Vom Leuchter zur Menorah. Stefan Zweig und die jiddische Sprache.

"Ich bitte Sie, es mir abzunehmen, dass ich ein Stück weit Beschämung empfinde, dass ich zwar Jiddisch verstehe, es aber nicht aktiv beherrsche." Aus Stefan Zweigs Begrüssungsworten an das Exekutivbüro des Yivo, (Das jiddische wissenschaftliche Institut) in Wilna, 1938.  
Stefan Zweig – Yermiyahu. Übersetzt von Ch. Brakarz. Turem Verlag, Warschau, 1929.
Porträt von Zweig von dem Pariser Maler Henri Le Fauconnier (1881 – 1946). Das Originalbild ist verschollen.

Lange bevor Stefan Zweig in der hebräischen Leserschaft bekannt wurde, war er bereits in der jiddischen Leserschaft etabliert. Zugegebenermassen hatte er die jiddische Sprache nie gelernt, aber die Literatur, das Theater und die Kunst waren ihm durch deutsche und englische Übersetzungen gut bekannt. Zweig hatte auch viele ostjüdische Freunde und Bekannte wie Efraim Lilian, Schalom Ash, Moshe Nadir, Melekh Ravitsch und vor allem den in Brody geborenen Joseph Roth, mit denen er, wie viele Briefe zeigen, über die jiddische Kultur diskutierte. In einem Gruss an das Yivo-Institut anlässlich seines 13. Geburtstages, der auf Jiddisch in der März-April-Ausgabe 1938 der Yivo Blätter in Wilna erschien, beschreibt er seine sich gewandelte Einstellung zur jiddischen Sprache: „Zu meinem Bedauern bin ich selbst nicht in der Lage, Jiddisch zu lernen. Ich will Ihnen aber offen bekennen, dass ich – wie die Mehrheit der deutschen Juden – der Existenz, Wirksamkeit und Verbreitung der jiddischen Sprache lange Zeit mit einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüberstanden bin. Erst in den letzten Jahren, auf meinen Überreisen nach Nord – und Südamerika, ist mir bewusst geworden, wie unermesslich gross die Beharrungskraft des Jiddischen ist, vielleicht sogar ebenso gross wie die Kraft der gemeinsamen Leiden, und es ist, meiner Meinung nach, ein schwerer Fehler, wenn Juden ihre gemeinsame Sprache nicht schätzen, ihr nicht aufhelfen und ihre spezifische Geistigkeit nicht fördern. […] ich bitte Sie, es mir abzunehmen, dass ich ein Stück weit Beschämung empfinde, dass ich zwar Jiddisch verstehe, es aber nicht aktiv beherrsche. Ich hoffe nur, dass in der kommenden Generationen die Erkenntnis Platz greifen wird, dass das Jiddische das beste Mittel ist, die in den unterschiedlichen Ländern zerstreuten Juden zusammenzuhalten.“

Jiwobleter – The Monthly of the Yiddish scientific Institute. Wilna, März-April 1938.

Die erste uns bekannte Übersetzung von Zweig ins Jiddische, erschien in der Zeitschrift „Forward“ am 14. Februar 1926 kurz nach seiner ersten deutschen Veröffentlichung. Es handelt sich um eine Übersetzung von Zweigs bekannter Kurzgeschichte „Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau“ (erstmals auf Deutsch in der Neuen Freien Presse am 25.12.1925 veröffentlicht). Sie wurde vom Dramatiker und Übersetzer Chone Gottesfeld (1890 – 1964) übersetzt.

„fir aun tsvantsik shtunden fun dem lebn fun a froy“ Forward, New York, 14.2.1926.

Erst 35 Jahre später übersetzte Gottesfeld ein weiteres Werk Zweigs, das wiederum im „Forward“ erschien. Diesmal handelte es sich um die Novelle „Brief einer Unbekannten“, die auf Jiddisch unter dem Titel „dray nekht“ (drei Nächte) erschien. Fast alle anderen Werke von Zweig (Zweigs Buch „Romain Roland“ wurde 1929 von Isaac Bashevis Singer übersetzt und erschien in Warschau im „Bikhr“-Verlag) wurden nun von Chaim Brakarz (1899 – ?) übersetzt, einer etwas verschollenen Figur der jiddischen Kultur, die jedoch eine wichtige Rolle dabei spielte, Zweig bei seinen jiddischen Lesern zu etablieren.

