Das Buch Ruth und Schawuot

Ludwig Schwerin – Das Buch Ruth (1934)
.כִּי אֶל-אֲשֶׁר תֵּלְכִי אֵלֵךְ, וּבַאֲשֶׁר תָּלִינִי אָלִין--עַמֵּךְ עַמִּי, וֵאלֹהַיִךְ אֱלֹהָי (רות א', טז)
"Wohin du gehst, dahin gehe auch ich, wo du bleibst, bleibe auch ich, dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott" (Ruth 1, 16)

Chag Schawuot (das Wochenfest) ist ein Feiertag, der menschliche und natürliche Elemente mit universellen und moralischen Elementen verbindet. Der Empfang der zehn Gebote auf dem Berg Sinai ist das Ereignis, bei dem der singuläre Wille der Vielen zum universellen Gesetz wird und ein Volk zu einer Nation.  Die Tradition des Tikun Schawuot (Tikun ist aramäisch für Dekoration), bei der die ganze Nacht über die Tora studiert wird, um die Seele zu reparieren (Tikun ist hebräisch für Reparatur), ist mit dem Erwachen der Natur verbunden, die sich regeneriert und die Erde mit Farben schmückt und Düfte verbreitet. Die Ernte der Feldfrüchte, die während Schawuot anfällt, ist mit Dankbarkeit gegenüber Gott und Wohltätigkeit gegenüber Menschen in Not verbunden.

Das Buch Ruth in einer Miniaturbibel aus der Breslauer Sammlung

Es ist also kein Wunder, dass Megillat Ruth (das Buch Ruth), die all dies in einer einfachen kurzen Geschichte zusammenfasst, in die Schawuot-Tradition aufgenommen wurde. Diese Idylle, die in der Zeit der Ernte spielt, erzählt die Geschichte von Ruth, einer moabitischen Frau, die trotz grosser Not und nach dem Verlust ihres Mannes in einem Akt grossen Glaubens die jüdische Religion annimmt. Sie lehnt die Aufforderung ihrer jüdischen Schwiegermutter Noemi ab, zu ihrer Familie zurückzukehren, und lässt diese zusammen mit ihrem Land und ihrem Volk hinter sich, um Noemi in ihre Heimatstadt Bet Lechem zu begleiten. In Bet Lechem, umgeben von reifen Gerstenfeldern, trifft Rut auf ihren zukünftigen Ehemann Boas, der sie wegen ihrer tugendhaften Taten in sein Herz schliesst. Ruth wird für ihre Treue mit einem Sohn belohnt und wird schliesslich die Urgrossmutter von König David werden.

Das Buch Ruth im Machzor ke-Minhag Aschkenazim. Wilmersdorf 1750.

Die Geschichte enthält alle Merkmale des Feiertags Schawuot, eines Feiertags, der im Gegensatz zu anderen jüdischen Feiertagen kein herausragendes Symbol hat. In der Geschichte nimmt Ruth die jüdische Religion an und symbolisiert dadurch die Annahme der Zehn Gebote auf dem Berg Sinai. Die Idee der Almosen und des Mitleids, die sowohl Ruth gegenüber ihrer Schwiegermutter als auch Boas gegenüber Ruth zeigt, als er ihr erlaubt, in seinem Feld zu sammeln, sind mit der Idee von „Chesed“ und Altruismus verwoben, für die Schawuot bekannt ist. Die halachische Tradition, nach der König David an Schawuot geboren wurde und auch starb, kommt ebenfalls ins Spiel, denn das Buch schliesst mit der Erwähnung, dass David der Nachkomme von Ruth ist und als Belohnung für ihre Taten gesehen wird. Auch die Natur spielt in der Geschichte eine grosse Rolle, denn sie spielt sich hauptsächlich in der Zeit der Ernte und vor dem Hintergrund offener Felder ab.

Dieses kurze Buch (nur 85 Verse), das in vielen der Machzorim und Tikunim unserer Bibliothek vorkommt und in einigen unserer Machzorim nur eine Seite einnimmt, hat sowohl die jüdische, zionistische als auch die nichtjüdische Literatur und Kunst stark beeinflusst. Die einfache Struktur und Sprache des Buches, hinter der sich eine sehr tiefe Bedeutung und Moral verbirgt, ermöglichte es, von zahlreichen Autoren und Gelehrten interpretiert und angepasst zu werden. Aus den Kommentaren, die von Jahrhundert zu Jahrhundert zum Buch Ruth verfasst wurden, konnte man den Geist der jeweiligen Zeit, des Ortes oder der Kultur herauslesen und konstruieren.

