Eine Selicha in Zeiten der Pest

Machzor nach polnischem Brauch. Altona, 1744. Breslauer Sammlung BH 1495

Plagen sind der jüdischen Geschichte nicht fremd, auch nicht in den hohen Zeiten der ‚Yamim Nora’im‘. Eine berühmte Geschichte handelt von Rabbi Israel Lipkin Salanter (1810 – 1883), dem Begründer der religiös-ethischen Schule ‚Musar‘. 1848 in Wilna während eines schrecklichen Ausbruchs der Cholera hat Salanter Essen und Trinken am Jom Kippur erlaubt. Als die Menschen sich weigerten, seiner Empfehlung zu folgen, ass und trank er öffentlich in einer Synagoge während der Jom Kippur-Gebete. Dieses Ereignis wurde von dem hebräischen Schriftsteller David Frischmann (1859 – 1922) in einer Kurzgeschichte mit dem Titel שלושה שאכלו „Von dreien, die gegessen haben…“ wunderbar verarbeitet. Eine deutsche Übersetzung der Geschichte, die in 1929 in dem Jüdisches Volkblatt erschienen ist, finden Sie hier:

Eine andere, nicht so bekannte Geschichte bezieht sich direkt auf eines der Bücher in unserer Sammlung. 1623 breitete sich die Windpockenplage in der jüdischen Gemeinde von Prag schnell aus und forderte viele Opfer, darunter auch viele Kinder.
Der Rabbiner der Gemeinde, Mosche Menachem Mendel (1574 – 1641), war ein berühmter Aschkenazi Rabbiner, der seine Frau durch diese Seuche verlor und eine besondere Selicha schrieb, in der er Gott um Vergebung und Hilfe bat.
Die Selicha, die als „פזמון בשעת המגפה ח“ו“ „Ein Pizmon [Chor] in Zeiten der Pest, Gott bewahre“ beschrieben wird, ist in Form eines Akrostichons geschrieben, in dem der erste Buchstabe jedes Satzes den Namen des Verfassers bildet.

Sie beginnt mit den Sätzen „Moschel ba-elyonim ata yadata et kol ha-tla’a. Shalit ba-tachtonim ha-shole’ach mazor u-refu’a“ „Herrscher des Höchsten, du hast all das Elend gekannt. Herr des Niedrigen, der Heilung und Gesundheit schickt“. Weiter wird jede einzelne Sünde beschrieben, die von der Gemeinschaft begangen worden sein könnte: Nichtbeachtung des Schabbat, ungerechtfertigter Hass, obszöne Sprache, Verunglimpfung des Namen Gottes usw. Diese Selicha ist aus der Gattung der „Pizmon“, was bedeutet, dass sie einen Refrain enthält, der sich nach jeder Strophe wiederholt. Hier kommt nach jeder Sünde der Vers: „ליי אלהינו חטאנו. אל נא רפא נא לנו“ „zu Gott haben wir gesündigt, bitte heile uns“.

Die Selicha ist weitgehend unbekannt und wurde in unserer Breslauer Sammlung in einem in Altona gedruckten Machzor von 1744 gefunden. Möglicherweise wurde sie wegen eines Ausbruchs der Beulenpest, die zu dieser Zeit in Europa grassierte, gedruckt.

Oded Fluss. Zürich, 9.9.2021.