
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es eine Blütezeit der deutsch-jüdischen Kinderbücher und Zeitschriften. Ausgestattet mit wunderbaren Zeichnungen versuchten diese Bücher, dem jüdischen Kind Geschichten zu vermitteln, die es nachvollziehen kann. So wurden zum Beispiel in vielen Büchern alte jüdische Legenden und Geschichten aus der Bibel, dem Talmud und anderen jüdischen Quellen in eine besser lesbare, moderne Form gebracht. Viele versuchten, jüdische Kostüme und Feiertage in ein neues Licht zu rücken. Einige versuchten, die Schwierigkeiten, Herausforderungen, aber auch Freuden, mit denen ein jüdisches Kind konfrontiert war, zu thematisieren. Der Zionismus war natürlich auch ein sehr beliebtes Thema.

Die Tatsache, dass Kinderbücher im Allgemeinen nicht gut aufbewahrt werden, sowie die systematische Vernichtung jüdischer Bücher während des Naziregimes haben dazu geführt, dass viele dieser Bücher in Vergessenheit geraten sind. Ein Nachdruck eines vergriffenen Buches ist also immer ein Grund zum Feiern, vor allem, wenn es sich um ein jüdisches Kinderbuch handelt.

Über den Kinderbuchautor Siegfried Abeles (1884 – 1937) ist nicht viel bekannt. Er war Pädagoge, Primaschullehrer, arbeitete während des Ersten Weltkriegs für die jüdische Kriegsblindenfürsorge und beschäftigte sich mit der Blindenschrift für die jiddische und hebräische Sprache. In der österreichischen Republik war er pädagogisch tätig als Inspektor von Kindergärten und Heimen des Vereins der jüdischen Kinderfreunde. Seine Leidenschaft galt der Arbeit mit den Kindern der jüdischen Gemeinde Wiens, die er beim Lernen unterstützte und mit ihren jüdischen Wurzeln verband.

Diese Kinder erreichte er unter anderem durch Geschichten, die er in verschiedenen jüdischen Zeitschriften veröffentlichte, insbesondere in “Menorah, Jüdisches Familienblatt für Wissenschaft, Kunst und Literatur”, manchmal unter seinem richtigen Namen und manchmal unter dem Pseudonym “Onkel Ben Nahthan”. Aus diesen Kurzgeschichten entstanden drei wunderbare jüdische Kinderbücher, von denen das erste “Tams Reise durch die jüdische Märchenwelt” in diesem Jahr eine wohlverdiente Neuauflage im Gans Verlag in Berlin erfuhr.
Diese enthält nicht nur alle Geschichten aus dem Originalbuch, sondern auch eine digitale Restaurierung der Originalzeichnungen von F. V. Kosak (1887 – 1968) und ein erhellendes Nachwort mit vielen nützlichen Informationen über den Autor und das Buch.

Das Schicksal von Siegfried Abeles war – wie das vieler Juden dieser Zeit – tragisch. Sein Sohn Norbert, der den Einmarsch der Nazis in Wien durch einen Kindertransport nach England überlebte, erzählte viele Jahre später von seiner Vermutung, dass sein Vater sich 1937 durch einen Sprung in den Donaukanal das Leben genommen hatte; eine Vermutung, die wir durch einen kleinen Ausschnitt in unserem Zeitungsarchiv aus der “Israelit” vom 1. Juli 1937 bestätigen können.

“Tams Reise durch die jüdische Märchenwelt” erzählt die Geschichte von Tam, einem von vier Brüdern (die alle die Namen der vier Söhne aus der Pessach-Haggada tragen), der während des Sederabends auf den Gedanken kommt: “Wie schön muss es im Lande unserer Väter sein, morgen will ich nach Palästina gehen.” Und so macht sich Tam denn auf den Weg und gelangt nach Überwindung zahlreicher Schwierigkeiten in das Haus des palästinensischen Bauern Jehuda. Jehuda erzählt nun dem kleinen Tam Märchen, jüdische Märchen. Er erzählt ihm Märchen, die er „beim Lesen der Bibel”, Märchen, die er „im alltäglichen Leben”, und solche, die er „an Festtagen gesehen hat” . Tam wird so durch die gesamte jüdische Tradition geführt, bis er es bejaht und nach Hause in die Galuth (Diaspora) zurückkehrt, um Eltern und Geschwister mit nach Palästina zu nehmen. Bis auf den einen Bruder, der bezeichnenderweise den Namen Rascha (d. i. Bösewicht ) trägt , willigt die ganze Familie begeistert in den Vorschlag Tams ein.

Unsere Bibliothek besitzt die erste seltene Erstausgabe des Buches, die nicht ausleihbar ist. Auf der ersten Seite finden wir einen kleinen Hinweis auf den:die Vorbesitzer:in (leider ohne Namen), der auf Hebräisch geschrieben hat “von Vater zu meinem 7. Geburtstag”.

Daraus bringen wir Ihnen einen Scan der Kurzgeschichte “Der Schofarmacher – Ein Rosch-haschana und Jom-Kipurmärchen” Eine schöne Erzählung für Jung und Alt, die sehr gut zu dieser Jahreszeit passt. Die Neuausgabe können Sie gerne in unserer Bibliothek ausleihen.

Oded Fluss. Zürich, 22.9.2022
Ganz herzlichen Dank für den interessanten und berührenden Beitrag zu diesem Kinderbuchautor und Illustrator.