Hermann Fechenbach – „Wo du hin geht, da will ich auch hingehen…“ Israelitisches Familienblatt 13.6.1929. Z 406

In einem früheren Beitrag (Rabbiner Goethe: https://breslauersammlung.com/2022/03/21/rabbiner-goethe/) haben wir bereits über den grossen Einfluss gesprochen, den dieses Buch auf Goethes „Hermann und Dorothea“ hatte. Hier werden wir uns jedoch auf zwei seltene Bücher aus unserer Bibliothek konzentrieren, die sich auf interessante und ungewöhnliche Weise mit Buch Ruth beschäftigen.

Das erste Buch, das wir besprechen werden, befindet sich in unserer Breslauer Sammlung und wurde 1834 ebenfalls in Breslau gedruckt. Der Autor ist Isaac Jojade Cohn (1771-1841), ein Hebräischlehrer, der auch als Lehrer des berühmten niederländischen Malers Jozef Israels bekannt ist. Das Buch „Boas und Ruth“ wurde zweisprachig auf Hebräisch und Deutsch in Form eines Dramas veröffentlicht. Wie viele Theaterstücke der damaligen Zeit war es nicht für die Bühne gedacht, sondern sollte als Idylle gelesen werden.

Da Jojade Cohn das Buch Ruth als aktuell ansah, versuchte er, die biblische Geschichte für seine Zeit und seinen Glauben fruchtbar zu machen und anzupassen. Das Drama nimmt die bekannten Figuren aus dem Buch Ruth und nutzt sie, um die Ideen der Haskala (jüdische Aufklärung) wie Gleichheit zwischen den Geschlechtern, Pluralismus und Gleichheit zwischen Juden und Nichtjuden voranzutreiben. Jojade Cohn nutzt sowohl das Buch Ruth als auch die vielen Midraschim und Agadoth, insbesondere Midrasch Ruth Zuta, um seine Ideen zu vermitteln.

Jojade Cohn schrieb drei Einleitungen zu seinem Buch. Eine apologetische, in der er erklärt, dass er die biblische Quelle nicht genau verwendet, und die vielen Fragen und Zweifel erwähnt, die das Buch Ruth aufwirft. Die zweite heisst „Anrede dieses Werkes an den Leser“, in der er aus der Perspektive des Buches selbst schreibt, das zeitgemäss sei und nicht nur in den Bibliotheken verstauben soll. Die dritte Einleitung ist unapologetisch und Jojade erklärt darin, was ihn motiviert hat, das Buch zu schreiben, hauptsächlich die Ideen der Haskala, und warum er sein Buch für wichtig hält.

Aus „Die Welt“ 29.4.1904.

Ein zweites Buch, das sich eindeutig mit dem Buch Ruth beschäftigt, ist das 1903 erschienene „Ruth und andere Gedichte“ von Siegmund Werner (1867 – 1928). Werner war ein Mann mit vielen Eigenschaften, ein Zahnarzt, Schriftsteller und viele Jahre lang Redakteur der zionistischen Zeitung „Die Welt“. Er war auch ein sehr aktives Mitglied der zionistischen Bewegung sowie Sekretär und enger Freund von Theodor Herzl.

Mit dem Erwachen der zionistischen Bewegung, haben viele Juden ihr Interesse an der Bibel und ihrer Darstellung des Heiligen Landes geweckt. Das inspirierte viele Künstler und Autoren dazu, sich Palästina so vorzustellen, wie es in der Bibel vorkommt. Das Buch Ruth war in der zionistischen Bewegung schon immer sehr beliebt, denn es handelt von der Rückkehr in die Heimat, der Verbundenheit mit der Natur und der Feldarbeit. Werners Buch entsprach der Mode der Zeit, biblische Motive in romantischer Form darzustellen. Er nahm die grundlegende Geschichte und die Hauptfiguren des Buches und schrieb daraus moderne, zionistische Gedichte.

Unsere Bibliothek ist die einzige in Europa, die dieses sehr seltene Buch besitzt, das auch eine ausklappbare Notenseite zu einem von Werners Gedichten „Ich werde sein“ enthält, das von dem berühmten jüdischen Komponisten und engen Freund von Johannes Brahms, Ignaz Brüll (1846 – 1907) komponiert wurde:

Schawuot ist auch als das Fest bekannt, an dem wir die Offenbarung Gottes am Berg Sinai und die Übergabe der Tora feiern. Mehr über die künstlerische Interpretation dieses entscheidenden Moments in der jüdischen Geschichte erfahren Sie in diesem neuen Beitrag: https://breslauersammlung.com/2023/05/22/die-sinai-offenbarung-in-der-juedischen-kunst/

Oded Fluss. Zürich, 2.6.2022