Chaim Brakarz חיים בראקאזש Erklärung zum Beitritt in den Jüdischen Professionellen Artistenverein in Polen. Warschau, 7.9.1922.

Über Brakarz ist nicht viel bekannt, nicht einmal sein Todesjahr. Was wir jedoch wissen ist, dass er der offizielle jiddische Übersetzer von Stefan Zweigs Hauptwerk war, denn auf den in den von ihm übersetzten Zweig-Büchern steht auf Jiddisch „Autorisierte Übersetzung von Ch. Brakarz“. Aus einem Dokument, das in den Yivo-Archiven gefunden wurde, wissen wir auch, dass er Mitglied der Wilnaer Truppe war: ein Ensemble jüdischer Schauspieler, die Theaterstücke auf Jiddisch aufführten. Dieses Dokument enthält auch ein Bild von Brakarz aus dem Jahr 1922.

Stefan Zweig – „Derwachung“. Autorisierte Übersetzung von Ch. Brakarz. Brzoza Verlag. Warschau, 1928.

Die erste Übersetzung von Chaim Brakarz trägt den Titel „Derwachung“ und wurde 1928 in Warschau gedruckt. Es ist eine Übersetzung von Zweigs frühem Kurzgeschichtenbuch „Erstes Erlebnis“, das 1911 veröffentlicht wurde. Zweig gab diesem Buch den Untertitel „vier geschichten aus Kinderland“, der von Brakarz mit „ben hashmashot geshikhte“ übersetzt wurde, wörtlich „zwischen den Sonnen“ (das ist die halachische Bezeichnung für die Zeit zwischen dem Ende des Tages und dem Beginn der Nacht).
„Erstes Erlebnis“ ist Zweigs erster Teil der „Drei-Ringe-Anthologie“, einer Anthologie von Kurzgeschichten und Novellen, die Zweig zwischen 1911 und 1927 veröffentlichte.
Brakarz hat alle drei übersetzt, die zweite war „Amok“ 1929 im Warschauer Verlag „Turem“ (Im selben Jahr hatte er auch Zweigs „Jeremias“ im Turem Verlag veröffentlicht) und die dritte „Der plonṭer fun gefiln“, eine Übersetzung von „Verwirrung der Gefühle“, die erst 1942 in Josef Girshfeld Verlag bereits im Exil in Buenos Aires veröffentlicht wurde.

Die vielleicht wichtigste Zweig-Übersetzung von Chaim Brakarz wurde 1942 ebenfalls im Josef Girshfeld Verlag in Buenos Aires veröffentlicht: das Buch „Di bagrobene Menoyre“, eine Übersetzung von Zweigs „jüdischster“ Novelle „Der begrabene Leuchter“. Wir wissen, dass Zweig selbst in Erwägung zog, seine Geschichte „Menorah“ zu nennen (ein passenderer Titel für eine solche jüdische Geschichte), da er ein kurzes Stück der Novelle mit diesem Name im Jüdischen Almanach 5697 (1936) veröffentlichte.

Jüdischer Almanach auf das Jahe 5697. „Selbstwehr“ Jüdisches Volksblatt in Prag (1936-1937).

