Ein vergessener Autor in einem Buch wiederentdeckt

Moritz Steinhardt – Aus dem Ghetto. Erzählungen aus dem vorigen Jahrhundert. Mainz, 1905

Über den Autor Moritz Steinhardt ist fast nichts bekannt. Er wurde 1867 in Eisenstadt (früher Ungarn, heute Österreich) geboren und starb 1923 in Berlin. In diesen 56 Jahren war er Verleger sowie Buchhändler und veröffentlichte ein paar Geschichten in verschiedenen jüdischen Zeitungen. Sein Buch „Aus dem Ghetto. Erzählungen aus dem vorigen Jahrhundert“, das 1905 in Mainz erschien, hatte ihm den ehrenvollen Ruf eingebracht einer der authentischsten und realistischsten Autoren des Ghettolebens des 19. Jahrhunderts zu sein. Die rasche Assimilation der Juden und die veränderte politische Situation in Europa brachten eine Sehnsucht nach dem einfachen Ghettoleben der vorangegangenen Generation mit sich.
In seinem Vorwort zum Buch erklärt Steinhardt seine Motivation, das Buch zu schreiben, mit dem Ziel, ein falsches Bild vom Leben im Ghetto zu korrigieren:

„Durch dieses Büchlein wollte ich eine Schuld tilgen, indem ich der Erinnerung an die Heimat hiermit ein Dokument errichtet habe […] Das jüdische Ghetto, welches mein Büchlein behandelt, weist ein Bestehen von mehreren Jahrhunderten auf, als diejenigen der Grossstädte, wie wir sie in engen schmutzigen und winkeligen Gassen finden. Das Eisenstädter Ghetto gewährt keinen so finsteren und mittelalterlichen Eindruck, […] sondern der Lichtstrahl der Freiheit hat in dieses schon bei dessen Entstehen seine wohltuende Wärme geschenkt“.

Steinhardt betonte auch die Authentizität der Figuren und Geschichten im Buch:

„All‘ diese Sitten und Gebräuche, wie ich sie […] schildere, noch heute werden sie eingehalten. Alle Personen, wie ich sie gezeichnet, sie haben gelebt […] die Erinnerung an ihre Originalgestalten lebt fort im Munde der Generationen.“

Moritz Steinhardt – Aus dem Ghetto. Lehmann’s Volksbücherei. Mainz, 1906.

Das Buch wurde viermal veröffentlicht, die erste kleine nummerierte Ausgabe wurde 1905 in der Joh. Wirth’sche Hofbuchdruckerei in Mainz gedruckt. Ihr folgte schnell eine weitere Veröffentlichung im darauffolgenden Jahr als 40. Band der berühmten „Lehmann’s jüdische Volksbücherei“, herausgegeben von Oscar Lehmann in Mainz. Sieben Jahre später wurde das Buch im Gustav Engel Verlag in Leipzig veröffentlicht, jetzt mit einem neuen Vorwort des Autors, das einen politischeren Ansatz am Vorabend des Ersten Weltkriegs verfolgt. Steinhardt widmet das Buch dem Fürstenhaus Esterhàzy zum Dank dafür, dass die „Juden Eisenstadts […] sich [seit 1622] ungehindert ihrem religiösen Leben hingeben und ihren Berufen nachgehen konnten.“

Moritz Steinhardt – Aus dem Ghetto. Erzählungen aus dem vorigen Jahrhundert. Gustav Engel Verlag. Leipzig, 1913.

Die Authentizität des Buches finden wir in einem dritten Vorwort, das 1920 für die dritte Ausgabe des Buches veröffentlicht wurde. Jetzt schon mitten im Krieg schreibt Steinhardt:

Seit erschienenen der zweiten Auflage hat der grimmige Weltkrieg unseren Planeten tüchtig durchgerüttelt. Dieser Bruderkampf ging auch an dem Ghetto nicht spurlos vorüber […] alle in diesem Buche geschilderten Typen, mit Ausnahme von einem, sie sind dahin in jene Gefilde, wo es keinen Kampf mehr gibt, nur im Munde der Epigonen leben sie fort.

Ironischerweise wurde der Mann, der sein ganzes literarisches Können in den Dienst des Gedenkens gestellt hatte, völlig vergessen. Ein paar Literaturlexika erwähnen ihn kurz mit ein paar Zeilen, aber sein persönliches Leben und seine Biografie bleiben unentdeckt. Auch hier kommt uns das Buch zu Hilfe und wie in vielen anderen Fällen findet man in den Beständen unserer Bibliothek Bücher, die Hinweise und Spuren in sich tragen, die es uns ermöglichen, das zu enthüllen, was sonst für immer verloren bleiben würde.

