Stefan Zweig – Jüdische Wurzeln,  zionistische Blätter

"Wandervolk, Gottesvolk, 
blick in die Ferne! Blick nicht zurück!
Die verweilen, haben die Heimat,
Doch die wandern, haben die Welt!" (Stefan Zweig "Jeremias")

Stefan Zweig traf Theodor Herzl zum ersten Mal Anfang 1901. Der 20 Jahre junge Autor, hatte gerade seinen ersten Gedichtband veröffentlicht und wollte nun eine Bühne für seine Prosa finden. Den berühmten Feuilletonchef der „Neuen Freien Presse“ besuchte er, um ihm eine Kurzgeschichte zum Lesen zu geben. Vierzig Jahre nach diesem Treffen beschrieb er Herzl als: “der erste Mann welthistorischen Formats, dem ich in meinem Leben gegenüberstand – freilich ohne selbst zu wissen, welch ungeheure Wendung seine Person im Schicksal des jüdischen Volkes und in der Geschichte unserer Zeit zu erschaffen berufen war”. Zweig wurde in Wien als Sohn einer großbürgerlichen jüdischen Familie geboren und war weder religiös – er bezeichnete sich selbst als „Jude durch Zufall“ – noch zionistisch. Sein Treffen mit Herzl war jedoch ein entscheidender Moment in seinem Leben, denn zu Zweigs Überraschung las Herzl sein Manuskript unverzüglich und erklärte ihm kurz darauf: “Ich freue mich, Ihnen sagen zu können, daß Ihre schöne Arbeit für das Feuilleton der ›Neuen Freien Presse‹ angenommen ist”. Seine Gefühle in diesem Moment beschreibt Zweig in seiner berühmten Autobiografie „Die Welt von Gestern“ mit dem Satz: „Es war, als ob Napoleon auf dem Schlachtfelde einem jungen Sergeanten das Ritterkreuz der Ehrenlegion anheftete.”. Dieser kurze Ausdruck fasst in gewisser Weise Zweigs Verhältnis zum Zeitgeschehen im Allgemeinen und zur zionistischen Bewegung im Besonderen zusammen. Er versuchte immer sich von der Gegenwart zu distanzieren und fand seine wahre Leidenschaft und sein Interesse in der Vergangenheit. Stets zog er das Ideale und Romantische dem Konkreten und Politischen vor. 

E.M Lilien – Stefan Zweigs Exlibris

Schon im Jahr 1903 hat Zweig in seiner Einleitung zum Buch über den Künstler Efraim Lilien (der auch sein Exlibris entworfen hat) eine eindeutige sowie romantische Vorstellung vom Wesen des Zionismus: “Man braucht ihn heute nicht mehr zu erklären. Er ist keine neue Idee. Seit tausenden von Jahren rauscht er im heimatlosen Volke. Aus den Liedern, die sich in Traurigkeit zu verlieren drohen, hebt er die silberne Stimme der Verheißung. In den Gebeten der Frommen an schlichten und festlichen Tagen flammt er als innigster geheimster Wunsch. In jedem gottergebenem Leben ist es die letzte und seligste Sehnsucht, das Haupt im Sterben auf den verlorenen Heimatsboden Jerusalems legen zu können.  Der Zionismus, der in der gewaltigen agitatorischen Person Dr. Herzls seine programmatische Gestalt gewonnen hat, ist nur das Banner, um das sich die Wünsche schmiegen, der ladende Ruf, der die Tausende um sich versammelt. Er hat das Judentum wieder bewusst gemacht, die schlafenden künstlerischen Werte geweckt, er hat in tausend Augen, die trostlos ins Dunkel starrten, das Sternbild einer realen Möglichkeit entzündet.”

„Die Welt: Zentralorgan der Zionistischen Bewegung“ , 6.12.1901

Obwohl Zweig Herzls Versuche ablehnte, ihn davon zu überzeugen, der zionistischen Bewegung als Mitglied beizutreten, fühlte er sich Herzl gegenüber verpflichtet. Es ist unbekannt und Zweig selbst hat es nicht öffentlich erwähnt, dass er in der Zeit, in der er in Herzls „Neue Freie Presse“ veröffentlichte, auch zwei Gedichte und eine kurze Novelle in „Die Welt“, der Hauptzeitung der zionistischen Bewegung, publizierte. Diese Veröffentlichungen haben natürlich einen jüdischen Inhalt. Die beiden Gedichte sind: „Spinoza“, das eine romantische Beschreibung des grossen jüdischen Philosophen darstellt und „Das Gericht“, das ebenfalls in Berthold Feiwels jüdischer Anthologie „Junge Harfen“ (1902) erschien und später in Zweigs Gedichtband „Die frühen Kränze“ (1906) mit einigen Änderungen unter dem Namen „Biblische Ballade“ veröffentlicht wurde und die Geschichte der Bestrafung der 250 Männer von Korach erzählt.

„Die Welt: Zentralorgan der Zionistischen Bewegung“, 11.10.1901

Interessant auch ist die kurze und bis heute ziemlich unbekannte Novelle „Im Schnee“, die als eine der beiden wahrhaft „jüdischen“ Geschichten Zweigs gilt. Sie wurde am 2. Aug. 1901 veröffentlicht und erzählt die bittere Geschichte einer jüdischen Gemeinde im Deutschland des Mittelalters. Die Menschen feiern gerade Chanukka, als plötzlich die Nachricht eintrifft, dass die Flagellanten, eine christliche Laienbewegung, die für ihre Grausamkeit gegenüber jüdischen Menschen bekannt war, auf dem Weg in ihr Dorf sind.  Die Mitglieder der jüdischen Gemeinde beschliessen, ihr Dorf zu verlassen und zu fliehen. Sie schaffen es, dem Pogrom zu entkommen, finden aber im kalten Schnee den Tod.