Die Bedeutung dieser Übersetzung liegt in der Zeit ihres Erscheinens und darin, dass sie zum ersten Mal eine Einleitung von Chaim Brakarz zu seiner Übersetzung enthält, in der er auf den tragischen Tod von Stefan Zweig eingeht. Diese Einleitung, die 30 tage nach dem Tod von Zweig geschrieben wurde, ist ein faszinierendes Dokument, das sowohl Zweigs Beziehung zu seinem jiddischen Übersetzer als auch sein Verhältnis zur jiddischen Sprache beschreibt. Es fängt auch den Geist der Zeit in einer der schwierigsten Perioden der jüdischen Geschichte ein. Wir haben es ins Deutsche übersetzt und stellen es hier in vollem Umfang vor:

„Di bagrobene Menoyre“ ist nach dem dramatischen Gedicht „Jeremiyau“ das zweite große Werk von Stefan Zweig, das auf jüdischem Stoff basiert. Und es ist vielleicht mehr Zufall, dass diese beiden Werke, in denen der große Meister seine Ideen durch Symbole und Anspielungen zum Ausdruck bringt, in einem jüdischen Kleid erscheinen: Symbole – Anspielungen und Gleichnisse sind dem jüdischen Geist zutiefst vertraut und der Dichter Stefan Zweig, der sich formal und inhaltlich auf demselben hohen Niveau befindet, konnte so mühelos menschliche Inhalte in die jüdische Form einbringen.
Dies zeigt weiter, dass Stefan Zweig, der große Europäer, der Weltbürger, durch Bildung und Umwelt des zeitgenössischen jüdischen Volkslebens beraubt, dennoch tief innerlich, mehr als man auf den ersten Blick vermuten könnte, mit dem jüdischen Geist in höherem Sinne verbunden war. Es ist undenkbar, dass so hochmenschliche und zutiefst jüdische Werke wie „Jeremiyahu“ und „Di bagroybene Menora“ auf andere Weise entstehen konnten.
Dies sollte besonders in einer Zeit betont werden, in der dieses noch junge Grab eines tragisch verstorbenen Dichters verschiedenen Parteien ermöglicht, ungerechtfertigte und unbegründete Behauptungen über seine jüdische Gesinnung aufzustellen.
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Und vielleicht gibt es noch eine weitere Gemeinsamkeit zwischen „Jeremiyahu“ und „Die bagroybene Menora“: So wie „Jeremiyahu“ der Aufschrei und Protest des Dichters gegen den Weltunsinn von 1914 war, so ist vielleicht „Di bagroybene Menora“, die einige Jahre vor der neuen Weltkatastrophe geschrieben wurde, die tiefe Prophezeiung der unvermeidlich bevorstehenden Katastrophe: „Di Bagroybene Menora“ beginnt mit der emotionalen Beschreibung, wie die Vandalen, die Barbaren, plötzlich und unerwartet in das Zentrum einer antiken Stadt stürmen und sie bis auf den Grund ausplündern und ausrauben.
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Di bagroybene Menorah“ ist eine Symphonie aus Trauer, Zweifel, Verzweiflung und Hoffnung: Der schwierige Kampf des Göttlichen inmitten einer bösen, rauen Welt. Viele harte Wege und bittere Prüfungen müssen durch die Herrlichkeit der Menorah gehen und viele Inkarnationen müssen durch die Menorah selbst gehen, bis sie ihr Heiligtum erreicht. Nicht nur einmal wird sie brutal aus den Händen ihrer rechtmässigen Besitzer gerissen und ins Abseits geworfen; aber am Ende leuchtet sie nicht den starken Räubern, sondern den schwachen Beraubten; nicht in Rom und nicht in Byzanz, sondern in Jerusalem, von wo ihr Licht aufstieg.
Stefan Zweig hat diese menschliche Herrschaft in eine jüdische Form gegossen. Eine Form, die sich verwandelt und verselbständigt: das jüdische Schicksal, die ewige Not, das uralte Leiden in einer Welt der Bosheit und Ungerechtigkeit und die ewige Sehnsucht nach Licht und Gerechtigkeit – „Thora und Menora“ – dass dieses große Werk einen Ehrenplatz unter den Werken unserer großen Nationaldichter verdient.
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Erwähnenswert ist auch die Tatsache, dass Stefan Zweig dem jiddischen Übersetzer seiner Werke die Erlaubnis gab, seine Werke ins Jiddische zu übersetzen, und dies tat der weltberühmte Dichter mit wunderbarer Herzlichkeit und Freundlichkeit. Gelegentlich wies er den Übersetzer auch darauf hin, welche seiner Werke er als besonders geeignet für die Übersetzung ins Jiddische erachtete.
„Di bagroybene Menorah“ wurde 1936 von Stefan Zweig selbst in einem Manuskript an seinen jiddischen Übersetzer, den Autor dieser Zeilen, übergeben, mit dem Hinweis: „Das Buch dürfte die Juden interessieren.“ Leider war die Veröffentlichung der jiddischen Übersetzung von „Di bagroybene Menorah“ in Buchform aufgrund der Lage des jüdischen Verlagswesens erst sechs Jahre später möglich, und – ein trauriges Schicksal! Dreißig Tage nach dem tragischen Tod des Dichters.

