
Wie so viele andere jüdische Institutionen in Deutschland war auch das jüdisch-theologische Seminar in Breslau nach den schrecklichen Ereignissen der Novemberpogrome 1938 gezwungen, seine Pforten zu schließen. Obwohl die Beweise und Zeugenaussagen spärlich sind, haben wir uns entschlossen, den folgenden Blogeintrag dem tragischen Ende des Seminars und damit auch seiner weltberühmten Bibliothek zu widmen.
Anfang Januar 1938 veröffentlichte das jüdisch theologische Seminar seinen abschließenden Jahresbericht für das vorangegangene Jahr 1937. Der Bericht enthielt eine detaillierte Liste von Studenten, Lehrern, Vorstandsmitgliedern und Spendern sowie einen Kursplan für das Sommer- und (noch laufende) Wintersemester.
Der Bibliotheksbericht wurde von dem damals jungen Dr. Ephraim (Elimelech) Urbach (1912-1991) zusammen mit der Bibliothekarin Lotte Pinczower (1889-1975) verfasst und enthielt alle Ankäufe und Geschenke von Büchern im vergangenen Jahr, die sich auf 301 Werke beliefen, davon 118 auf Hebräisch und 183 auf Deutsch und anderen Sprachen. Es wird geschätzt, dass die Bibliothek vor ihrer Zerstörung mehr als 40.000 Bücher und mehr als 400 Handschriften enthielt.

Obwohl sehr subtil und rückblickend kann man die düstere Stimmung, der in diesem Bericht geschrieben wurde, nicht übersehen. Abgesehen von der relativ geringen Menge an Büchern, die die Bibliothek beschaffen konnte, ist der Jahresbericht mit kleinen Hinweisen auf ein Institut gefüllt, das bereits um sein Überleben kämpft. Die mehrfache Erwähnung von “gegenwärtigen Bedingungen”, “Schwierigkeiten” und Hörer in “finanzieller Notlage” verrät, was nicht ausdrücklich gesagt werden konnte. In der Tat war dieser Jahresbericht nach 83 durchgehenden Jahren, seit der Gründung des Seminars im Jahr 1854, der letzte, den das Seminar veröffentlichte.

Einer der im Jahresbericht erwähnten Lehrer war der Historiker Dr. Willy Cohn (1888-1941). Cohn hatte erst ein Jahr zuvor seine Lehrtätigkeit am Seminar aufgenommen, nachdem er ein angesehener Lehrer am Johannesgymnasium in Breslau war, aber aus antisemitischen und nationalsozialistischen Gründen entlassen wurde. Seine Tagebücher, die nach seinem Tod entdeckt wurden, sind eine wertvolle Quelle für die Ereignisse, die die jüdische Gemeinde in Breslau während der Zeit des Dritten Reiches betrafen. In ihnen erhalten wir auch ein Zeugnis aus erster Hand über die letzten Tage des Rabbinerseminars.

Am 1. November 1938 schrieb er: “Seminar; dort hörte ich, dass drei Hörer polnischer Staatsangehörigkeit abgeschoben worden sind […] Nach der Sitzung mit Fritz Günther Nathan ein Stück gegangen; darüber gesprochen, dass man mir im Seminar nicht die jüdisch-geschichtlichen Vorlesungen übertragen hat. Aber ich will zu dieser Sache nichts mehr tun, da das Seminar über das Wintersemester kaum noch eine nennenswerte Zahl von Hörern haben wird”. Eine Woche später, am 8. November, schrieb er: “Seminar ‘Spanien’ und ‘Tasso’. Es wird immer schwieriger, die Leute auf die geistigen Dinge zu konzentrieren. Immer wieder hat ein junger Mensch Passschwierigkeiten. […] Die heutigen Zeitungen bringen eine für uns sehr schlimme Nachricht. Der Botschaftssekretär von Rath ist in Paris in der deutschen Botschaft von einem polnischen Juden angeschossen und schwer verwundet worden, eine sehr feige Tat, die sicherlich die schlimmsten Folgen für uns in Deutschland haben wird.” Dies ist der letzte Tagebucheintrag, den Cohn aus dem Seminar schreiben wird, das am 10. November nach einem Einmarsch von Nazi-Anhängern teilweise zerstört und für immer geschlossen wird. Drei Jahre später, am 29. November, werden Cohn, seine Frau Gertrud und die beiden Töchter Susanne und Tamara im IX. Fort zusammen mit 2000 Juden aus Breslau und Wien erschossen.

Ein weiteres Zeugnis lesen wir von Rabbiner Alfred Jospe (1909-1994). Jospe war Student im theologischen Rabbinerseminar und gleichzeitig an der Breslauer Universität. In einer 1963 veröffentlichten Gedächtnisschrift für das Seminar beschreibt er die letzten Tage des Seminars: “Am 10. November 1938 wurde das Seminar von den Nazis überfallen, teilweise zerstört und auf polizeiliche Anordnung geschlossen. Zahlreiche Studenten wurden in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert, der Unterricht musste eingestellt werden, Versammlungen des Lehrkörpers wurden verboten. Aus den Protokollen der Fakultät geht hervor, dass sich drei Fakultätsmitglieder, Dr. Isaac Heinemann, Dr. Samuel Ochs und Dr. Nachum Wahrmann, am 8. Dezember 1938 zu einer informellen Besprechung über die Situation trafen. Dr. Heinemann berichtete, dass ‘von den Behörden noch keine Nachricht über die Wiedereröffnung des Seminars eingegangen ist’. Er empfahl, den Abschluss aller in Frage kommenden Oberstufenschüler auf jede erdenkliche Weise zu erleichtern. Da ein Verstoß gegen das Versammlungsverbot vermieden werden müsse, solle jeder Schüler aufgefordert werden, jeden Lehrer zu Hause aufzusuchen, um seine Prüfung abzulegen. Die Ergebnisse der Prüfungen würden in das Fakultätsprotokoll eingetragen“.

Das Novemberpogrom 1938 war eines von vielen Vorboten für das tragische Schicksal der europäischen Juden. Für das Breslauer Rabbinerseminar war es auch das Ende eines der wichtigsten und einflussreichsten jüdischen Institutionen des 19. und 20. Jahrhunderts. Das Rabbinerseminar war ein Pionier der Judaistik und insbesondere der Wissenschaft des Judentums. In den 83 Jahren seines Bestehens hat das Seminar einige der wichtigsten Gelehrten, Rabbiner und Denker der Neuzeit hervorgebracht.
Obwohl es für immer geschlossen wurde, blieb das Seminar eine Inspiration und ein Vorbild für viele spätere Schulen und Einrichtungen. Seine reichhaltige Bibliothek, die nur teilweise erhalten blieb, ist über die ganze Welt verstreut, und die Bücher darin, denen dieser Blog gewidmet ist, bleiben eine ewige Erinnerung an das Seminar und die Menschen darin.
Oded Fluss. Zürich, 3.11.2021