Die seltene Erstausgabe dieses Buches, die unsere Bibliothek besitzt, offenbart uns in ihrem Inneren einen Geschenk-Etikett und drei Handschriften, die jeweils unterschiedliche Anliegen zum Ausdruck bringen. Das Geschenk-Etikett ist ein solches, wie wir es oft in unsere Bibliotheks Büchern finden. Es wurde in der Vergangenheit von unserer Bibliothek verwendet, um Bücher, die uns geschenkt wurden, mit dem Namen der schenkenden Person zu kennzeichnen. Dieser Stempel trägt den Namen: Lotte Kloster-Steinhardt.

Eine der Handschriften im Buch gehört auch Lotte Kloster-Steinhardt und ist eine Widmung von ihr an unsere Bibliothek: „Für die Bibliothek geschenkt von der Tochter des Autors! Lotte Kloster -Steinhardt. 2. Juni 1958“. Daraus erfahren wir bereits, wann uns das Buch geschenkt wurde. Noch wichtiger ist jedoch, dass Moritz Steinhardt eine Tochter namens Lotte hatte und das Buch in ihrem Besitz war, bevor es in unsere Bibliothek kam. Über Lotte Kloster Steinhardt konnten wir leider keine anderen Informationen finden, als dass sie in der frühen zweiten Hälfte des Jahrhunderts in Zürich lebte.
Was wir jedoch gefunden haben, ist eine kleine Anzeige in der Rubrik „Wer kann Auskunft geben“ des Israelitischen Wochenblatts vom 16.3.1945. Diese Rubrik war für Menschen gedacht, die während und nach dem Holocaust nach ihren Verwandten und Angehörigen suchten. Hier sehen wir, dass Lotte Kloster nach ihrer Schwester Irmgard Steinhardt und ihrer Mutter Bertha Steinhardt sucht. Als letzten bekannten Aufenthaltsort gibt sie Theresienstadt an.

Israelitisches Wochenblatt16.3.1945.

Kehren wir zurück zu unserem Buch, finden wir den Namen der Mutter Bertha in einer Widmung des Autors Moritz Steinhardt selbst an seine Frau: „Erstausgabe! Meiner geliebten Frau Bertha in Liebe zugeeignet. Chb. [Charlottenburg] 24/2. 1920. Moritz Steinhardt“.

Auf der anderen Seite des Titelblatts finden wir eine andere Handschrift von Moritz Steinhardt, die wahrscheinlich später geschrieben wurde: „Dieses Exemplar Soll in der Familie stets – an die älteste männliche Linie vererbt werden!“

Man könnte annehmen, dass der Wunsch des Vaters nicht erfüllt werden konnte, weil die Familie Steinhardt nur Töchter hatte (im Moment wissen wir von den beiden Töchtern Lotte und Irmgard) und das Buch deshalb in den Händen einer der Töchter landete. Es gibt jedoch noch einen weiteren Hinweis, den wir in der zweiten (vermehrten) Auflage des Buches finden, die 1913 veröffentlicht wurde. Im Gegensatz zur ersten Ausgabe wird das Buch von einem schönen Schutzumschlag begleitet, auf dem der Künstler als Manfred Steinhardt angegeben ist.

Da es ein bisschen zu zufällig erscheint, dass sowohl der Autor als auch der Künstler denselben Nachnamen haben, finden wir nach ein bisschen Nachforschung heraus, dass der Künstler der Sohn von Moritz und Bertha, Manfred Steinhardt (1893 – 1952), ist. Wir finden auch heraus, dass Manfred Steinhardt ein recht erfolgreicher Künstler in Deutschland war und 1938 zusammen mit Ludwig Schwerin eine Ausstellung seiner Werke in Berlin hatte. In dieser Ausstellung befand sich ein Selbstporträt von ihm, das in der Jüdischen Rundschau vom 22. März 1938 abgebildet wurde.

Manfred Steinhardt – Selbstbildnis. (Jüdische Rundschau 22.3.1938)

Wir können davon ausgehen, dass Manfred Steinhardt dieses Buch auf Wunsch seines Vaters bis zu seinem Tod 1952 aufbewahrt hat. Danach wurde es seiner Schwester Lotte übergeben, die es 1958 der Bibliothek schenkte. Dieses Buch, das für seinen Autor sicherlich sehr wichtig war, reiste von Mainz nach Charlottenburg, von dort nach London und landete schliesslich in unserer Bibliothek in Zürich. Unterwegs sammelte es Hinweise und Spuren eines vergessenen Autors und des Schicksals seiner Familie, über die wir nun ein wenig mehr wissen. Dies zeigt einmal mehr, wie wichtig ein einziges Buch ist, um aufzudecken, was sonst wohl für immer unerzählt bliebe.

Oded Fluss, Zürich, 28.7.2022