Möge die Übersetzung von „Di Bagroybene Menorah“, die mit Treue und Liebe angefertigt wurde, ein bescheidener Rosenkranz auf dem frischen Grab des großen Meisters sein.
Buenos Aires, März 1942.
Der Übersetzer

Beinecke Rare Book and Manuscript Library.
Box 14 | Folder 176.

Obwohl wir keine Briefe von Zweig an Brakarz oder umgekehrt finden konnten, wissen wir, dass sie in Kontakt standen und dass Zweig sogar versuchte, Brakarz dabei zu helfen, einen Verlag für seine Übersetzungen zu finden. Dieser Brief von Zweig an den jiddischen Autor Shalom Ash zeigt Zweigs Bemühungen und seine Wertschätzung für Brakarz, den er als „einen der besten Übersetzer“ bezeichnete. Er zeigt auch, dass sich Brakarz bereits im September 1937 in Buenos Aires aufhielt und seine Adresse dort angab (Castelli, 383).

Stefan Zweig – Di Velt fun Nekhtn. Yidbukh Verlag. Buenos Aires, 1959.

Das letzte von Chaim Brakarz übersetzte Buch erschien 1959 in Buenos Aires im Yidbukh Verlag. Es ist die jiddische Übersetzung der berühmten Autobiografie von Stefan Zweig „Die Welt von Gestern“, hier unter dem Titel „Di Velt von Nekhten“. Wir wissen nicht, ob das Buch noch zu Lebzeiten des Übersetzers oder erst nach seinem Tod gedruckt wurde. In der Einleitung dieses Buches bittet der Verlag die Menschen um Hilfe und Unterstützung bei der Verbreitung und Förderung der jiddischen Literatur. Die jiddische Sprache war zu diesem Zeitpunkt auf dem absteigenden Ast und hatte viele Lesende an Englisch und Hebräisch verloren.

Stefan Zweig – Romain Roland. Übersetzt von Isaac Bashevis Singer. Bikhr Verlag, Warschau, 1929

Oded Fluss, Zürich 28.04.2022.

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6 Kommentare zu „Vom Leuchter zur Menorah. Stefan Zweig und die jiddische Sprache.

  1. vielen dank für diesen spannenden text und die schönen bebilderungen! eine frage noch: diese abgebildeten jiddischen book covers befinden sich in der ICZ-bibliothek?

  2. Vielen Dank für deinen Kommentar, Michael!
    Ja, fast alle Bücher, die auf den Bildern zu sehen sind, sind Teil der Zweig-Ausstellung, die derzeit läuft (Finissage am 8.5.2022 mit Martin Dreyfus).

  3. Vielen Dank, lieber Oded, für diesen schönen Text, der mir persönlich eine weitere Facette des von mir sehr verehrten Schriftstellers erschliesst.
    Gerne komme ich am 8. Mai zur Finissage der Ausstellung- gibt es dazu noch eine Einladung mit Angabe von Ort und Zeit?
    Lieber Gruss aus Luzern von
    Ralf

    1. Vielen Dank, lieber Ralf! Ich würde mich freuen, dich dort zu sehen! Es gibt eine Einladung, die am Montag verschickt werden würde. Auf jeden Fall könntest du auch ohne sie um 17:00 Uhr zum ICZ-Gebäude kommen.
      Herzlich,
      Oded

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