Stefan Zweig „Im Schnee“. Mit Zeichnungen von Fritz Fischer
Verlag der internationalen Stefan Zweig Gesellschaft, Wien, 1963

Nur 36 Jahre später sollte Zweig eine weitere Geschichte mit einem starken jüdischen Thema veröffentlichen. 1937 erschien seine bekannteste jüdische Geschichte „Der begrabene Leuchter“ (Ein kurzer Teil der Geschichte erschien im Jüdischen Almanach 5697 unter dem Namen „Menorah“), die von Benjamin erzählt, einem einfachen jüdischen Jungen, der sein ganzes Leben damit verbringt, den heiligen Siebenarmigen Leuchter zu suchen und an seinen rechtmäßigen Platz in Jerusalem zurückzubringen. Die Geschichte hat ein etwas zionistisches Ende, denn der heilige Leuchter wird erfolgreich nach Jerusalem zurückgebracht, wird dort aber vergraben und wartet darauf, dass das jüdische Volk zurückkommt und ihn findet.

Stefan Zweig „Der begrabene Leuchter“
Herbert Reichner, Wien•Leipzig•Zürich, 1937

Ein paar andere Werke von Zweig, die erwähnt werden sollten, sind das Theaterstück „Jeremias“ (1917), das in Zürich uraufgeführt wurde und zu Zweigs Lebzeiten auch in Palästina im „Ohel“-Theater gespielt wurde. Das Stück, das biblische Motive verwendet und den Propheten Jeremias als Sprachrohr einsetzt, beschäftigt sich jedoch mehr mit Weltpolitik und Pazifismus als mit dem Judentum.
„Die Legende der dritten Taube“ (geschrieben 1915), die die unbekannte Geschichte der dritten Taube aus der Arche Noah erzählt, die in ihrer Unfähigkeit zu sterben oder Frieden zu finden dem Mythos des ewigen Juden ähnelt.
Und die Kurzgeschichte „Rahel rechtet mit Gott“ (1930), in der Rahel als Proto-Feministin dargestellt wird, die im Gegensatz zu ihrem Mann Jakob in ihrem körperlichen und gewissermaßen erotischen Kampf mit Gott erfolgreich ist und dem Volk Israel Frieden bringt.

Stefan Zweig „Jeremias“. Insel Verlag, Leipzig, 1918
Widmungsexemplar aus der Sammlung von Martin Dreyfus

2016 hat eine grosse Entdeckung von Zweigs Briefen in der Stadt Bat Yam in Israel mehr Licht auf seine Beziehung zum Judentum und zum Zionismus geworfen. Dieser Briefwechsel und andere Briefe über das Judentum wurden kürzlich von Stefan Litt in seinem Buch „Stefan Zweig – Briefe zum Judentum“ veröffentlicht. In einem Briefwechsel mit einem jungen Mann namens Hans Rosenkranz der Jahre 1921-1922 offenbart Zweig viele tiefe Einsichten: „Ich las gerade in diesen Tagen Theodor Herzls Tagebücher: wie gross war die Idee, wie rein, solange sie noch ganz Traum war, ungemengt mit Politik und Soziologie? […] ich erinnere mich noch an eine Stunde, wo er lange mit mir sprach (den er gewissermaßen ‘entdeckt’ hatte und den er mit einem seltenen Vertrauen trotz der Jugend ehrte) und ich ihm sagte, ich könnte nur ganz etwas tun und dies heisse: Alles andere aufgeben. Dazu hatte ich nicht die Kraft, ich hing zu sehr an der Kunst, an der Welt als Ganzem, um mich bloss einer Nation hinzugeben.” 

Stefan Zweig – Briefe zum Judentum. Hrsg. Stefan Litt
Suhrkamp / Jüdischer Verlag, 2021

In einem weiteren Brief an Rosenkranz erklärt Zweig sein doppeltes Verhältnis zum Judentum: „Was ich für den Einzelnen ablehne, ist nur, diese Blüte, diese Freude, diese collective Leistung als Stolz zu empfinden, stolz zu werden und hochmütig auf sein Judentum – man darf kaum auf eigene Leistung pochen, aber nie auf die einer selbst homogenen Masse (der deutsche Philister, der sich auf Goethe, der italienische Faulenzer, der sich auf Dante beruft, darf im geistigen Menschen kein Gegenspiegel haben.) Aber uns als minderwertig zu empfinden, am Judentum wie an einer Schuld, an einer ererbten Krankheit zu leiden, das ist ein gleicher Fluch – wir müssen mit amor fati unser Schicksal lieben und nie versuchen es uns wegzudiscutieren“.

Collage von Zweigs Porträts der Künstler: Frans Masereel, Walter Kornhas, Theodor Kern, Heinrich Rauchinger und Fred Dolbin.

Stefan Zweig nahm sich am 22. Februar 1942 zusammen mit seiner Frau im brasilianischen Exil das Leben. Zu Ehren seines 80. Todestages hat die Bibliothek der Israelitische Cultusgemeinde in Zürich eine Ausstellung eingerichtet, die bis zum 15. Mai 2022 zu sehen sein wird.

"Einmal bin auch ich ein Mutiger gewesen. Nur die Zeit und das Alter haben mich zum Zagenden gemacht. Verzeiht den Kleinmut meines Herzens! [...] Herr, ich will sterben. Was sparst du mich auf und weisst doch, ich will nicht mehr! Herr, Lass es genug sein! Ich habe verzagt, so wirf mich hinweg! Ich bin müde. Herr, ich will, ich kann nicht mehr! Herr, lass es genug sein! Herr, lass mich sterben!..." (Stefan Zweig "Der begrabene Leuchter").
Oded Fluss, Zürich, 22.2.2022