„Und kein Amt ist beglückender als das eines Dieners am Licht.“ Theodor Herzl und Chanukka

„Darum glaube ich, dass ein Geschlecht wunderbarer Juden aus der Erde wachsen wird. Die Makkabäer werden wieder aufstehen.“
Theodor Herzl – Schlusswort von „Der Judenstaat“ (1896)

Eine Chanukka-Menorah mit dem Porträt von Theodor Herzl

Mit dem Aufkommen der zionistischen Bewegung Ende des 19. Jahrhunderts bekam Chanukka eine zusätzliche aktuelle Bedeutung. Die Vordenker des Zionismus nutzten diesen Feiertag, um ein nationales Ethos der Verbundenheit mit dem Land Israel und der Tapferkeit und Hingabe für dieses Ziel zu schaffen. Die Idee des „neuen Juden“, der den Platz des alten „Ghetto-Juden“ einnehmen sollte, war die eines aktiven, heldenhaften und kompromisslosen Menschen in Form des Makkabäers.

Theodor Herzl (1860-1904), der Begründer der zionistischen Bewegung, war in dieser Hinsicht nicht anders und hat die Geschichte von Chanukka häufig benutzt, um die Juden zu begeistern und sie für seine Zwecke zu gewinnen.
An Chanukka 1897, ein paar Monate nach dem ersten zionistischen Kongress in Basel, veröffentlichte Herzl unter dem Namen Benjamin Seff eine kleine Geschichte mit dem Titel „Die Menorah“. Der Titel ist einer, den Herzl auch für ein kleines Gedicht verwendete, das er geschrieben hatte und das erst nach seinem Tod veröffentlicht werden sollte. Das Gedicht enthält viele der Symbole und Allegorien der Geschichte, wie z.B. die Menora als Baum und das Anzünden der Kerzen als das Wiederaufleben des jüdischen Volkes.

Theodor Herzl – „Menorah“. Aus Julius Moses – Hebräische Melodien“. Modernes Verlagbureau. Berlin-Leipzig, 1907. D 5013 (K)

Die Geschichte, deren Held Herzl selbst ähnelt, erzählt von einem assimilierten Juden und der Rückkehr zu seinen jüdischen Wurzeln. Der Mann, dem es in seinem Leben gut geht, betrachtet den aufkommenden Antisemitismus zunächst als eine vorübergehende Modeerscheinung, stellt aber schnell fest, dass er von Dauer ist. Auch wenn er den Funken des Judentums in sich spürte, erschien ihm das Ziel, zu seinen Wurzeln zurückzukehren, anfangs unmöglich. Er fühlte sich zu sehr von seinen ’nicht-jüdischen‘ Gewohnheiten vereinnahmt:

Als ein Mensch und Künstler von modernen Anschauungen war er doch mit vielerlei unjüdischen Gewohnheiten verwachsen und hatte aus den Kulturen der Völker, durch die ihn sein Bildungsgang geführt, unvertilgbares in sich aufgenommen. Wie war dies mit seiner Rückkehr zum Judentum zu versöhnen?

Die Idee, wie man diese Herausforderungen meistern kann, findet er in der Chanukka-Menorah. Die alte jüdische Form inspiriert ihn sowohl als Mann, der aus einem traditionellen jüdischen Haus stammt, als auch als Künstler. Intuitiv findet er in der Form der Menorah, die er mit der eines Baumes vergleicht, das, was zwischen seinen jüdischen Wurzeln und seinem Willen, über sie hinauszuwachsen, vermitteln könnte.

Die Gestalt war offenbar einst vom Baum genommen worden. In der Mitte der stärkere Stamm, rechts und links vier Zweige, einer unter dem andern, die in einer Ebene liegen und alle acht sind gleich hoch. Eine spätere Symbolik brachte den neunten kurzen Arm, welcher nach vorne steht und der Diener heißt.

