiss es? Neun, das weiss ich. Neun Tage Urlaub.
Zehn – wer weiss es? Zehn, das weiss ich. Zehn Söhne des Hamman.
Elf – wer weiss es? Elf, das weiss ich. Elf Schriftrollen.
Zwölf – wer weiss es? Zwölf, das weiss ich. Zwölf Wasseroasen.
Dreizehn – wer weiss es? Dreizehn, das weiss ich. Dreizehn Stiere des Festes.

Das beliebte Lied von Chad Gadja ist hier noch witziger als im Original. Es wird zu einer Purim-Parodie umgedichtet, da z.B. der Todesengel und der Schlachter aus der ursprünglichen Pessach-Version hier als Henker und Hamman auftreten:

Und es kam der Henker und henkte Hamman, der Mordechai henken wollte, der von der Verschwörung des Bigtan und Teresch erzählte, der den König Achaschwerosch ermorden wollte, der befahl, Waschti zu töten, der Esther unterwarf, der aus der Gola war, der Nebukadnezar vertrieb … Chad Gadja, Chad Gadja.

Und wir beenden die Haggada statt mit dem bekannten Wunsch „be-Shana ha-Ba’aa Be-Yerushalaim“ (nächstes Jahr in Jerusalem) mit dem humorvollen Wunsch „be-Shana ha-Ba’aa nishte kiflaim“ (nächstes Jahr werden wir doppelt so viel trinken).

Oded Fluss. Zürich, 2.3.2023.

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