Herzls Studierzimmer in Wien. In der Mitte unter dem Bild seiner Mutter ist eine Chanukka-Menorah zu sehen.

Inspiriert von der alten Form, aber ohne sich ihr zu unterwerfen, beschliesst er, eine neue Version einer Menorah zu entwerfen, die sein Gefühl für seine alte neue Identität besser zum Ausdruck bringt. Aus dem alten, leblosen Objekt möchte er etwas Lebendiges schaffen.

Und unser Mann, der ja ein Künstler war, dachte bei sich, ob es denn nicht möglich wäre, die erstarrte Form der Menorah wieder zu beleben, ihre Wurzeln zu tränken, wie die eines Baumes.

Von seinen jüdischen Freunden verspottet, setzt er dennoch seine „Heimkehr“ fort, indem er seinen Kindern die Geschichte von Chanukka im Licht der ersten Kerze beibringt und ihnen erlaubt, ihm die Geschichte dieses Festes an der zweiten Kerze beizubringen. Auf diese Weise können Vergangenheit und Zukunft, die alte und die neue Generation in Harmonie zusammenleben und sich gegenseitig beleben.

Unser Freund erzählte seinen Kindern, was er wusste. Es war nicht gerade viel, aber ihnen genügte es. Bei der zweiten Kerze erzählten sie es ihm wieder, und als sie es ihm erzählten, erschien ihm alles, was sie doch von ihm hatten, ganz neu und schön.

Benjamin Seff [Theodor Herzl] – „Die Menorah“. „Die Welt“. Wien, 31.12.1897. Z 253

Die Wiederbelebung des Chanukkafestes im Leben des Mannes soll die Wiederbelebung des jüdischen Volkes im Allgemeinen widerspiegeln. Der Protagonist ist das Symbol des Schamasch (des Dieners), dessen Feuer alle anderen Kerzen der Menorah entzündet, ein Symbol für Juden in aller Welt. Und so beendet Herzl seine kleine Geschichte mit einem Satz, in dem er seine eigene Berufung beschreibt:

Und kein Amt ist beglückender als das eines Dieners am Licht.

Diese Geschichte bringen wir Ihnen hier in ihrer Gesamtheit:

Theodor Herzl – Die Menorah

Es war ein Mann, der hatte die Not ein Jude zu sein, tief in seiner Seele empfunden. Seine äußeren Umstände waren nicht unbefriedigend. Er hatte sein genügendes Auskommen und auch einen glücklichen Beruf, indem er das schaffen durfte, wozu ihm sein Herz hinzog. Er war nämlich ein Künstler. Um seine jüdische Herkunft und den Glauben seiner Väter hatte er sich schon lange nicht mehr gekümmert, als der alte Hass unter einem modischen Schlagworte sich wieder zeigte. Mit vielen anderen glaubte auch unser Mann, dass die Strömung sich bald verlaufen werde. Aber es wurde nicht besser, sondern stets ärger und die Angriffe schmerzten ihn immer von Neuem, obwohl sie ihn nicht unmittelbar betrafen; so dass nach und nach seine Seele eine einzige blutende Wunde war. Es geschah ihm nun, dass er durch diese inneren und verschwiegenen Leiden auf deren Quelle, also auf sein Judentum hingelenkt wurde und was er in guten Tagen vielleicht nie vermocht hätte, weil er davon schon so ferne war: Er begann es mit einer großen Innigkeit zu lieben. Auch von dieser wunderlichen Zuneigung gab er sich nicht gleich deutliche Rechenschaft, bis sie endlich so mächtig war, dass sie aus dunklen Gefühlen zu einem klaren Gedanken erwuchs, den er dann auch aussprach. Es war der Gedanke, dass es aus der Judennot nur einen Ausweg gebe, und zwar die Heimkehr zum Judentum.
Als dies seine besten Freunde erfuhren, die sich in ähnlicher Lage befanden, wie er selbst, schüttelten sie über ihn die Köpfe und meinten, er wäre in seinem Geiste verwirrt geworden. Denn wie könne das ein Ausweg sein, was ja nur die Verschärfung und Vertiefung des Übels bedeute. Er aber dachte, dass die sittliche Not so empfindlich wäre, weil den neuen Juden jenes Gegengewicht abhanden gekommen sei, das unsere starken Väter in ihrem Inneren besaßen. Man spöttelte hinter ihm drein. Manche lachten ihm sogar unverhohlen ins Gesicht, doch ließ er sich durch die albernen Bemerkungen von Leuten, deren Einsicht er früher nie hoch zu schätzen Gelegenheit gehabt, nicht irre machen und ertrug die bösen oder guten Scherze gelassen. Und da er sich im übrigen nicht unvernünftig gebärdete, so ließ man ihn allmählich sich seiner Schrulle hingeben, die freilich von einigen auch mit härterem Wort als eine fixe Idee bezeichnet wurde.
Der Mann zog aber in seiner geduldigen Art eine Konsequenz nach der andern aus seiner einmal gefassten Meinung. Dabei gab es eine Anzahl von Übergängen, die ihm selbst nicht leicht fielen, wenn er dies auch nicht sehen lies. Als ein Mensch und Künstler von modernen Anschauungen war er doch mit vielerlei unjüdischen Gewohnheiten verwachsen und hatte aus den Kulturen der Völker, durch die ihn sein Bildungsgang geführt, unvertilgbares in sich aufgenommen. Wie war dies mit seiner Rückkehr zum Judentum zu versöhnen? Daraus erwuchsen ihm selbst manche Zweifel an der Richtigkeit seines leitenden Gedankens, seiner idée maitresse, wie es der französische Denker nennt. Vielleicht war die unter dem Einfluss anderer Kulturen großgezogene Generation nicht mehr fähig zu jener Heimkehr, die er als die Lösung gefunden hatte. Aber die nächste Generation würde schon dazu fähig sein, wenn man ihr bei Zeiten die Richtung gab. So bekümmerte er sich denn darum, dass wenigstens seine Kinder auf den rechten Weg kämen. Die wollte er von Haus aus zu Juden erziehen.
Früher hatte er das Fest, welches die wunderbare Erscheinung der Makkabäer durch so viele Jahrhunderte mit dem Glänze kleiner Lichter bestrahlte, vorüber gehen lassen, ohne es zu feiern. Nun aber benützte er diesen Anlass um seinen Kindern eine schöne Erinnerung für kommende Tage vorzubereiten. In diese jungen Seelen sollte früh die Anhänglichkeit an das alte Volkstum gepflanzt werden. Eine Menorah wurde angeschafft, und als er diesen neunarmigen Leuchter zum erstenmal in der Hand hielt, wurde ihm eigenthümlich zu Mute. Auch in seinem Vaterhause hatten die Lichtlein in einer nun schon entlegenen Jugendzeit gebrannt und es war etwas trauliches und anheimelndes darin. Die Tradition nahm sich nicht frostig, nicht erstorben aus. Das war so durch die Zeiten herübergegangen, immer ein Lichtlein am anderen entzündet. Auch die altertümliche Form der Menorah regte ihn zum Sinnen an. Wann war der primitive Bau dieses Lichthalters geschaffen worden? Die Gestalt war offenbar einst vom Baum genommen worden, In der Mitte der stärkere Stamm, rechts und links vier Zweige, einer unter dem andern, die in einer Ebene liegen und alle acht sind gleich hoch. Eine spätere Symbolik brachte den neunten kurzen Arm, welcher nach vorne steht und der Diener heißt. Was haben die Geschlechter die aufeinander folgten, in diese ursprünglich einfache und von der Natur genommene Kunstgestalt hineingeheimnisst? Und unser Mann, der ja ein Künstler war, dachte bei sich, ob es denn nicht möglich wäre, die erstarrte Form der Menorah wieder zu beleben, ihre Wurzeln zu tränken, wie die eines Baumes. Auch der Klang des Namens, den er nun an jedem Abende vor seinen Kindern sprach, gefiel ihm wohl. Es war ein Klang darin, besonders lieblich, wenn das Wort aus dem Kindesmunde kam.
Die erste Kerze wurde angebrannt und dazu die Herkunft des Festes erzählt. Die wundersame Begebenheit vom Lämpchen, das so unerwartet lange lebte; dazu, die Geschichte der Heimkehr aus dem babylonischen Exil, der zweite Tempel, die Makkabäer. Unser Freund erzählte seinen Kindern, was er wusste. Es war nicht gerade viel, aber ihnen genügte es. Bei der zweiten Kerze erzählten sie es ihm wieder, und als sie es ihm erzählten, erschien ihm alles, was sie doch von ihm hatten, ganz neu und schön. Von da ab freute er sich jeden Tag auf den Abend, der immer lichter wurde. Kerze um Kerze stand an der Menorah auf und mit den Kindern träumte der Vater in die kleinen Lichter hinein. Es wurde schließlich mehr, als er ihnen sagen konnte und wollte, weil das noch über ihrem Verständnis war.
Er hatte, als er sich entschloss, zum alten Stamm heimzukehren und sich zu dieser Heimkehr offen zu bekennen, nur gemeint, etwas Ehrliches und Vernünftiges zu thun. Dass er auf diesem Heimweg auch eine Befriedigung seiner Sehnsucht nach dem Schönen finden würde, das hatte er nicht geahnt. Und nichts geringeres widerfuhr ihm. Die Menorah mit ihrem wachsenden Lichterscheine war etwas gar schönes, und man konnte sich dazu erhabene Dinge denken. So ging er her und entwarf mit seiner geübten Hand eine Zeichnung für die Menorah, die er seinen Kindern übers Jahr schenken wollte. Frei gestaltete er das Motiv der acht gleich hoch auslaufenden Arme aus, die rechts und links in der Ebene des Stammdurchschnittes liegen. Er hielt sich an die steife überlieferte Form nicht für gebunden, sondern schuf wieder aus Natürlichem heraus, unbekümmert um andere Deutungen, die ja darum auch ihr Recht behalten mochten. Er war auf lebensvolle Schönheit ausgegangen. Doch wenn er auch in die erstarrten Formen eine neue Bewegung brachte, hielt er sich dennoch an ihr Gesetz, an den vornehm alten Stil ihrer Anordnung. Es war ein Baum mit schlanken Ästen, deren Enden wie Kelche sich erschlossen und in diesen Blütenkelchen sollten die Lichter stecken.
Unter so gedankenvoller Beschäftigung verstrich die Woche. Es kam der achte Tag, an dem die ganze Reihe brennt, auch der treue neunte, der Diener, der sonst nur zum Anzünden der Übrigen da ist. Eine große Helligkeit strömte von der Menorah aus. Die Augen der Kinder glänzten. Unserem Mann aber wurde das Ganze zum Gleichnis für die Entflammung der Nation. Erst eine Kerze, da ist es noch dunkel, und das einsame Licht sieht noch traurig aus. Dann findet es einen Gefährten, noch einen, noch mehr, die Finsternis muss weichen. Bei den Jungen und Armen leuchtet es zuerst auf, dann schließt er sich den Anderen an, die das Recht, die Wahrheit, die Freiheit, den Fortschritt, die Menschlichkeit, die Schönheit lieben. Wenn alle Kerzen brennen, dann muss man staunen und sich freuen über das getane Werk. Und kein Amt ist beglückender als das eines Dieners am Licht.

Zionistische Postkarte mit einer Chanukka-Menorah in Form eines Baumes mit führenden Vertretern der zionistischen Bewegung.
Herzl steht ganz oben. Chanukka, 1921.

Oded Fluss. Zürich, 15.12.2022.